Für meine Eltern
Mein Dasein ging mal auf, mal ab,
so wie das Leben nun mal spielt.
Doch war ich immer gut beschützt,
mit einer Hand, die stets mich hielt.Mamas Hüften, Papas Mimik,
hab ich von euch – und noch viel mehr.
Vieles, was als Mensch mich ausmacht,
verbindet mich mit euch so sehr.Wurzeln, Flügel, ein Zuhause,
gabt ihr mir mit eurer Wärme.
Vertrauen, Hoffnung, Selbstvertrauen,
um zu ergreifen meine Sterne.Fortwährend akzeptiert von euch,
konnt sein und werden, wer ich wollte.
Ich hoffe, dass es nie passiert,
dass ich euch enttäuschen sollte.Hab mich gestützt auf eure Liebe,
ohne euch gäb es mich nicht.
Drum schreib ich heute diese Zeilen:
ich hab euch lieb – ihr seid mein Licht!
Petra Hechenberger
www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 21078
Nachricht an DICH
Nähe. Zur Natur. Zu Menschen. Nähe ist ein wunderschönes Gefühl. Du kannst sie auch ohne Berührungen spüren. Durch Blicke, Gesten, Worte. Sie gibt Geborgenheit. Du kannst dich fallen lassen, wenn dir jemand nahe ist. Denn du weißt: Er wird dich auffangen und halten.
Eine Umarmung kann dir so viel geben! Du spürst den anderen, riechst ihn, nimmst ihn wahr. Halte inne, höre und spüre seine Atmung und gleiche deine an. Das synchrone, ruhige Atmen kann dir zusätzlich Stabilität und Sicherheit geben. Solange du es brauchst. Bis du dich aufrichtest, und weitermachen kannst. Aber ein Stück weit ruhiger und gelassener als zuvor.
Dass du einem anderen Menschen nahe bist, braucht Vertrauen. Und Mut. Mut, diesen Schritt zu gehen, sich darauf einzulassen. Denn es wird immer ein Risiko geben, dass du verletzt wirst. Deine Mauer fällt, und du bist verwundbar.
Natürlich werden dich Enttäuschungen traurig machen und verletzen. Doch glaube mir, wenn ich denke, dass wir aus negativen Erfahrungen gestärkt hervortreten können. Aber auch das müssen wir zulassen. Auch das bedeutet Mut. Sich trotz einer Enttäuschung wieder auf einen Menschen einzulassen.
Glaube nie, nie daran, dass Nähe für dich nicht möglich ist, weil du nicht würdig wärst! Entziehe sie dir nicht aus Scham oder Angst vor körperlicher Nähe! Das ist falsch! Jeder von uns, jedes Lebewesen, ist es wert!
Wenn du glücklich bist, lass Nähe zu!
Wenn du traurig bist, lass Nähe zu!
Lass andere Menschen an dich heran.
Sei mutig.
Sie mögen dich.
Sie lieben dich.
So wie du bist.
DU bist es WERT!
Petra Hechenberger
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21067
Der Pfad
Dein Pfad war so dunkel,
keine Sterne in Sicht;
die tröstend, voll Hoffnung,
leuchten sollten für dich.Dich im Herzen
und Schritt für Schritt,
geh ich den Pfad
und nehm dich mit.Viel heller, ohne Schatten,
erscheint er nun für mich.
Der Stern, der ganz besonders leuchtet,
erinnert mich an dich.Für E.
Verfasst im September 2020
Petra Hechenberger
www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 21061
Connected
Der Regen wurde schwächer. Ich nahm meine Kapuze ab und blinzelte zum Himmel. Die Bäume um mich herum boten mir Schutz, nahmen mir aber auch die Sicht nach oben. Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden und ging eine paar Schritte vor auf die Wiese. Die Donau breitete sich vor mir aus. Hier in der Wachau schlängelte sie sich durch die Wein- und Obstbauterrassen der Gegend. Ich befand mich gerade an einer Donaubiegung und überblickte die glitzernde Wasseroberfläche. Die letzten Regentropfen gaben gemeinsam mit der wieder hervortretenden Sonne einen Regenbogen preis, der den Anblick unwirklich erscheinen ließ.
Saftige Grüntöne, wohin das Auge blickte. Das Wasser schimmerte blau-grau, kleine Wellen plätscherten gegen das Flussufer, das sich nur wenige Meter vor mir befand. Alle paar Minuten veränderte sich die Lichtstimmung, während die Sonne stückchenweise hinter dem Horizont verschwand. Diese Farben waren unbeschreiblich! Die Variationen aus Gelb, Orange, Rot, Lila – warme Farben, beruhigend. Diese Erde hat so viele schöne Plätze und Momente zu bieten und ich hatte noch viel zu wenige davon gesehen und erlebt. Ich machte ein Foto, atmete tief ein und genoss den Moment. Der Geruch der Luft, wenn es gerade geregnet hatte, erzeugte eine wohlige Wärme in mir und ließ meine Muskeln entspannen. Mein Blick wanderte über das gegenüberliegende Ufer. Ab und zu ein Häuschen, keine Menschen. Auch auf dieser Seite des Ufers war es ruhig. Ich befand mich in einer Art Waldinsel, recht klein, abseits der Wanderwege und Straßen. Allein. Perfekt.
Seit rund einer Woche war ich zu Fuß von Wien unterwegs Richtung Passau. Die meiste Zeit hielt ich mich an den Donauradweg, aber wenn es mich wegzog, ging ich einfach abseits der Wege und erkundete die Naturlandschaft. Der Plan war grob gesteckt. Ich hatte vier Wochen Zeit, was sehr großzügig kalkuliert war. Die reine Gehzeit hatte ich mit 17 Tagen berechnet, die restlichen Tage wurden eingeschoben, wenn ich ein Plätzchen genauer erkunden oder auch durch eine nahe gelegene Stadt oder Sehenswürdigkeit flanieren wollte. Für die Nacht suchte ich mir Privatzimmer oder schlief unter freiem Himmel, wenn es das Wetter zuließ. Jetzt war ich hier – und jeden Tag aufs Neue fasziniert. Ich, ein eingefleischtes Stadtkind, hatte mich doch wirklich zu Fuß auf den Weg gemacht. Kein Rad, kein Bus, kein Auto. Per pedes. Ein Grinsen machte sich auf meinen Lippen breit, weil ich wieder mal über mich selbst schmunzeln musste. Keine Ahnung, was da in mich gefahren war, aber ich musste einfach raus. Raus aus der Stadt. Raus aus dem Alltag. Allein. Perfekt.
Ich holte meinen Rucksack vom Waldrand. Den Schlafsack warf ich auf die Wiese, mein Reisetagebuch und ein Schokoriegel flogen hinterher. Ich entledigte mich meiner Regenjacke und schlüpfte in den Schlafsack. Die Luft war warm, der Wind blies sachte über das Wasser und die Wiesen. Einen Baumstumpf, der aus dem Boden ragte, benutzte ich als Rückenlehne. Ich nahm mein Reisetagebuch und knabberte an dem Schokoriegel. Langsam fuhr ich mit meinem Zeigefinger die Buchstaben am Buchdeckel nach: Carpe diem! Nutze den Tag! Ich dachte an meine beste Freundin, die mir das Buch vor meiner Abreise geschenkt und sich mit einer Widmung auf der Innenseite verewigt hatte: „Hey Süße! Schreib, was du denkst, was du fühlst und erlebst! Und mach viele Fotos! Hab Spaß und pass auf dich auf – ich hab dich lieb!“ Sie hatte zwar nicht verstanden, warum ich unbedingt solo durch Österreich laufen musste, aber sie akzeptierte es. Ich hatte es auch nicht gut erklären können. Ich musste einfach allein sein. Perfekt.
Ein Geräusch dicht über meinem Kopf ließ mich zusammenzucken. Ich duckte mich, und im nächsten Moment platschte ein großes weißes Etwas auf das Fußende meines Schlafsacks. Der schuldige Vogel flog knapp über mir hinaus auf das Wasser und hatte sich über mir seines verdauten Mittagessens entledigt. „Oh no! Du bist ja ein nettes Kerlchen, hast du keine Manieren?!“, rief ich dem Vogel lachend nach und ließ meine Arme zur Seite fallen. In Wien hätte ich mich fürchterlich geärgert, geekelt und gestresst. Aber jetzt, hier, inmitten der Natur, deren Ruhe ich mit jedem Atemzug mehr und mehr einsog, entkam mir nur ein phlegmatischer Seufzer. Es war ja nichts dabei, warum sollte man sich darüber aufregen? Natur pur, würde man in der Werbung sagen. Gott sei Dank war kein Stadtmensch dabei. Der hätte mir sicher die Ruhe genommen, die ich schon gewonnen hatte. Allein sein. Perfekt.
Ich schälte mich aus dem Schlafsack und ging damit zum Wasser, um den Dreck abzuwaschen. In meinem Rucksack fand ich noch ein paar Taschentücher, die den Rest erledigten. Dann kuschelte ich mich wieder hinein und suchte die nächste leere Seite. Ich überlegte kurz und begann dann zu schreiben: „Es ist kurz nach acht Uhr abends und ich habe es mir hier im Freien am Donauufer gemütlich gemacht. Es ist so wunderschön hier – siehe Beweisfoto mit Regenbogen … Mir glaubt doch sonst keiner, dass es hier wirklich so aussieht! Ich bin jeden Tag mehr überzeugt davon, dass es das Richtige war, diese Tour zu machen. Daran kann nicht mal der inkontinente Vogel was ändern, der mir gerade auf den Schlafsack gekackt hat. Morgen wird brav weiter marschiert, bis mittags sollte es sich schön ausgehen, dass ich zur Burgruine komme. Den restlichen Tag werde ich dann dort die Gegend etwas unsicher machen. Allein. Perfekt.„
Ich legte Buch und Stift beiseite und ließ meinen Blick umherwandern. Hinter mir knackte und raschelte es im Geäst, aber das beunruhigte mich überhaupt nicht. Im Gegenteil. Meine Augen erspähten im dämmrigen Abendlicht eine Smaragdeidechse, die aus einem Freiraum zwischen ein paar größeren Steinen hervorkrabbelte und kurz die Lage checkte, bevor sie in der nächsten Lücke wieder verschwand. Ein kurzer, hoher Pfiff ließ mich den Blick auf eine kleine Böschung lenken, die sich ebenfalls nahe am Ufer befand. Nach ein paar Sekunden sah ich Mama Ziesel, die besorgt am Eingang ihres Baus nach ihrem Nachwuchs Ausschau hielt. Ein erneuter Pfiff, und zwei Jung-Ziesel zischten von den Bäumen hinter mir kommend vorbei zur Böschung und verschwanden gemeinsam mit ihrer Mutter im Bau. Betthupferl war angesagt.
