Ende geplant
Ullrich von Halen war ein großer, schwerer Mann. Sein mächtiger Körper war mit dichten, kleinen Inseln schwarzen Haares überzogen. Ein bärenhafter Mann. Doch war an ihm nichts Schwerfälliges. Er bewegte sich leicht, fast tänzerisch schob er seine 130 Kilo durch den Raum.
Eben traf er Vorbereitungen, mit Ernst und größter Sorgfalt, denn er wusste: Es musste beim ersten Mal funktionieren – es gab kein zweites Mal.
Er fand es spannend, mit einem einzigen Versuch alles entscheiden zu müssen. Er plante schon eine Weile, experimentierte. Ein halbes Jahr war er nun trocken. Keinen Tropfen, damit nicht gesagt wurde, was nicht gesagt werden durfte. Alles auf eine Karte, mit dem geringstmöglichen Einsatz der größtmögliche Gewinn, das war es – wie immer.
Ein Risiko, ein prachtvolles Risiko.
Es war ungeklärt, was Ellen allen Freunden, Bekannten und weniger Bekannten erzählt hatte. So fragte er sich wieder einmal, ob Ellen eine gescheite Frau war. Unter anderen Umständen hätte er sich diese Frage nie gestellt, aber jetzt hing viel von der Antwort ab. Ellen, mit ihren großen, gelbgrünen Augen, ihren dünnen, blonden Federn von Haaren. Ellen, die immer Makellose, immer nach der letzten Mode Gekleidete. Nie ein Gramm zu viel und nicht einmal in der Lage, eine Eierspeise zu kochen. Ellen, klein und zierlich, hatte Hilflosigkeit zur Kunst erhoben. Hilflosigkeit und Perfektion, das war sie. Sie hasste es, wenn ein Haar nicht an seinem Platz lag. Wenn das Kleid nicht millimetergenau die richtige Rocklänge hatte, der Brillant vom Finger rutschte, und wenn andere ihre schwer erschlichenen Reichtümer, Häuser, Autos herumzeigten. Aber selbst tat sie nichts lieber.
Die Beschaffenheit von Intelligenz ist etwas sehr Wundersames, dachte er. Ganz objektiv betrachtet, hielt er seine Frau für geistlos und hohlköpfig. Sie hatte keine Spur von Fantasie und keine Spur von Logik oder Konstruktivität, das war gewiss – er musste es wissen, er war seit sechzehn Jahren mit ihr verheiratet. Dennoch wusste sie sehr genau, was zu einem Leben in Wohlstand führt, wo es zu finden war. Dort hing sie dann fest, wie ein Pilotenfisch. Jedes Mittel war ihr recht, um zu behalten, was sie einmal besaß. Sie war nicht wählerisch, und sie wusste immer, welche Mittel einzusetzen waren – Hilflosigkeit und Perfektion. Gott, wie fade!
Sie wählte damals das richtige Mittel, als wieder einmal eine andere Frau ein bisschen Heiterkeit, ein wenig Lebenslust in seine Tage brachte. Die nette, runde Sylvia – so ganz anders. Ellen hatte sich gequält, Angst und Hass verteilt. Sie, die Makellose, hatte Sylvia aufs Ordinärste mitten in der Nacht übers Telefon beschimpft. Sylvia sie natürlich auch – aber das war zu erwarten. Üppig, ordinär und voller Leben, so wollte er es, und so war Sylvia.
Aber niemals seine Gattin. Doch in der Not war sie zu allem bereit. Und dann war seine liebe Gattin plötzlich schwanger, nachdem jahrelang davon die Rede gewesen war, dass sie zu schwach zum Kinderkriegen sei. Eine zarte Wölbung unter dem Designerkleid war seine Tochter, und sie saß in Ellens Bauch, gerade, als er wieder einmal das Weite suchen wollte. Seine reizende, kleine, hilflose Tochter mit den großen, grünen Augen und den blonden Federn, genau wie seine geliebte Schwester.
Vom Moment der Schwangerschaft an hatte sie sein Kind als Hebel benutzt, und alle Bekannten und Verwandten dazu. Wie gesagt, Ellen war sorgfältig, kultivierte Hilflosigkeit und verstand es, sich Hilfe zu holen, auch gegen ihn. Aber sie hing an ihm, weil sie Autos, Häuser, Brillanten als lebensnotwendig ansah. Ihre Art von Liebe? Sie war ihm ergeben, unbedingt verlässlich ergeben, weil sie keinen anderen Gedanken im Kopf hatte, außer diesen seltsamen Pilotenfischinstinkten. Er war ihr Hai.
Genauso wie sie alle Leute veranlasste, sich für sie zu bemühen, wenn er wieder einmal fremd unterwegs war, hatte sie auch jetzt mobil gemacht, seit sie den Verdacht hatte, dass er sie umbringen wollte. Aber verlassen würde sie ihn nie. Nein! Bis zum bitteren Ende festgesaugt. Wie sollte sie auch ihrer Schwester gegenübertreten, wie sollte sie ihr sagen, dass sie ihren Mann los war? Ellen ohne Standard, ohne Position? Kein Leben für Ellen. Eigentlich hatte alles an ihm seine Bedeutung, nur er selbst nicht. Und das verlässlich, weil sie absolut zu nichts anderem fähig war.
