Droben auf dem Kamm, da stehen sie. Aufgefädelt wie auf einer Kette, von Bergkuppe zu Bergkuppe sich schwingend, von Nord nach Süd sich kontinuierlich ausbreitend. Sie glitzern im Sonnenlicht und sagen: Wir sind da. Vor zwölf oder fünfzehn Jahren wurden die ersten von ihnen gesichtet. Damals wohnten wir noch in der Stadt, mein Mann und ich, wir kamen gelegentlich auf ein paar Tage bei den Eltern und Schwiegereltern vorbei und zogen wieder von dannen. Eines Sommers erblickten wir drei Exemplare, hohe schlanke Stelen mit gleichförmig rotierenden Flügeln.
Klein und niedlich sahen sie aus, in der Ferne. Hinter der Rundung eines Hügels schwebten sie über dem engen Tal. Man hätte meinen können, es bräuchte lediglich einen kleinen Spaziergang hügelaufwärts, und schon würde man Aug in Aug einem Windrad gegenüberstehen. Was für eine Illusion! Natürlich wussten wir, dass die Dinger in Wahrheit riesengroß, der Aufstieg durch Täler, Schluchten, steile Hänge hinan, lang und beschwerlich, kurz gesagt, dass alles ganz anders war, als es uns der Augenschein vermittelte. Wie aufregend! Dies waren die ersten Windräder, die man in dieser Gegend leibhaftig zu Gesicht bekam. Zwischen zwei beschaulichen Tälern hatte man sie platziert, auf dem Zug eines Mittelgebirges, sozusagen genau auf des Berges Schneide. Damals fand ich das eine gute Sache. Dort in der Höhe, weit weg, da störten sie niemanden. Wir brauchen die Windkraft, den ökologischen Strom. So weit alles gut.
Nun steht die Zeit freilich nicht still, auch nicht für Windräder. Erst recht nicht für die Windräder! Sie müssen wachsen, sich vermehren, und so sind zu den ersten drei Setzlingen immer weitere hinzugekommen, Stück für Stück. Sie haben sich ausgedehnt droben auf dem Kamm, wo vorher nichts war außer Friede und Wald. Für den Bau der gewaltigen Türme mussten neue Straßen angelegt werden, Bagger fraßen sich durch den Waldboden. Nachdem sie den jeweiligen Bauabschnitt gründlich planiert und plattgewalzt hatten, folgten die nächsten Konvois an schweren Maschinen: Sattelschlepper, um die Ringsegmente der Türme bergan zu karren, große Baukräne, um dieselben zu montieren und so weiter. Züge von Lastwägen quälten sich durch die kleinen Siedlungen im Tal, kletterten die frischgegrabenen Serpentinen hoch, und der Windpark wuchs … Auf einer Luftaufnahme habe ich eines Tages gesehen, dass mittlerweile eine regelrechte Autobahn über den Gebirgskamm verläuft, Windrad um Windrad verbindend, zig Kilometer lang. Ein Ende des Ausbaus nicht abzusehen, das ist das Problem, die hören einfach nicht mehr auf damit.
Und noch etwas hat sich verändert, etwas Wesentliches: Wir nämlich leben inzwischen wieder in unserer alten Heimat. Vor einigen Jahren sind wir zurückgezogen aufs Land, dorthin, wo wir herkommen. Wir haben jetzt unseren Wohnsitz genommen in dem größeren der beiden Täler. Seitdem ist der Wald gar nicht mehr so weit weg von uns, deshalb ist es auch nicht mehr gleichgültig, wie es in ihm aussieht. Wir nehmen wieder Teil an der Natur, seit wir zurück sind aus der Stadt. Das war uns ein Herzensanliegen – wir haben ja als Kinder viel Zeit verbracht im Wald! Jeder für sich, damals noch, jeder auf seiner eigenen Seite des Berges, denn kennengelernt haben wir uns erst etwas später. Aber in den Wald gegangen, das sind wir beide sehr gerne:
Mein Mann, der Naturbursch,
das Naturmensch, das bin ich.
Er geht zum Pilzesuchen, ich bevorzuge das Wandern.