Solche Augenblicke genoss ich mit jeder Faser meines Körpers. Das bewusste Wahrnehmen meiner Umgebung, der Natur, von all der Kleinigkeiten, die laufend geschahen, aber nicht gesehen wurden. Ich sah sie jetzt wieder. Oder vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben so richtig. Und es war wunderschön. Eins zu sein mit der Umgebung. Durch den Schlafsack spürte ich die Unebenheiten des Erdbodens, der mir trotz seiner Unregelmäßigkeit die Stabilität gab, die ich brauchte. Ich roch das nasse Holz des Baumstumpfes hinter mir, der mich trotz seiner eigenen Endlichkeit stützte. Ich hörte den Wind, der sanft durch die Blätter der Bäume und über das Wasser glitt und mir trotz seiner Unberechenbarkeit ein Gefühl der Freiheit vermittelte. Rundherum machte das Licht den nächtlichen Schatten Platz und ich starrte auf die Sterne über mir, die immer mehr wurden. Einfach so. Bis ich irgendwann einschlief. Allein. Und doch verbunden. Perfekt.
Verfasst im Juli 2020
Petra Hechenberger
www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 21060
Besinnliche Weihnachtszeit
Die Weihnachtszeit beginnt schon früh,
schon im November schmückt man wieder.
Dann hört man fast den ganzen Tag,
wohin man kommt nur Weihnachtslieder.Und schon beginnt die lange Suche,
kaum dass das erste Lied verstummt,
nach Nudelholz und all den Sachen,
die Küche wird mit Mehl vermummt.Mamsch bäckt Kekse wie der Teufel,
als müsst sie ohne Ofen sterben.
Den Brauch brachten die Hirten auf,
sie standen auch bei ihren Herden.Geschenkekauf sieht man noch locker,
da denkt man: „Pah, hab eh noch Zeit“.
Doch dann zwei Wochen vor Bescherung,
vermisst man seine Lässigkeit.Man irrt herum, hat keine Ahnung,
was man denn heuer so verschenkt,
ist der Verzweiflung schon ganz nahe,
wenn man an Opa, Oma denkt.Dann auch noch diese Menschenmassen,
haben die alle kein Zuhaus?
Es scheint manchmal wie ein Komplott,
die dürfen wohl nur samstags raus.Nun gut, am letzten Einkaufstag,
hat man´s geschafft, schon wieder mal,
und jedem ein Geschenk besorgt,
zu Ende scheint die Qual der Wahl.Doch jetzt geht es erst richtig los,
der Weihnachtsabend steht noch an.
Da gibt´s noch einmal richtig Stimmung,
denn die Verwandtschaft trabt jetzt an.Es riecht nach Duftkerzen und Tanne,
und aus der Ferne hört man Glocken.
Die Mutter bäckt noch immer Kekse,
und Onkel, Schwager, Opa zocken.Der Vater liegt mit Schmerz im Bett,
in seiner Faust das Polsterzipferl.
Er hat seit letztem Jahr nix g´lernt,
aß viel zu viel Vanillekipferl.Und um dem Christkind aufzulauern,
hat klein Susi sich versteckt,
doch was sie dann zu sehn bekommt,
nicht wirklich Freude in ihr weckt.Das Christkind kommt in Form von Opa,
der steht mit einem Bier beim Baum,
nimmt noch mal einen kräftigen Schluck,
beginnt Geschenke hinzuhaun.Sie hält´s nicht aus, beginnt zu weinen,
die Oma zetert gleich hysterisch,
doch Opa hat schon drei, vier Bier,
und wird dann doch etwas cholerisch.Das war´s für Susis heile Welt,
alles zerplatzte Seifenblasen.
Doch eine Chance hat sie noch,
da gibt´s doch noch den Osterhasen.
Petra Hechenberger und Christian Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16172
Life, Teil 2
(inspired by The Walking Dead)
Seit dem Vorfall am Indoor-Pool waren einige Wochen vergangen. Die Gruppe hatte zwischenzeitlich in einem Gefängnis eine sichere Unterkunft gefunden. Sie hatten sich häuslich eingerichtet, sogar Gemüse gepflanzt. Die Gemeinschaft wuchs, und Routine gewann langsam die Oberhand.
Sara und Daryl waren sich nähergekommen. Nicht körperlich, auch wenn die Anziehung von beiden wahrgenommen wurde. Sie gingen oft auf Versorgungstour, hielten Wache. Sprachen zusammen, schwiegen zusammen. Ihre Vertrautheit miteinander war weiter gewachsen.
Müde von ihrer Nachtschicht stand Sara auf dem Posten am Wachturm. Die Beißer waren überschaubar, aber in den letzten Tagen hatten sich immer wieder Überlebende draußen herumgetrieben, anscheinend um zu spionieren. Rick hatte den Chef der Gruppe kennengelernt, die Leute wirkten dubios und waren mit Vorsicht zu genießen.
Lächelnd beobachtete Sara ein Vogelpärchen, das im Einklang über die Wälder flog. Die Sonne war gerade im Begriff, über den weit entfernten Berggipfeln aufzugehen. „Warum lächelst du?“, fragte eine Stimme hinter ihr. Sara erschrak nicht. Nicht bei seiner Stimme. Sie breitete die Arme aus. „Sieh dich um. Es ist wunderschön. Schöne Dinge machen mir Freude. Also lächle ich. Ganz einfach“, erklärte Sara ihren Gemütszustand.
Ganz einfach. Daryl sah sich um. Für ihn war es ein Morgen wie jeder andere. Er war fasziniert von Saras Gabe, ihrer Umwelt mit einer so positiven Einstellung zu begegnen.
Daryl ging zu Sara und stellte sich neben sie. Seine Brust berührte leicht ihren Arm, den sie noch immer ausgestreckt hatte. Der Duft ihrer Haut und der frisch gewaschenen Haare stieg in seine Nase. Sie hatten einfache Kernseife in den Waschräumen des Gefängnisses gefunden, aber in Verbindung mit ihrer Haut machte ihn der Geruch seltsam unruhig.
Sara spürte das kühle Leder seiner Weste an ihrem Arm, als er neben sie trat. Es war vertraut, das Leder, die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Langsam senkte sie ihre Arme und hielt sich am Geländer fest. Dann sah sie ihn von der Seite an.
Er schien zu versuchen, dasselbe in der Umgebung zu entdecken, das sie sehen konnte. Seine Augen waren zusammengekniffen und seine Stirn lag in Falten. Sie musste schmunzeln. „Ist schon o. k., wenn du das nicht siehst. Dafür hast du ja mich“, meinte sie grinsend und rempelte ihn sanft mit ihrer Schulter an. Daryl verzog einen Mundwinkel nach oben. Er war kein Mann großer Worte. Umso mehr registrierte Sara die Art seiner nonverbalen Kommunikation. Er musste nichts sagen, damit sie ihn verstand.
Er blickte auf ihre Hand, die am Geländer lag, und bevor er wusste warum, lag seine Hand auf ihrer und hielt sie fest. „Dafür hab ich dich“, wiederholte er leise. Sara. Sie wusste, was in ihm vorging, bevor es ihm selbst klar war. Sie konnte ihm ansehen, wie es ihm erging. Er teilte sich durch seine Mimik, seine Gestik mit, nicht durch Worte.
Sara hatte Daryl nicht mehr auf den Vorfall am Pool angesprochen. Daryl war wie ein verschrecktes Waldtier, wenn es um Gefühle ging. Umso überraschter war sie von dieser Aktion. Vielleicht war die Zeit jetzt reif, darüber zu reden. Sie genoss seine Berührung, fest und zärtlich zugleich.
Fragend sah sie ihn an. „Du wirkst angespannt. Was ist los?“, fragte sie leise. „Nichts“, entgegnete er schnell. Er nahm seine Hand von ihrer, räusperte sich und ging einen Schritt zurück. Sie hatte Recht, wieder einmal. Er konnte aber nicht in Worte fassen, warum.
„Daryl“, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme. Sie stellte sich vor ihn und tippte mit ihrem Zeigefinger auf seine Brust. Sie spürte, dass er weiter zurückgehen wollte, aber sie zog ihn sanft an seiner Lederweste zu sich. „Sieh mich an“, flüsterte sie. Sie suchte Augenkontakt. „Ich sage dir jetzt was. Wirst du zuhören?“, fragte sie leise und lächelte ein bisschen als sich ihre Blicke fanden.
Wie ein Schuljunge verlagerte Daryl sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Sein Herz schien in seinen Hals gerutscht zu sein, in seinen Ohren hörte er sein Blut rauschen. Er war zerrissen: wollte weg, wollte bleiben. Schließlich atmete er tief durch und nickte leicht.
„Ich muss oft daran denken, dass du mich gerettet hast, Daryl. Und ich weiß, dass du auch daran denkst. Und daran, was fast passiert wäre“, sagte Sara und ließ von seiner Weste ab. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwer werden würde, sich zu überwinden und das Thema anzusprechen.