Alles wäre nett und einfach, könnte er seine Frau zu einer Bergtour überreden – ein kleiner Unfall und alles wäre okay. Die Idee, dass seine gepflegte, stöckelbeschuhte Ellen eine Bergtour machte, hätte die gesammelte Verwandtschaft augenblicklich zur Polizei laufen lassen, nach derzeitigem Stand der Dinge. Die Berge fielen also aus.
War das herrlich, vergangene Weihnachten! Zu Hause sehr trocken, das Designerchristkind für Anette, grausliches Essen von irgendeinem Superluxusladen. Fürs Album mit dem Bärchen spielen. Aber am Tag danach gab’s „wichtige Geschäfte“, und er und Sylvia waren auf einer Hütte. Bis zwei Uhr Früh Glühwein, ein fetter Hintern im Schnee, soviel er sich dunkel entsinnen konnte, war’s heiß und kalt gleichzeitig. Leben floss gemischt mit Glühwein durch seine Adern.
Also Ellen und Berge konnte er streichen. Dennoch war ein „Unfall“ das Richtige. Risiko war immer dabei. Man kann nicht gewinnen, ohne zu riskieren. Er war immer schon ein Spieler und blieb ein Spieler, aber mit vernünftigem Risiko. Unfälle gab es immer einmal – auch unter verdächtigen Umständen.
Es bot sich da noch etwas an. Beide konnten durch einen seltsamen Zufall nicht schwimmen. Eine Bootsfahrt war auch mit Stöckelschuhen zu machen. Auf einem möglichst großen See ließ sich alles arrangieren. Nur mit ins Tiefe fuhr sie nie freiwillig, da konnte er sicher sein. Sie würde mitfahren, aber nur am Rand, und das konnte er nicht brauchen. Vielleicht konnte er sie mit einem Schwimmreifen überreden?
Ullrich versuchte gerade, eine heiße Zange in das Mundstück eines Schwimmreifens zu bohren. In dem Augenblick, wo er sie zu etwas überreden musste, war ihm ihr Misstrauen sicher, und sie würde ablehnen. Also hatte er ein leichtes Betäubungsmittel besorgt. Das war gar nicht einfach. Er verbrachte geraume Zeit damit, eine Quelle für Betäubungsmittel aufzustöbern ohne Arzt und Apotheke. Er war inzwischen ein begabter Giftmischer mit einer Reihe von Selbstversuchen. Sogar mit Fliegenpilz hatte er es probiert. Aber wie bitte sollte er Ellen einen Fliegenpilz verfüttern? Es wäre sicher weniger verdächtig, sie besoffen zu machen. Das Dumme war nur: Sie trank nie. Und dann hatte ihm ein Zufall geholfen. Ein mageres, sechzehnjähriges Bürschchen mit blauen Ringen unter den Augen. Gott, welche Erbärmlichkeit … Wenn er an sein kleines Mädchen dachte, wurde ihm übel. Wenn die ganze Sache einige Zeit vorüber war, würde er etwas unternehmen – eine Anzeige, oder vielleicht selbst Ordnung schaffen? In seinem Besitz war nun ein Päckchen mit weißem Pulver. Er hatte es ausprobiert. So hatte er etwas für Ellens Sonntagssuppe.
Beide saßen im Boot. Ellen hatte den roten Schwimmreifen um, und einen sehr seltsamen Blick, sonst hätte sie den Schwimmreifen nie angezogen – kein Designerstück, aber glaubhaft. Sie würde nicht ohne Sicherheit mit ihm aufs Wasser fahren. Er war mit dem Pulver sehr sparsam gewesen. Hoffentlich ließ die Wirkung bald nach. Er hatte zwar vier Stunden eingerechnet, aber seine angelesenen Informationen waren zu oberflächlich, seine Selbstversuche auch wegen der Kilos nicht verlässlich – er hatte 130, sie 46. Wie unzureichend Buchwissen war, merkte er erst jetzt, bei ansteigendem Stress.
Das Boot bewegte sich langsam über die Wasserfläche.
Ein stiller Wochentag.
Das Wasser gekräuselt und eher grau.
Ihm wurde übel bei dem Gedanken, was jetzt geschehen würde. Dann bereitete ihm das Abenteuer vor allem in Hinblick auf Ellen aber auch prickelnde Vorfreude.
Sie lag mehr, als sie saß, ihm gegenüber mit stierem Blick. Das allein schon war Genuss pur. Für den Zustand hätte er mindestens einen halben Liter in sie hineinbringen müssen, was war das doch praktisch mit den kleinen Päckchen!