Als ich wieder zurückgekommen bin in die alte Heimat, nahm ich die Wiederentdeckung meiner Kindheit in Angriff. Es war im ersten Frühjahr der Pandemie, als es Zeit gab und Muße im Überfluss. Genauer gesagt, fing ich damit schon im Winter an. Mit den Stöcken bewaffnet, begann ich im Tal auf vergleichsweise bequemen Strecken. Als der Schnee verschwand, zog ich meine Bahnen in die Höhe, die Hänge werden bei uns schnell einmal recht steil. Mit Genugtuung konstatierte ich, dass sich meine physische Kondition, einigermaßen, dem Gelände anpasste, so dass meine Touren immer ausgedehnter wurden und die Ausgänge länger. Ich tauchte ein in die Stille des Waldes. Von alten, bekannten Plätzen drang ich zu neuen vor, ließ mich treiben und vorwärtsziehen von der wachsenden Neugierde. Jede Wegbiegung das Versprechen auf eine neue Entdeckung. Das Schauspiel der wechselnden Landschaften, Hochwälder, Jungwälder und Brombeerschläge, Wiesen und Sumpf. Der Wandel der Vegetation im Jahreslauf. Immer weiter zog es mich. Nur nach ganz oben – dorthin wollte ich nicht! Droben auf dem Kamm, das wusste ich ja, da verläuft nun diese Autobahn, von Windrad zu Windrad walzt sie sich und sie ist gekommen, um zu bleiben. Für die Wartung der Anlagen wird die Straße gebraucht, da wächst nichts mehr zu, darf die Natur nicht mehr gnädig ihren Mantel über die aufgerissenen Wunden breiten. Die stille Magie des Waldes ist verschwunden, ganz oben.
Also suchte ich mir meine Wanderwege in den mittleren Lagen, wo es noch ruhig ist, der Lärm der Welt schweigt. Nur selten kreuzten andere Wanderer meinen Weg. Im Rucksack hatte ich stets eine zusammengerollte Decke dabei, und wenn es mir an einem lauschigen Plätzchen gefiel, so blieb ich für eine Weile. Einmal legte ich Halt ein auf einem stillgelegten Forstweg, es duftete nach Nadelgehölz und Sommer. Ich breitete das Plaid und mich selbst in der Sonne aus. Nach einer Weile hob aus dem Gebüsch ein Konzert an, ein fröhliches Zwitschern und Tirilieren. Es dauerte ein wenig, bis ich begriff. Der dichte Niederwuchs am Wegrand, er beherbergte Piepmätze in Scharen. Kurz waren sie verstummt, meinetwegen. Hatten indes offenbar beschlossen, dass von mir keine Gefahr ausging, und sie setzten ihr munteres Treiben fort. Was für ein herrlicher Sommertag, eingebettet in Wärme und Licht und Vogelsang …
Die Vögel
ohne uns Menschen
wären sie besser dran …
Im diesem Sommer sind weitere Windanlagen hinzugekommen. Der Windpark schreitet voran. Dort, wo wir sie zum ersten Mal erblickten, im kleineren der beiden Täler, reiht sich nun Rad um Rad, so weit das Auge reicht. Dieses Mal aber ist etwas Ungeheuerliches geschehen. Die Prozession der Windtürme – hat den Kamm überquert! Richtig im Geschwader sind sie angerückt, fast ein Halbdutzend von diesen glitzernden Ungetümen ist jetzt da. Sie stehen also auch schon auf unserer Seite. Und auf einmal sehen sie ganz nahe aus, mit ihren riesigen Schwingen.
Gewiss, sage ich mir, ist dies wieder nur optische Täuschung. In Wahrheit befinden sie sich ein ordentliches Stück entfernt, irgendwo da hoch oben halt.
Aber nein! ruft mein Mann. Die sind gar nicht mehr weit weg! Da geht er doch hinauf zu seinen Pilzen und auf einmal sieht er sich Aug in Aug mit einem Windrad – genau dort, wo der gute Pilzplatz war! Ich finde, das geht allmählich zu weit. Ich sage so: nichts gegen die Windräder, nur es sollten eben nicht gar so viele sein. Und schon gar nicht dort, wo ich wohne! Irgendwann ist es auch einmal gut. Ist das zu viel verlangt?
Ich laufe an gegen Windmühlen. Vor allem gegen die eigenen, im Kopf. Ach, wäre doch nicht alles so schrecklich kompliziert!
Ulla Puntschart
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