Daryl merkte, dass sie der Mut verließ. Die Arme verschränkt, den Blick gesenkt. Plötzlich war sie wieder in ihrer alten Rolle gefangen. Klein, unscheinbar, introvertiert. Aber das war sie nicht mehr. Sie wusste es nur nicht, weil keiner da war, der es ihr sagte. „Hey“, sagte er leise und hob ihr Kinn sanft an, damit sie ihn wieder ansehen musste. „Rede weiter. Bitte“, entgegnete er und hob kurz die Augenbrauen, um sie so aufzufordern, weiterzusprechen.
Sara lächelte ihn an. „Deine harte Schale hat Brüche bekommen. Das irritiert dich. Weil ich die Brüche sehen kann. Lass es zu, Daryl, ich werde dir nichts tun. Dazu mag ich dich viel zu sehr.“ Ihre Stimme wurde immer leiser.
„Hmm“, brummte Daryl und kam einen Schritt näher auf sie zu. Ihre Gesichter waren sich fast so nahe wie damals. Wieder wehte ihm eine Brise ihres Duftes in die Nase, die eine Gänsehaut bei ihm entfachte.
„Ich glaube dir. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass du stärker und mutiger bist, als du denkst? Du hast deinen Bruder, Freunde und auch kurz einmal deinen Lebensmut verloren, und bist doch hier. Stärker als zuvor“, entgegnete Daryl.
Sara sah ihn überrascht an. Mit diesen Worten hatte sie nicht gerechnet. Sie öffnete ihre verschränkten Arme und strich mit einer Hand vorsichtig eine Haarsträhne aus Daryls Gesicht. Bei ihrer Berührung zuckte Daryl zusammen. Wenn er sie schon aufforderte, mutig zu sein, durfte er jetzt auch keinen Rückzieher bei ihr machen.
„Das glaubst du also, ja?“, fragte Sara nach. „Das weiß ich“, korrigierte Daryl sie. Sara stockte der Atem. Beide warteten darauf, was der andere als Nächstes tun würde. „Worauf wartest du?“, fragte Daryl mit heiserer Stimme. „Gute Frage“, murmelte Sara. Gerade als sie ihren Kopf anhob, um ihn zu küssen, hallte ein Schuss durch die morgendliche Stille. Im nächsten Augenblick fühlte Sara einen heftigen Schmerz an ihrem Kinn.
Sie sackte zusammen und fiel auf die Knie. Verstört griff sie an ihr Kinn und betrachtete ihre Hand, die sofort von einem roten Blutfilm überzogen war. Sie hörte nichts mehr, sah nur noch das Blut und spürte ihren Puls, der mit jedem weiteren Schlag noch mehr Blut aus der Wunde presste.
Wimmernd fiel sie zur Seite und registrierte Daryl, der sie auffing und ein Stück Stoff gegen ihr Kinn drückte. Er nahm ihre Hand und führte sie an ihre Wunde. Sie sah, dass er mit ihr sprach, aber sie verstand ihn nicht. In seinem Gesichtsausdruck erkannte sie Panik und Wut.
Sie griff nach dem Stoff, der bereits feucht vom Blut war und drückte ihn selbst gegen die Wunde. Sara beobachtete Daryl, wie er ins Innere des Wachturms kroch und den anderen über Walkie-Talkie Bescheid gab. Er ließ sie nicht aus den Augen und griff nach dem Maschinengewehr, das am Boden lag.
Daryl deutete ihr mit der Hand, dass sie ruhig liegen bleiben sollte. Wie in Zeitlupe beobachtete sie Daryl, der in die Richtung zurückschoss, aus der der Schuss gekommen war. Sara lehnte sich gegen die betonierte Brüstung, eine Hand gegen ihre Wunde drückend. Der Schmerz war nicht mehr so intensiv, auch das Pulsieren war schwächer geworden. Sara wusste aber nicht, ob die Blutung nachgelassen oder ob sie schon zu viel Blut verloren hatte. Die Haut an der Unterseite ihres Kinns spannte. Sie wurde müde und schloss die Augen.
Daryl sah, dass ein paar Männer am Boden unterwegs waren, um die Angreifer zu verfolgen. Es konnten nicht viele sein. Es war nur der eine gezielte Schuss gewesen, nicht mehr. Er warf das Maschinengewehr zurück auf den Boden und lief zu Sara. Sie war blass, die Hand, die auf ihre Wunde drückte, zitterte.
Sie war so weit gekommen. Sie durfte jetzt nicht sterben. Nicht jetzt. „Mach die Augen auf, Sara. Bleib bei mir. Komm schon“, versuchte Daryl ruhig zu sagen. Er erschrak über die Panik in seiner Stimme, als er sich selbst hörte.
Mit flatternden Lidern öffnete Sara wieder die Augen. „Ich bin da. Ich bin da“, murmelte sie und räusperte sich. Es tat weh, und ihr schmerzverzerrtes Gesicht trieb Daryl ein Messer in die Brust. Er konnte nicht abschätzen, wie schwer sie verletzt war. Der ganze Bereich rund um Sara war blutverschmiert, aber sie war ansprechbar. Ein gutes Zeichen.
„Du musst zu Hershel“, sagte Daryl und griff unter ihre Schultern und ihre Knie, um sie hochzuheben. „Nein. Ich kann selbst gehen“, sagte Sara bestimmend und stemmte ihre Hand gegen seine Brust. Er stützte sie beim Aufstehen und schob sie behutsam Richtung Stiegenabgang.
Sara sah ihn an und erschrak. „Bist du auch verletzt?“, murmelte sie ängstlich, denn sie hatte Blutspritzer in seinem Gesicht entdeckt. Vorsichtig wischte sie einen Tropfen auf seiner Wange weg, nur um mit ihren blutverschmierten Fingern noch mehr Blut auf seinem Gesicht zu verteilen. „Oh. Sorry“, sagte sie langsam. „Das ist meins.“
Daryl umschlang ihre Taille und stieg vorsichtig die Stufen mit ihr hinunter. „Mir geht’s gut. Und dich kriegen wir auch wieder hin“, sagte Daryl. Glenn kam ihnen entgegen und übernahm die weitere Wache am Wachturm, während Daryl sich beeilte, Sara zu Hershel zu bringen.
Adrenalin schien durch ihren Körper zu schießen, denn die Müdigkeit ließ wieder nach, und Sara merkte, dass ihre Gedanken klarer und ihr Kreislauf kräftiger wurden. Einen Arm hatte sie um Daryls Schultern gelegt, mit der zweiten hielt sie nach wie vor den Stofffetzen wie einen Druckverband auf die Wunde.
Vorsichtig setzte Daryl Sara auf ihrem Bett in ihrer Zelle ab. Hershel war ihnen gefolgt. „Sie hat Blut verloren. Ich weiß aber nicht wie viel“, erklärte Daryl, als er Hershel Platz machte, damit er sich um Sara kümmern konnte. Sara ließ ihre Arme sinken und atmete tief durch. Bei Hershel war sie in guten Händen. Auch seine Tochter Maggie war da, um ihn dabei zu unterstützen.
Daryl sah zu, wie Maggie anfing, die Wunde zu säubern. Jedes Mal, wenn sie an der Verletzung ankam, sah er Sara die Schmerzen an. Anfangs zuckte ihr ganzer Körper, nach und nach reduzierte sich die Reaktion auf ein Zusammenkneifen der Augen oder ein Rümpfen der Nase. Sie weinte ohne zu schluchzen, und ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut auf ihrem Gesicht, bis sie von Maggie mit Wasser und einem sauberen Tuch abgewaschen wurden.
Die Schmerzen wurden mit jeder Berührung erträglicher. Sara suchte den Augenkontakt mit Daryl, der in der Tür stand. Als Daryl ihren Blick bemerkte, erwiderte er ihn und nickte ihr aufmunternd zu. Sie wünschte sich, dass er sich neben sie setzte und bei ihr blieb. Aber das konnte sie nicht von ihm verlangen. Nicht vor den anderen. Noch nicht.
„Es sieht schlimmer aus als es ist. Die Wunde blutet zwar stark, ist aber nicht tief. Ein Streifschuss. Ein paar Zentimeter weiter oben und dein Kiefer wäre zertrümmert. Du hattest Glück“, erklärte Hershel ruhig und lächelte Sara an.
Daryl fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Er war erleichtert. Er seufzte unbewusst laut auf, sodass sich Hershel und Maggie kurz zu ihm umdrehten. „Bist du verletzt?“, fragte Maggie und war im Begriff aufzustehen, doch Sara hielt sie am Arm zurück. „Ihm geht’s gut. Das ist alles mein Blut, er stand direkt neben mir, als der Schuss fiel“, erklärte Sara erschöpft und machte eine kaum merkbare Kopfbewegung in Richtung Tür. „Genau. Ich wasch das mal ab“, brummte Daryl verstört und ging aus der Zelle.
Zielstrebig marschierte er in die Waschräume, doch anstatt das Blut abzuwaschen, setzte er sich auf den Boden neben dem Waschbecken und starrte auf seine Hände. Auch sie waren blutrot. Das Gefühl, Sara zu verlieren, hatte in ihm Chaos erzeugt. Noch viel mehr als damals, als er sie aus dem Pool gezogen hatte.
Dieses Chaos irritierte ihn. Sara irritierte ihn. Aber er konnte seine Gedanken an sie nicht abschalten. Gedanken und Gefühle, die ihn verunsicherten. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als jemand kurz gegen seine Stiefelspitzen trat. Es war Rick, der vor ihm stand.
„Alles o. k.? Wie geht’s Sara?“, fragte er nach. Daryl sprang auf und drehte den Wasserhahn auf, um sich die Hände zu waschen. Und um Rick nicht ansehen zu müssen. „Ja. Streifschuss. Wird schon wieder. Habt ihr was gefunden?“, antwortete er knapp.
„Eine Botschaft vorne bei den Autowracks. Sie werden wiederkommen. Und sie wollen das Gefängnis. Wir müssen vorbereitet sein“, erklärte Rick emotionslos. Dann klopfte er Daryl freundschaftlich auf die Schulter. „Geh wieder zu ihr. Sie braucht dich. Und du brauchst sie“, sagte Rick ruhig.