Eigentlich, wenn er so zurückdachte, war das Schwierigste die Bearbeitung des Schwimmreifens. Er war bereits so verärgert gewesen, dass er ohne Schwimmreifen beginnen wollte. Aber mit Schwimmreifen war es sorgfältiger. Er hatte den Stöpsel im Backrohr erhitzt, das Mundstück in Salzlösung gelegt. Die wussten gar nicht, was für haltbare Sachen sie erzeugten! Er konnte nur Mittel verwenden, die keinen Sichtbaren ungewöhnlichen Schaden entstehen ließen. Dann fand er in einem der vielen Geschäfte einen kleineren Stöpsel. Wenn Druck auf den Reifen kam, ging die Luft aus. Genau das war’s!
Langsam, langsam zog Ellens Rausch ab.
„Fahren wir zurück“, murmelte sie schläfrig.
Dann plötzlich setzte sie sich auf. Sie versuchte, ihren Blick zu ordnen, der Atem ging schnell. „Ich will zurück, wir müssen das Kind holen“, sagte sie mit etwas höherer, hektischer Stimme. Natürlich, schon wieder das Kind vorschieben. Nicht Ellen hatte Angst. Nein, man musste das Kind holen.
„Wir sind mitten auf dem Wasser“, sagte sie ruhig aber panisch mit leichtem Zungenschlag. Er wusste genau, sie würde nicht schreien. Er stieß sie nicht. Er zog ihr die Stöckelschuhe aus und ließ sie langsam zu Wasser, obwohl sie sich anklammern wollte. „Du hast ja einen Schwimmreifen“, murmelte er, und sorgte dafür, dass sie sich nicht anklammern konnte. Das Boot trieb ein wenig ab, und sie hing erschöpft im Wasser. Er schaute über die Wasserfläche – er konnte jetzt keine Helfer brauchen. Ein Segelboot, ein Motorboot, aber alle weit weg. Er hörte fast das leise Zischen des Reifens. Er sah interessiert ihr Erschrecken. Sie hatte wohl noch Hoffnung gehabt, jetzt war die vorbei.
„Die Luft geht aus“, sagte sie schwach.
„Das hat mich auch genug Mühe gekostet. Du hast ja keine Ahnung, wie schwer das Material zu bearbeiten ist. Salzwasser, heiße Zangen und was weiß ich. Aber die Leute werden sagen, du hattest extra einen Schwimmreifen – zum Üben.“
„Ich hab’s gewusst, ich hab’s die ganze Zeit gewusst“, sagte sie verbissen und mit Tränen in den Augen, „wegen dieser albernen, fetten Nutte willst du mich los sein – die Mutter deines Kindes!“
„Lass endlich meine Tochter raus. DU kriegst keine Luft.“
Er musste sie widerwillig bewundern. Er hatte immer gewusst, dass seine Ellen ein „Steher“ war – so viel Verbissenheit und kein hysterischer Ausbruch.
„Und was wird mit Anette?“, versuchte sie’s ein letztes Mal.
„Oh, der wird’s gut gehen, wenn sie nicht mehr dauernd als Druckmittel eingesetzt wird. Ein nettes Kindermädchen und Mama werden kommen, und meine Schwester sowieso.“
Er musste leider warten, bis sie ganz untergegangen war. Sie stand senkrecht im Wasser. Er konnte ihre geballten Fäuste sehen. Ihre Tränen tropften ins Wasser, aber sie sagte kein Wort mehr.
Ein Motor brummte näher. Er manövrierte das Boot an sie heran. Sie hielt praktisch nur mehr die Nase an die Luft. Das Geräusch kam schnell näher. Hoffentlich hatte sie schon mit dem Schicksal abgeschlossen. Er überlegte, ob sie unter Wasser hören konnte. zwanzig oder dreißig Sekunden. Das Boot zog vorüber. Ein Pärchen merkte gar nichts. Seine Gänsehaut glättete sich, die Haare legten sich wieder an. Das Boot war nun schon weit entfernt.
Dann zog er sie an den Haaren aus dem Wasser. Das Pärchen war im Dunst verschwunden.
Er drehte das Boot zum Ufer, und sie fuhren.
Gott, sie schaut aus wie eine nasse Ratte, dachte er. Der Spieler hat gewonnen. Aber wenn das Boot näher gekommen wäre, wenn die beiden sich eingemischt hätten, hätte er seinen letzten Sou verspielt. Er fragte sich, ob ein Motorboot für die Aktion nicht gescheiter gewesen wäre. Er wog das Für und Wider ab. Ellen rang noch immer nach Luft. Sie war erschöpft, aber nicht von der Rolle.
„Aber…“, sagte sie mit schwacher Stimme.
Er sah sie voll an: „Du siehst nun ein: Ich werde dich nicht umbringen. Auch wenn ich öfter das Bedürfnis danach habe.“
Er drehte sich weg und wusste es genau – Ellen suchte den Spiegel, um sich wieder perfekt herzurichten.
Sanne Prag
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