Überrascht sah Daryl ihn im Fliesenspiegel an und wollte etwas erwidern, doch Rick hob abwehrend die Hand. „Vertrau mir, Daryl. Ihr zwei ergänzt euch. Du musst es nur zulassen. Es ist schön, jemanden zu haben, der einen auch ohne Worte versteht.“ Seine Stimme klang seltsam wehmütig.
Daryl richtete sich auf und stellte das Wasser ab. Über den Spiegel sah er Rick an, der ihm müde lächelnd zuzwinkerte und ihn dann wieder allein ließ. Es zulassen. Als ob das so einfach wäre. Er schlenderte langsam zu Saras Zelle zurück. Sie saß mittlerweile alleine auf ihrem Bett, ihre Wunde war versorgt und verbunden.
„Hey, wie geht’s?“, sagte er leise und wartete in der Tür. Sara lächelte ihn an. „Hey. Geht schon wieder, danke“, antwortete sie und deutete ihm, zu ihr zu kommen. Daryl zögerte kurz, kam dann näher und ging vor ihr in die Hocke. Er stützte sich links und rechts von Sara an der Bettkante ab und sah sie prüfend an. „Was sagt Hershel?“, fragte er nach. Sara rollte mit den Augen. „Etwas blass um die Nase bin ich vielleicht noch, wegen dem Blutverlust. Ein paar Tage pausieren, dann kann ich wieder mit anpacken!“
Daryl nickte und sah sich unbeholfen in der Zelle um. Sara zupfte seine Lederweste zurecht und betrachtete ihn. Er war verunsichert. Es gab nicht oft Momente, in denen er so verletzlich wirkte. Er war sonst immer so stark. Sara nahm all ihren Mut zusammen. Sie beugte sich vor und nahm sein Gesicht in beide Hände. „Was zum…?“, zischte Daryl fast panisch, aber Sara legte ihre Daumen auf seine Lippen, und er verstummte.
Er spürte die Wärme, die von ihrem Körper ausging. Sie schien seinen eigenen Körper anzufachen, er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Sara beobachtete, wie Daryls Gesicht rot anlief. Mit einem Lächeln lehnte sie sich vor zu seinem Ohr. „Ich bin nur mutig“, flüsterte sie, bevor sie es sanft küsste. Langsam wanderte sie mit ihrem Mund über seinen Kiefer vor bis zu seinem Mund.
Vorsichtig kniete sich Daryl zwischen Saras Beine und wanderte mit seinen Händen vorsichtig zu ihrer Taille. Er drückte sie näher an sich und genoss ihre Nähe, ihre sanften Küsse. „Schön, dass du auf mich hörst“, erwiderte Daryl mit rauer Stimme, bevor sich ihre Lippen das erste Mal berührten.
Er hatte es vergessen. Nicht mehr gewusst, wie es sich anfühlen konnte. Jemandem so nahe zu sein. Als sich ihre Zungen trafen, war es wie ein Stromschlag, der gleichzeitig durch beide Körper fuhr. Während ihre Küsse immer leidenschaftlicher wurden, schmiegte sich Sara an ihn und fuhr ihm durch die Haare, zärtlich daran ziehend. Daryls Hände wanderten unter ihr Shirt und streichelten ihre weiche Haut.
Als sie sich wieder voneinander trennten, waren ihre Gesichter erhitzt und ihre Wangen gerötet. Aber beide lächelten. „Langsam, Süße. Du bist verletzt“, sagte Daryl leise und fuhr mit seinem Handrücken über ihren Verband.
„Ich bin auch auf Drogen. Hershel hat mir was gegen die Schmerzen gegeben. Also spüre ich die Verletzung momentan nicht wirklich. Mir ist eher etwas schwindlig. Liegt wahrscheinlich am Blutmangel“, grinste sie und zwinkerte Daryl zu. „Also haben jetzt nur die Drogen aus dir gesprochen, oder wie?“, fragte er neckisch. Sara sah ihn liebevoll an und küsste ihn kurz. „Die haben mir nur geholfen, das zu tun, was ich schon längst hätte tun sollen.“
Petra Hechenberger
www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16066
Perception
Ich saß in der zweiten Bankreihe der Kirche. Ich war allein, meine Augen waren geschlossen. Konzentriert hörte ich meinem Atem zu, wie er durch Nase und Luftröhre hindurchstrich, meine Lungen durchströmte und schließlich meinen Körper wieder über meinen Mund verließ. Meine Lippen waren ausgetrocknet, die Hände lagen zusammengefaltet in meinem Schoß. Es war eine Beruhigungsübung, die ich in den vergangenen Wochen gelernt hatte.
Ich öffnete die Augen und sah auf den Altar, der mit einem kleinen Blumenstrauß geschmückt war. Ein Überbleibsel der letzten Messe. Die Blumen waren noch frisch. Wenn man nah genug hinging, konnte man den intensiven Duft der Blüten riechen. Blumenduft war der Inbegriff von Leben. Im Leben stehen. In voller Blüte stehen.
Mit einem leisen Seufzer richtete sich mein Blick auf das Kreuz hinter dem Altar. Da war er, der Sohn Gottes. 33% der christlichen Dreifaltigkeit. Der sich geopfert hatte für uns Sünder. Ich saß hier, in einer römisch-katholischen Kirche, als getauftes Mitglied dieser Gemeinschaft. Aber nicht, um die Vergebung meiner Sünden zu erbitten.
Kirchen hatten mich früher nicht oft gesehen. Schulmessen, Erstkommunion, Taufen und Hochzeiten in der Verwandtschaft. Mehr nicht. Mein Elternhaus war nicht religiös. Dass Kinder getauft und Ehen in der Kirche geschlossen wurden, geschah aufgrund historisch gewachsener Bräuche und Sitten, nicht aus religiöser Überzeugung.
Um ehrlich zu sein: Eigentlich mochte ich Kirchen nicht. Ich fühlte mich von der überladenen Ausstattung wie erschlagen. Diese Darstellung von Glanz, Gloria und Reichtum war für mich gleichbedeutend mit Hochmut und Überheblichkeit. Was im totalen Widerspruch zu den Lehren dieser Kirche stand. Schließlich war Hochmut eine Todsünde.
Da hielt ich es eher mit der Interpretation à la Indiana Jones. Der den richtigen Heiligen Gral aus einer Vielzahl an Kelchen auswählte. Einen einfachen Tonkelch, aus dem Besitz des Sohnes eines Zimmermanns. Keine Diamanten, innen unscheinbar mit einer dünnen Goldschicht überzogen. Eine weise Entscheidung. Für einen Augenblick musste ich schmunzeln. Dann sah ich mich um. Diese Kirche war anders. Sie war im Jugendstil gebaut. Viel Gold, aber nicht zu viel. Mit einer gewissen Schlichtheit. Das mochte ich. Sie war groß und hell, ich fühlte mich nicht erdrückt, wenn ich hier saß.
In den letzten Wochen hatte ich viel Zeit hier verbracht. In der Nähe befand sich ein psychiatrisches Zentrum, in dem seit drei Monaten regelmäßig meine Therapiesitzungen stattfanden. Ich war keine Gefahr für mich selbst oder andere, aber ich wurde mit dem Leben nicht mehr fertig. Ein spezielles Ereignis hatte mich aus der Bahn geworfen: der Selbstmord meines Ex-Freundes ein Jahr zuvor.
Zum Zeitpunkt unserer Beziehung war ich 19 Jahre alt, er ein Jahr älter. Unsere gemeinsame Zeit war nicht lang, aber sehr intensiv. Er war charmant und draufgängerisch, aber schon bald merkte ich, dass er ein Gefangener seines Geistes war. Sein Vater erklärte mir, dass sich seine Mutter umgebracht hatte, weil sie depressiv gewesen war. Und dass auch sein Sohn Anzeichen in sich trug, dass diese Krankheit einmal ausbrechen könnte. Ich war bestürzt, aber ich war verliebt. Es war mir zu dieser Zeit egal, was die Zukunft bringen würde. Ich war überzeugt davon, dass ich bei ihm bleiben wollte, egal was geschehen würde.
Nach vier Monaten ließ er mich für seine vorige Freundin stehen und ging zu ihr zurück. Ich war eine Art Lückenfüller gewesen – jedenfalls versuchte sie mir das einzureden. Er selbst wirkte schuldbewusst und traurig, als wir uns aussprachen. Ich glaubte ihm, wie gingen im Guten auseinander. Ich versprach ihm, Kontakt zu halten. Zu seinem Geburtstag schenkte ich ihm einen eingerahmten Freundschaftsspruch, den er mit Tränen in den Augen annahm. Aussage des Spruches war: Egal was passiert, ich bin für dich da. Aber etwas in mir versuchte bereits zu diesem Zeitpunkt unbewusst, sich von ihm abzukapseln.
Ein paar Wochen nach unserer Trennung hörte ich, dass ihn seine Freundin betrogen und mit ihm Schluss gemacht hatte. Die Folge war ein psychotischer Schub, bei dem er versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Sein Bruder hatte ihn rechtzeitig gefunden. Sein Vater rief mich an und bat mich, ihn im Krankenhaus zu besuchen. Er hatte nach mir gefragt.
In diesem Augenblick fiel mir wieder das Geschenk ein. Dass ich ihm versprochen hatte, da zu sein. Es fiel mir schwer. Ich wollte mein Versprechen halten, aber ich hatte auch Angst vor der Situation. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Eine Freundin begleitete mich schließlich ins Krankenhaus. Ich hielt es für falsch, meinen damaligen Freund darum zu bitten.
Dieser lange Gang der psychiatrischen Station, mit dem hellen Tageslicht am Ende, war einerseits beklemmend, andererseits Hoffnung gebend. Mit jedem Schritt hatte ich das Gefühl, immer kleiner und hilfloser zu werden. Gleichzeitig machte sich ein Gefühl der wohligen Wärme in mir breit, je näher ich der Fensterfront kam. Als ich der Schwester erklärte, wer ich war und zu wem ich wollte, holte sie einen Arzt, der mich über die aktuelle Situation aufklärte. Sie hatten eine manisch-depressive Erkrankung bei meinem Ex-Freund diagnostiziert. Er deutete mit dem Kopf zur Zimmertür schräg gegenüber. „Er fragt täglich nach Ihnen. Gehen Sie rein, aber erschrecken Sie nicht. Wir mussten ihn fixieren.“
Meine Nasenflügel weiteten sich und mein gesamter Körper spannte sich an, mein Atem ging schnell. Die Angst davor, in diesen Raum zu gehen, ließ mich erstarren. Ich sah zu meiner Freundin, die mich umarmte und mir beruhigend über den Rücken streichelte. „Du schaffst das“, flüsterte sie und schob mich sachte Richtung Tür.
Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zimmer war. Aber ich kann mich an ihn erinnern. Wie er im Bett lag, mit Schnallen an den bandagierten Handgelenken. Über seinem Körper war eine Art Netz gespannt. Er bewegte sich nicht. Ich stellte mich zu seinem Bett und versperrte ihm die Sicht. Sein Blick war starr und leer, er sah durch mich hindurch. Sie hatten ihn mit Medikamenten ruhiggestellt. Sein Mund war leicht geöffnet, und Speichel floss auf den Polster.
Ich war erschüttert. Das war nicht mehr der junge Mann, mit dem ich eine Beziehung geführt hatte. Um meine Brust schien sich ein unsichtbarer Strick zu legen, der sich kontinuierlich zuzog und mich nach Luft schnappen ließ. Meine Atemzüge wurden kürzer und ich merkte, dass mir schwindlig wurde.
Ich kann gar nicht sagen, ob er mich erkannt hatte. Einige Male versuchte ich, ihn anzusprechen. Aber er reagierte nicht, dazu war er in seiner Verfassung anscheinend nicht fähig. Als ich aus dem Zimmer ging, konnte ich nicht schnell genug das Krankenhaus verlassen. Meine Freundin kam mir kaum hinterher. Schnell raus. Frische Luft einatmen. Alles hinter mir lassen. Ihn hinter mir lassen. Und feststellen, dass ich nicht den Mut aufbringen würde, mein Versprechen ein weiteres Mal einzulösen.
Zwei Jahre lang hörte ich kaum etwas von ihm. Bis mein damaliger Freund – er hatte meinen Ex-Freund gekannt – eines Abends vor meiner Wohnungstür stand und mich mit den Worten „Er hat es heute beendet. Medikamenten-Überdosis“, begrüßte. Ich wusste sofort, was und wen er damit meinte. Wie ferngesteuert ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Mein Freund blieb im Wohnzimmer bei meinem Vater, meine Mutter folgte mir.
Reglos saß ich auf meinem Bett und starrte an die gegenüberliegende Wand. Wortlos saß meine Mutter neben mir und wartete darauf, dass ich zu reden begann. Die Vorwürfe stellten sich alsbald ein. In Tränen aufgelöst erklärte ich ihr, dass ich ihn allein gelassen hatte. Zu feig gewesen war, um mit der Situation anders – besser – umgehen zu können. Meine Mutter versuchte mir klar zu machen, dass meine Vorwürfe nichts an der Situation änderten. Dass er krank gewesen war. Dass seine Familie für ihn da gewesen war. Dass mich keine Schuld traf. Auch mein Freund versuchte mich davon zu überzeugen, aber ganz abschütteln konnte ich die Gedanken nicht.
Bei der Beerdigung zwei Wochen später stand der Sarg offen, aber ich brachte es nicht fertig, ihn noch einmal zu sehen. Ich versteckte mich hinter unseren gemeinsamen Freunden. Wie aus weiter Entfernung hörte ich die Reden seines Vaters und seines Bruders, dessen letzter Kontakt mit ihm ein dummer Streit über zu lang ausgeborgte Videokassetten war.
Mein letzter Kontakt war … keinen Kontakt mehr gehabt zu haben. Meine letzte Erinnerung war … sein fixierter Körper und sein leerer Blick in einem Raum, der nach Desinfektionsmittel stank. Meine Erkenntnis war, dass ich nie wieder eine Möglichkeit haben würde, mit ihm zu sprechen, mich zu entschuldigen oder ihm einfach zuzuhören. Keine Träne verließ meine Augen, während der Trauerreden und dem Gang zum Grab. Ich sprach der engsten Familie mein Beileid aus, auch dann musste ich nicht weinen. Ich fühlte mich leer, kalt, emotionslos. Stand neben mir selbst.
Tage und Wochen vergingen, und diese Gefühle beherrschten mein Leben. Ich verkroch mich zu Hause, kapselte mich von meinem sozialen Umfeld ab. Ich ertappte mich dabei, wie ich im Büro saß und mit einer aufgebogenen Büroklammer immer wieder über dieselbe Stelle meines Handrückens fuhr, bis die Wunde zu bluten begann. Ich bedeckte sie mit einem Pflaster, wenn ich zu Hause war. Sobald sich Krusten bildeten und die Wundheilung einsetzte, kratzte ich weiter. Es tat gut, es war eine Ablenkung. Schmerzen zu fühlen hieß, am Leben zu sein. Nicht an den Tod denken zu müssen.
Die Kirchentüren wurden geöffnet, und ich spürte den Luftstrom, der von hinten durch meine Haare fuhr. Mit einem Blinzeln verscheuchte ich kurz meine Gedanken und setzte mich gerade hin. Ein älteres Ehepaar war eingetreten und lächelte mich freundlich an, als sie an mir vorbeigingen und schräg vor mir in der ersten Bankreihe Platz nahmen. Ich erwiderte ihr Lächeln kurz und wandte meinen Blick wieder dem Kreuz zu. Obwohl ich so oft hier saß, hatte ich nie das Bedürfnis, mich in meinem mir vorgegebenen Glauben zu finden und zu beten oder zu beichten.
Ich war ein Mensch der Wissenschaft, nicht des Glaubens. Die Therapiestunden hatten mir auch geholfen. Es war eine Zwangsstörung, die ich nach dem Tod meines Ex-Freundes entwickelt hatte. Und die mir das alltägliche Leben erschwerte. Es war die persönliche Erkenntnis über die Endlichkeit des Lebens. Der Tod meines Ex-Freundes war der erste eines mir nahestehenden Menschen gewesen, den ich erleben musste.
Diese Angst vor dem Sterben erzeugte Panikattacken. Anfangs hauptsächlich abends beim Einschlafen. Im Schlafzimmer, sachte dösend, und plötzlich der Gedanke: Wenn du tot bist, ist da nichts mehr. Du denkst nicht mehr, du liebst nicht mehr, du lachst nicht mehr, du hasst nicht mehr. Es ist nichts mehr da. Dein ganzes Leben, deine Erinnerungen, deine Handlungen – alles weg.
Diese Gedanken äußerten sich in Herzrasen, ich versuchte verzweifelt mich abzulenken und sie wieder loszuwerden. Ich kratzte die Wunde auf meinem Handrücken auf und beobachtete, wie das Blut wieder stockte. Ich stieß mit Absicht den Fuß gegen den Bettpfosten oder biss meine Lippen blutig, um kurzfristig eine andere Art von Schmerz zu erfahren. Ich stand auf und lief durch die Wohnung, um auf andere Gedanken zu kommen.
Als ich nicht mehr schlafen konnte, meine Nerven blank lagen und die Panikattacken auch untertags auftraten, entschied ich mich für eine Therapie. In langen Gesprächen mit meinem Therapeuten arbeitete ich diese Geschichte auf. Teilweise gelang es mittlerweile auch. Ich war froh, dass ich mir alles von der Seele reden konnte. Dass ich es jemandem erzählen konnte, den ich nicht kannte. Mit dem mich nichts verband außer unsere gemeinsamen Termine. Mit meinen Freunden oder meiner Familie zu reden – dazu war ich einfach nicht in der Lage. Ich brauchte diesen Abstand.
Gott sei Dank benötigte ich keine Medikamente. Zu Beginn wären sie eine Option gewesen, um zumindest ein paar Stunden erholsamen Schlaf zu finden. Aber ich hatte es auch ohne geschafft. Die Atemübungen hatte ich schnell verinnerlicht. Ich musste mir jetzt auch keine physischen Schmerzen mehr zuführen, um mich von den psychischen abzulenken. Ein Blick auf meine Handrücken bewies es. Meine Wunde, die ich wochenlang immer wieder aufgekratzt hatte, war verheilt. Die Narbe würde mich jedoch immer an diese Phase meines Lebens erinnern.
Ich stand auf, um die Kirche zu verlassen. Ein letzter Blick auf den Sohn Gottes. „Wir sehen uns“, dachte ich entspannt und nickte dem Kreuz zu. Dann trat ich hinaus auf den Vorplatz. Es war ein schöner Tag, ein laues Lüftchen trug den Duft der umliegenden Bäume und Blüten mit sich.
Ich genoss das Leben wieder. Einerseits ging ich wieder hinaus, traf mich mit Freunden, nahm mir immer wieder neue Dinge vor, die ich noch nie zuvor gemacht hatte. Andererseits setzte ich mich bewusst mit dem Tod auseinander. Spaziergänge auf Friedhöfen waren ein regelmäßiger Bestandteil meines Lebens geworden. Ein Ort der Ruhe, der Erkenntnis. Meine Erkenntnis war: Der Tod trifft uns alle irgendwann. Aber das Leben davor ist gar nicht so schlecht.
Petra Hechenberger
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16037
Ghost
(inspired by Eastmountainsouth’s Song)
Klack. Klack. Klack.
02.04.2004. Das Datum war leicht zerkratzt, aber so, wie der Ring vor ihr auf dem Tisch lag, konnte man es noch immer gut lesen.
Klack. Klack.
Immer wieder griff sie mit Daumen und Zeigefinger nach dem Ring, hob ihn hoch und ließ ihn aus geringer Höhe auf den Tisch fallen.
Klack.
Sie rutschte ein Stück mit dem Stuhl zurück und legte ihr Kinn auf die Tischplatte, ohne den Blick vom Ring zu wenden. Ihr Atem war ruhig. 02.04.2004. Davor und dahinter das Unendlichkeitszeichen, eine liegende Acht. Sie presste die Lippen zusammen.
Heute war ihr zehnter Hochzeitstag. Auch Rosenhochzeit genannt. Rosen – ihre Lieblingsblumen. Auch bei ihrer Hochzeit waren die Kirche und die Räumlichkeiten, in denen anschließend gefeiert wurde, mit dem intensiven Duft von Black-Magic-Rosen erfüllt gewesen.
Für einen kurzen Augenblick schweifte ihr Blick nach links auf das Sideboard, auf dem ihr Hochzeitsfoto stand. Sie, inmitten eines blühenden Rosengartens, und er, sie zärtlich von hinten umarmend. Beide lachten glücklich in die Kamera. Ja, glücklich war das richtige Wort.
Mit einem leisen Seufzer suchten ihre Augen wieder den Ring auf dem Tisch. Das Unendlichkeitszeichen. Für immer. Davon waren sie damals überzeugt gewesen. Aber jetzt, zehn Jahre später, saß sie alleine hier am Tisch. Er war nicht mehr hier.
Fünf Jahre waren sie verheiratet gewesen. Waren gerade in ein kleines Reihenhäuschen gezogen und bereiteten sich darauf vor, ihre Familienplanung in die Praxis umzusetzen, als im Herbst 2009 eine Reihe von gesundheitlichen Rückschlägen ihrem Mann schwer zu schaffen machte.
Nach mehreren Wochen, in denen sein Krankheitsbild zwischen grippalen Infekten, Bronchitis und einer Lungenentzündung wechselte, konnte sie ihn überreden, eine zweite Meinung einzuholen. Das Ergebnis erfuhren sie an einem Freitag, den 13. Er hatte Lungenkrebs. Er, der nie geraucht und immer gesund gelebt hatte. Die Heilungschancen lagen bei 50%.
Der wolkenlose Himmel dieser glücklichen Beziehung trübte sich ein. Und wurde täglich dunkler. Die erste Chemotherapie schlug nicht an. Die zweite brachte für einige Zeit wieder Hoffnung, doch der Krebs war stärker. Sukzessive war aus dem sportlichen, charmanten jungen Mann ein abgemagertes Häufchen Mensch geworden, das am Schluss in dem großen Krankenbett so verloren aussah wie ein kleines Kind.
Es tat weh, ihn so zu sehen. Diese Verwandlung mitansehen zu müssen, und nichts dagegen tun zu können. Sie versuchte stark zu sein, stark für sie beide. Er brauchte sie, wie er sie noch nie zuvor gebraucht hatte. Ihre Nähe, ihren Zuspruch, ihre Hoffnung, ihre Liebe. Sie gab ihm alles, was sie konnte, um es für ihn leichter zu machen.
Wenn sie aus dem Krankenhaus ging, fand sie nicht oft den Weg in ihr eigenes Zuhause. Es waren ihre Eltern, ihre Geschwister oder ihre beste Freundin, bei denen sie Zuflucht suchte. Sie, die sie jede Minute, die sie bei ihm war, damit verbrachte, ihm Mut zuzusprechen und Hoffnung zu geben, brauchte auch jemanden, der dies für sie tat. Dieser Rückhalt in ihrem Familien- und Freundeskreis war ihr Lebenselixier geworden, ohne das sie diese Zeit nicht überstanden hätte.
Im März 2011 hatte der Krebs dann gesiegt. Ihr Mann wurde immer schwächer, die ganze Familie hatte ihn im Laufe eines Wochenendes im Krankenhaus besucht. Als hätten alle gewusst, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie ihn sahen. Es waren emotionale Szenen, die sich im Krankenzimmer abspielten und die ihn mitnahmen.
Sie kannte ihn, sie wusste es. Es waren seine Augen, die ihn verrieten. Auch wenn der Körper, in dem er steckte, nicht mehr zu ihm zu gehören schien, waren es seine Augen, die bis zum Schluss glänzten und so voller Liebe waren. Liebe zum Leben, zur Familie, zu ihr, seiner Frau. Doch als seine Mutter vor ihm hemmungslos in Tränen ausbrach und etwas davon stammelte, dass es nicht rechtens sein kann, wenn ein Kind vor seinen Eltern stirbt – war es sein flehender Blick, der erkennen ließ, dass er es nicht mehr ertragen konnte. Sanft, aber bestimmt umarmte sie ihre Schwiegermutter und schob sie zusammen mit ihrem Schwiegervater aus dem Zimmer.
An diesem Wochenende war sie von sich selbst überrascht, wie ruhig und gefasst sie die Besuche über sie beide ergehen hatte lassen. Sie war immer mit im Zimmer geblieben, genau für solche Fälle wie jenen mit seiner Mutter. Sie war diejenige gewesen, die stark geblieben war. Als sie wieder den Raum betrat, hatte sich ihr Mann gerade schwerfällig die Tränen aus dem Gesicht gewischt. Sie hatte ihn zärtlich angelächelt und sich mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedet.
Zwei Tage später war es so weit. Ihr Mann schien auf sie gewartet zu haben. Als sie sich leise zu ihm gesetzt hatte und seine Hand nahm, hatte er die Augen geöffnet und sie angelächelt. An seine letzten Worte würde sie sich bis zu ihrem eigenen Tod erinnern. „Lebe dein Leben, Süße. Aber vergiss mich nicht. Ich liebe dich.“ Dann schlief er für immer ein. 500 Tage nach der Diagnose. Er war 31 Jahre alt geworden. Die Beerdigung war kurz vor ihrem siebenten Hochzeitstag. Das Schicksal hätte das verflixte siebente Jahr nicht schlimmer enden lassen können.
Witwe mit 31 Jahren. Allein in einem Reihenhaus, das für eine vierköpfige Familie ausgelegt war. Die administrativen Angelegenheiten nach dem Tod ihres Mannes hatten ihr die Möglichkeit gegeben, ihre Trauer in Arbeit umzulegen. Die Schulden für das gemeinsame Haus konnte sie mit der Lebensversicherung ihres Mannes ausbezahlen. Sie verdiente gut, die laufenden Kosten konnte sie auch alleine aufbringen. Also musste sie nicht ausziehen.
Andere wären ausgezogen, um ein neues Leben zu beginnen. Aber so war sie nicht gestrickt. Sie verstand die Erinnerungen, die dieses Haus beherbergte, nicht als Last. Es war schön, in ein Zimmer zu gehen oder ein Bild anzusehen und sich an ihn zu erinnern. Sie wollte – nein, sie musste – sich an ihn erinnern.
Es gab Tage, an denen er so präsent war, als würde er im Nebenzimmer sitzen und fernsehen. Mit der Zeit ertappte sie sich dabei, wie sie panikartig das nächste Foto von ihm im Haus suchte, weil sie nicht mehr wusste, wie er ausgesehen hatte. Oder sich Videos ihrer Urlaube oder der Hochzeit ansah.
Bis auf drei Shirts, die sie zum Schlafen verwendete, hatte sie sich von seiner Kleidung bereits ein paar Wochen nach seinem Tod getrennt. Seinen Telefontarif hatte sie aber erst nach einem Jahr gekündigt, damit sie sich seine Stimme auf der Mailbox immer wieder anhören konnte. Bis heute – drei Jahre danach – stand die letzte Flasche seines Aftershaves im Badezimmerschränkchen, der Inhalt so gut wie verraucht. Trotzdem passierte es ab und an noch, dass sie in schlaflosen Nächten aufstand und an der Flasche roch, um sich an seinen Geruch zu erinnern.
So intensiv sie während seiner Zeit im Krankenhaus die Nähe ihrer Familie suchte, so abgekapselt lebte sie in den Wochen danach in ihrem gemeinsamen Häuschen. Sie weinte viel. So viel, dass es jeden Tag eine Herausforderung war, ihre geschwollenen Augen hinter Tonnen von Make-up und einer großen Sonnenbrille zu verstecken, wenn sie ins Büro ging.
Sie vergrub sich in Arbeit, Hausputz und Spaziergänge. Wollte mit niemandem sprechen, der ihr sein Beileid bekunden wollte. Führte Zwiegespräche an seinem Grab, das sie täglich besuchte. Ihre Familie und Freunde akzeptierten das und taten, was sie brauchte. Sie ließen sie in Ruhe und waren zur Stelle, als sie so weit war, über das Geschehene und ihr Gefühlsleben zu sprechen.
Bald wurde ihr klar, dass sie auf Dauer nicht so weitermachen konnte. Sie vernachlässigte sich selbst und lebte in der Vergangenheit. So konnte sie nicht die nächsten fünfzig oder sechzig Jahre ihres Lebens verbringen. Also nahm sie langsam wieder Kontakt zu ihrer Familie auf, die auch in dieser Zeit ihr Fels in der Brandung war.
All die Monologe, die sie in der Zeit davor an seinem Grab geführt hatte, führte sie jetzt noch einmal in Gegenwart ihrer Mutter oder ihrer Freundin. Und sie merkte, dass es ihr guttat, darüber zu sprechen. Dass es normal war, zu weinen, wenn sie an ihn dachte. Dass das Gefühl in ihr, diese allgegenwärtige Trauer, ein Teil von ihr war, den sie akzeptieren musste.
Sie strich vorsichtig mit der Spitze ihres Zeigefingers über den Rand des Rings.
Für heute hatte sie sich etwas vorgenommen. Es war der richtige Tag für sie, ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Die Seiten der letzten 34 Jahre ihres Lebens waren festgeschrieben, nicht mehr änderbar. Sie durfte es nicht zulassen, dass sie den Rest ihres Lebens immer nur zurückblickte. Sie musste auch wieder nach vorne sehen, in ihre neue, eigene Zukunft. Sich für neue Beziehungen öffnen. Vielleicht sogar noch einmal jemanden finden, mit dem sie zusammen sein wollte.
Ihre Vergangenheit war ein Teil von ihr, hatte sie geprägt, sie zu dem Menschen gemacht, der sie heute war. Aber es war Zeit, neue Wege einzuschlagen. Sie war jung und hatte ihr Leben noch vor sich. Sie musste wieder anfangen zu leben. So wie er es auch von ihr verlangt hatte.
Ruckartig stand sie auf und steckte sich den Ring wieder an den dafür vorgesehenen Finger. Automatisch fuhr ihr Daumen an die Innenseite des Ringfingers und spielte mit dem Ring. Im Vergleich zu ihrer Hochzeit hatte sie gut fünfzehn Kilo an Gewicht verloren. Der Ring saß recht locker und sie musste sich immer wieder vergewissern, dass er noch da war.
Auch ihr Mann hatte den Ehering getragen, bis er ihm im wahrsten Sinne des Wortes vom Finger fiel. Sie hatte seinen Ring seitdem als Anhänger auf einer langen Silberkette um den Hals hängen. Sie schnappte ihre Schlüssel, zog Schuhe und eine dünne Jacke an und machte sich auf den Weg.
Der Friedhof war nicht weit weg, etwa zwanzig Gehminuten. Diese Wegzeit war prädestiniert dafür, die Gedanken schweifen zu lassen. Die Zeit war die letzten drei Jahre jedes Mal wie im Flug vergangen, wenn sie diesen Weg gegangen war. So auch heute. Da stand sie nun, vor dem Grabstein ihres Mannes, der viel zu früh diese Erde verlassen hatte müssen.
Als sie auf die Grabinschrift blickte, verkrampfte sich ihr Magen und es bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Seinen Namen zu lesen und zu wissen, was sie für sich entschieden hatte, ließ in ihr wieder das Gefühl hochkommen, ihn zu betrügen. Zu vergessen. Das Versprechen nicht mehr zu halten, das sie ihm am Sterbebett gegeben hatte.
Ihr Kopf wusste, dass es kein Betrug war. Ihr Herz wollte es noch immer nicht wahrhaben. Stumm liefen Tränen über ihre Wangen. Sie hatte es bereits zwei Mal versucht. Letztes Jahr zu seinem Geburtstag Ende August, und dann noch einmal zu Weihnachten. Sie hatte es nicht geschafft. Aber heute musste sie es hinbekommen.
Liebe ist das Einzige, das bleibt, wenn wir gehen. Zärtlich zog sie die Konturen der einzelnen Zeichen dieses Satzes, der auf dem Grabstein stand, nach. Es stimmte. Die Liebe war noch immer da. Bei ihr, ihren Familien, ihren Freunden. Solange die Liebe und die Erinnerung zu ihm da war, war er nicht vergessen.
Sie räusperte sich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann blickte sie auf ihre rechte Hand. Es war so weit. Zaghaft zog sie den Ehering von ihrem Ringfinger und hielt ihn ein paar Zentimeter über den Grabstein. Ihre Hand zitterte. Für einen Moment hielt sie inne und erinnerte sich wieder an ihren verstorbenen Mann.
Sie schloss die Augen und dachte an ihr Kennenlernen, Urlaube, Zärtlichkeiten, Küsse. Es war keine Trauer mehr, die sie überkam. Es war Wehmut. Erinnerungen an Erlebnisse, die ihr niemand nehmen konnte. Mit einer Person, die sie immer lieben und nie vergessen würde. Sie ließ den Ring mit einem leichten Lächeln fallen und ging.
Klack.
Petra Hechenberger
www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16016
Spaces
(inspired by One Direction’s Song)
Lustlos stocherte ich in meinem Abendessen herum. Heute war einer jener Tage, an denen ich kaum Appetit hatte. Meine Gemütslage schlug mir wieder einmal auf den Magen. Ich seufzte und trank einen Schluck Wasser. Währenddessen blickte ich auf mein Gegenüber.
Sein Appetit war vollkommen in Ordnung. Abwesend nahm er einen Bissen nach dem anderen, während er in einer Zeitschrift las. Er schien mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Das konnte ich von mir selbst nicht behaupten.
Ich saß mit ihm an einem Tisch. Lebte mit ihm in einer gemeinsamen Wohnung. Und doch war ich allein. Es war, als ob ein Gebirge mittleren Ausmaßes auf meiner Brust läge. Ich beobachtete ihn weiter. „Wie war dein Tag?“, versuchte ich, eine Konversation zu beginnen.
Er zuckte kurz mit den Schultern. „So wie immer“, war seine lapidare Antwort. Toll. Genervt schmiss ich das Besteck auf meinen Teller. Das Geräusch war so laut, dass er überrascht aufblickte. „Alles OK?“, fragte er. Doch mir schien, dass es eher nur eine Floskel als echtes Interesse an meinem Befinden war.
Das ging schon länger so. Ich weiß nicht mehr, wann es angefangen hatte. Wir waren schon so lange zusammen, hatten über die all die Jahre unsere kleinen Rituale gehabt. Einen Kuss morgens, wenn wir aus dem Haus gingen. Einen Kuss abends, wenn wir wieder heimkamen. Einen Gute-Nacht-Kuss vor dem Einschlafen.
Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, wann ich den letzten Kuss von ihm bekommen hatte. Das machte mich traurig. Aber es machte mich auch wütend. Wütend auf ihn. Wütend auf mich. Warum hatten wir damit aufgehört? Wer hatte damit aufgehört? Wer war schuld?
„Natürlich. So wie immer“, äffte ich seine vorhergehende Antwort nach. Dann stand ich auf und brachte meinen Teller zurück in die Küche. Eine kleine Kartoffel schaffte es in meinen Mund, den Rest des Essens schmiss ich in den Mülleimer.
Ich lehnte mich gegen die Spüle und sah hinüber ins Esszimmer. Er saß ruhig auf der Bank und schluckte den letzten Bissen hinunter. Er schien vertieft einen Artikel zu lesen. Wie vermutet. Nur eine Floskel, kein echtes Interesse. Sonst hätte er weiter nachgehakt. So wie früher.
So nah, wie wir uns waren, als wir noch unsere kleinen Rituale hatten – so weit entfernt schienen wir momentan nebeneinander zu leben. Nebeneinander, nicht miteinander.
Natürlich liebte ich ihn. Ich empfand etwas, das ich in meiner Definition als Liebe verstand. Nicht so wie ich meine Eltern, meine Geschwister, Freunde oder ein Haustier liebte. Sondern so, wie man einen Partner liebt. Einen Partner, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen möchte.
In Augenblicken wie diesen stellte ich aber dieses Gefühl in Frage. War es wirklich Liebe? Oder war es Gewohnheit? War es eine Tatsache, dass Liebe irgendwann zur Gewohnheit wurde? War das die Art Beziehung, die ich für den Rest meines Lebens führen wollte? Wieder zog sich mein Herz zusammen. Nein, wollte ich nicht.
Da war er plötzlich: ein Gedanke, ein kleiner Funke. Mir stiegen Tränen in die Augen. So weit war ich gekommen. Ich dachte daran, die Beziehung zu beenden. Und im selben Augenblick wollte ich sie retten.
Es gab diese beiden Optionen. Hier zu bleiben und daran zu arbeiten – wenn auch er es wollte. Oder dieses Kapitel meines Lebens zu beenden und zu gehen. Ich räusperte mich und blinzelte die Tränen aus meinen Augen, als ich merkte, dass er aufgestanden war und in die Küche kam.
„Gut war’s, wie immer“, sagte er freundlich und stellte sein Geschirr in die Spüle. Im Vorbeigehen strich er mir kurz über die Schulter und ging dann weiter ins Wohnzimmer. Ich starrte auf seinen Teller. Wieder so eine Szene. Es gab Zeiten, da hätte er sofort gemerkt, wenn es mir nicht gut ging. Hätte mich in den Arm genommen und mit mir gekuschelt. Vorbei.
In meinem Inneren kämpften Wut, Ärger und Verletztheit gegeneinander an. Und doch versuchte ich, weiterhin klar zu denken. Ich musste ihn darauf ansprechen. So lange ich mit meinen Dämonen im Geiste kämpfte, hatte er keine Möglichkeit, sich zu verteidigen bzw. seine Sicht der Dinge zu erklären.
Ich ging langsam Richtung Wohnzimmer. Die Tür war angelehnt, und durch das Milchglas konnte ich den Fernseher flimmern sehen. Vermutlich saß er mit dem Laptop auf der Couch und surfte im Internet, während im Fernsehen eine der üblichen Serien lief.
Drei. Zwei. Eins. Ich öffnete die Tür und – 100 Punkte. Es war alles so vorhersehbar. Jeden Tag. Ich setzte mich neben ihn auf die Couch und sah auf den Laptop. Irgendein Online-Shopping-Portal für technisches Equipment. Das war sein Faible. Stundenlang konnte er sich mit der Suche nach dem günstigsten Angebot beschäftigen. Und alles rund um ihn vergessen. Auch mich.
Mein Blick wanderte vom Laptop zu seinem Gesicht. Wenn er konzentriert war, biss er sich immer auf die Unterlippe. Ich musste kurz lächeln. Diese Eigenheit hatte ich immer liebenswert gefunden. Auch heute noch. Vorsichtig stupste ich ihn mit einem Zeigefinger an seiner Schulter an.
„Können wir reden?“, fragte ich leise. Etwas widerwillig drehte er seinen Kopf in meine Richtung und sah mich an. „Hmm“, murmelte er – wie mir schien – leicht genervt. Tief einatmen. Nichts falsch interpretieren. Das könnte auch nach hinten losgehen.
„Ich bin nicht… Ich will nicht…“, fing ich an, wusste aber nicht weiter. Alle möglichen Gedanken flogen durch meinen Kopf. So viel, was ich sagen wollte – oder aber auch besser für mich behalten sollte. Ich wusste nicht, wo ich die Grenze ziehen sollte.
Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen. „Was bist oder willst du nicht?“, fragte er nach. Offensichtlich hatte ich sein Interesse an diesem Gespräch geweckt. Immerhin. Ich räusperte mich und fuhr mir nervös durch die Haare. „Bist du glücklich?“, fragte ich geradeheraus und sah ihm in die Augen.
„Klar“, entgegnete er. Kurz und einfach formuliert. Wahrlich eine rhetorische Meisterleistung. Und so tiefgründig. Ich spürte, wie die Wut in mir die Oberhand gewann. „Schön. Es macht dich also glücklich, jeden Tag etwas zu essen auf dem Tisch stehen zu haben wenn du heimkommst. Es dir auf der Couch mit dem Laptop bequem zu machen. Kurz nach elf Uhr todmüde ins Bett zu fallen, auch am Wochenende. Das sind ja echt hochtrabende Ansprüche, die du hast. Und so abwechslungsreich!“ Meine Antwort triefte nur so vor Sarkasmus.
Ergeben klappte er den Laptop zu und stellte ihn auf den Couchtisch. „Heute sind wir ja wieder mal sehr gut gelaunt…“, murmelte er, bevor er sich leicht zu mir drehte und mich ansah. „Fein! Es fällt dir auf! Das freut mich aber! Ich dachte schon, du registrierst mich gar nicht mehr!“, rief ich. Ich war aufgewühlt. Merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss und mein Gesicht erhitzte.
„Was soll das? Natürlich registriere ich dich!“, sagte er beleidigt. „Dann rede mit mir! Erzähl mir, wie dein Tag war! Was du erlebt hast! Was in deinem Leben vorgeht!“ Ich sprang auf und ging im Wohnzimmer hin und her. Wie ein Tiger, der nervös in seinem Gehege umherstreift. Immer wieder blickte ich ihn aus den Augenwinkeln an. Und merkte, dass er leicht den Kopf schüttelte. Er verstand mich nicht.
Ich blieb stehen und atmete durch. „Ich erzähle dir jetzt, wie es mir geht, in Ordnung? Falls es dich interessiert…“, sagte ich wieder etwas ruhiger. Er sah mich an, seinen Blick konnte ich nicht deuten. „Nur zu“, antwortete er und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
Unterbewusst registrierte ich diese abwehrende Körpersprache. Meine Reaktion darauf war ein emotionaler Ausbruch. „ICH bin nicht glücklich! ICH will so nicht weitermachen! ICH will, dass sich etwas ändert!“ Meine Stimme brach ab. Ich zitterte.
Er sah mich aufmerksam an. Blieb ganz ruhig. „Du willst so nicht weitermachen…“, wiederholte er eine meiner Aussagen. Sie dürfte ihn wachgerüttelt haben. Ich stellte mich vor ihn hin, mittlerweile liefen Tränen über mein Gesicht. „ICH… vermisse dich!“, schluchzte ich und fing an zu weinen.
Sanft zog er mich zu sich auf die Couch und nahm mich in den Arm. So wie früher. Ich krallte mich mit meiner ganzen Kraft an ihm fest und verbarg mein Gesicht in seiner Brust.
Plötzlich war sie wieder da. Diese Nähe, die ich so sehr vermisst hatte. Den Kontakt, die Wärme, die Streicheleinheiten. Er küsste meine Stirn und hielt mich weiter fest. Langsam beruhigte ich mich wieder und lockerte meine Umarmung.
Als er das merkte, löste er sich vorsichtig und nahm mein Gesicht in beide Hände. „Was kann ich tun?“, fragte er leise und sah mich an. „Mich beachten. Mich nicht als selbstverständlich ansehen. Mich in dein Leben einbeziehen. So wie früher“, flüsterte ich.
Er nickte leicht. Irgendetwas in seinem Blick irritierte mich. „Und was kannst du tun?“, fragte er weiter. Mein Atem setzte kurz aus. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. War ich etwa schuld? Hatte ich es so weit kommen lassen?
Ich setzte mich aufrecht hin und wich leicht zurück. Er ließ seine Hände sinken und sah mich erwartungsvoll an. „Wenn es so ist, wie es jetzt ist, und es dir nicht gefällt, bin ich nicht allein dafür verantwortlich“, erklärte er mit ruhiger Stimme. „Ich komme offensichtlich nur besser damit zurecht, weil ich diese Art von Ansprüchen nicht habe. Nicht so wie du“, sprach er weiter. Nach wie vor fixierte er mich mit seinem Blick.
Seine Aussagen machten mir Angst. „Würdest du den Rest deines Lebens so weiterleben wollen?“, fragte ich ungläubig. Er zuckte mit den Schultern. „Für mich ist es gut so, wie es ist. Ich liebe dich, und ich denke, dass weißt du auch. Aber soll ich dir nach zehn Jahren immer noch Blumen bringen und mit dir ausgehen? Ich finde, aus dem Alter und dieser Art von Beziehung sind wir draußen.“ Seine Stimme klang liebevoll, aber seine Worte waren kalt.
Er würde so weitermachen. Jeden Tag, einfach so weitermachen. Ihm gefiel es, er war zufrieden. Ich kannte mich nicht mehr aus. „Warum fragst du mich dann, was ich tun kann? Hätte ich überhaupt eine Möglichkeit, irgendetwas zu beeinflussen? Wenn für dich sowieso alles passt, so wie es ist?“ Seine Erklärungen waren für mich widersprüchlich.
Jetzt war er es, der aufstand und durch den Raum wanderte. Er blieb vor dem Bücherregal stehen und las die Buchrücken, die auf seiner Augenhöhe standen. Ich sah ihm nach und wartete auf eine Antwort. Eine Reaktion. Irgendetwas. Eine kleine Ewigkeit saß ich auf der Couch, während er in Ruhe die Büchertitel zu lesen schien.
„Du kannst gerne etwas tun. Etwas anders tun. Dich verändern. Ich habe mich für dich entschieden, egal, wie du dich veränderst. Wenn du dich veränderst. Dasselbe wünsche ich mir von dir. Ganz einfach“, erklärte er. Ohne mich dabei anzusehen.
Ganz einfach. So einfach war das aber nicht. Ich lehnte mich zurück und starrte an die Zimmerdecke. Natürlich akzeptierte ich ihn so, wie er war. Ich wollte ihn nicht verändern. Oder etwa doch? War es so egoistisch, mehr Beachtung in der Beziehung zu verlangen? Was sollte ich jetzt mit seiner Aussage anfangen? Ich bemerkte, dass er sich wieder zu mir drehte. „Ich geh schlafen. Gute Nacht. Hab dich lieb“, beendete er unser Gespräch und verließ das Zimmer.
Perplex blieb ich zurück. Ich konnte mich verändern, und er würde mich weiter lieben. Aber er würde sich nicht verändern, und das musste ich akzeptieren. Er kam mir nicht entgegen. War nicht der Meinung, dass er einen kleinen Kompromiss eingehen könnte. Was hatte ich davon, mit einem Menschen zusammenzuleben, der mich liebte – aber mit dem ich nicht glücklich war?
Wieder poppte ein Gedanke auf: Du liebst ihn auch. Aber plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich noch Liebe war. Von draußen hörte ich Geplätscher aus dem Badezimmer und seine Schritte, als er ins Schlafzimmer ging. Er machte so weiter wie immer. Weil es für ihn so in Ordnung war, wie es jetzt war.
Stumm flossen wieder Tränen über mein Gesicht, und ich schloss die Augen. Mein Herz war noch schwerer geworden an diesem Abend. So hatte ich mir den Verlauf des Gesprächs wirklich nicht vorgestellt. Ich presste die Lippen zusammen und versuchte krampfhaft, nicht laut aufzuschluchzen. Das sollte er nicht hören.
Ich wartete ein paar Minuten und ging dann leise ins Badezimmer, um meinen Pyjama anzuziehen und die Zähne zu putzen. Als ich fertig war und ins Schlafzimmer ging, um mich auf meine Seite des Bettes zu legen, traf mich die Ernüchterung wie ein Schlag auf den Kopf. ICH wollte so nicht weitermachen.
Er lag mit dem Rücken zu mir gedreht, und schlief. Er schlief tief und fest. Wie an jedem anderen Tag. Als ob auch die Unterhaltung von vorhin nur ein weiterer Smalltalk von vielen gewesen war. Aufmerksam lauschte ich seinen gleichmäßigen Atemzügen.
Für einen Augenblick beneidete ich ihn. Dafür, dass es für ihn so einfach war. Dafür, dass es nicht an ihm nagte. Dafür, dass es ihm nicht den Schlaf raubte. Aber ich wollte diesen einfachen Weg nicht gehen. Auch wenn es hieß, eine schwere Entscheidung zu treffen. Wobei… Vielleicht hatte ich die Entscheidung schon längst getroffen. Das heutige Gespräch hatte es möglicherweise nur offensichtlich gemacht.
Da lag ich nun, Seite an Seite mit einem Mann, mit dem ich die letzten zehn Jahre meines Lebens verbracht hatte. Der mir oft so nah gewesen war wie kein anderer Mensch in meinem Leben. So nah, dass es weh getan hatte, wenn er nicht da war.
Jetzt tat es auch weh. Doch jetzt war der Grund der, dass wir uns im selben Raum befanden und ich trotzdem das Gefühl hatte, dass er nicht da war. Diese Tatsache schmerzte. Sie schmerzte unendlich. Die Erkenntnis, dass diese Beziehung vielleicht keine Zukunft mehr hatte, zerriss mir das Herz. Aber ich wollte es noch einmal versuchen. Das war ich uns beiden schuldig.
Petra Hechenberger
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