Das Jucken
Ich konnte nicht sagen, wann es begonnen hatte. Irgendwann bemerkte ich, dass es schon seit einer Weile da war. Ich konnte einzelne Momente benennen, in denen es mir besonders aufgefallen war, aber eine Angabe in Monaten machen konnte ich nicht. Um mich ungefähr zu orientieren, setzte ich den vergangenen Spätherbst als Zeitpunkt seines ersten Auftretens fest – zu Weihnachten war es schon da gewesen, an Halloween noch nicht. Es auf einer Zeitleiste zu verankern, gab mir fadenscheinige Sicherheit.
Auf einer etwa handbreiten Stelle an meinem linken Unterarm verspürte ich ein Jucken. An Tagen, an denen es besonders schlimm war, rötete sich die Haut nach vermehrtem Kratzen, aber für gewöhnlich sah man nichts. So sehr ich suchte, ich entdeckte keinen Ausschlag, keine Schuppenflechte und keine Insektenstiche.
Ich befragte Google. Von Allergien über Umweltfaktoren bis zu einer HIV-Infektion kam als Ursache alles infrage. Ich schenkte meinen neuen Weichspüler her, kaufte wieder den alten und wartete ab. Das Jucken blieb.
„Fieber, Müdigkeit, weitere Hautveränderungen?“ Der Arzt drehte meinen Arm hin und her.
Ich schüttelte den Kopf.
„Vielleicht eine Allergie.“
Ich erzählte ein bisschen defensiv von meinem Weichspüler, damit er nicht dachte, auf die Idee wäre ich selbst noch nicht gekommen.
Er verschrieb mir eine Salbe.
Zweimal am Tag cremte ich mir den Unterarm ein, überzeugt, dass es damit ein Ende hatte. Manchmal kratzte ich noch über die alte Stelle und freute mich, dass ich nichts spürte. Dann juckte es wieder. Ich redete mir ein, dass ich es mir einredete. Es juckte dennoch.
Ich begann, das Jucken zu beobachten. Wann es auftrat, wo es auftrat, wie stark es war. Ich stellte Theorien auf: Wenn es bis mittags noch nicht da gewesen war, kam es nicht mehr; es war besonders stark an Regentagen; wenn ich meine Periode hatte, blieb es aus. Eine Weile lang war ich überzeugt, es hätte mit dem Verzehr von Hafermilch zu tun. Auch psychosomatische Ursachen wollte ich erkennen: Bei schlechter Laune war die Wahrscheinlichkeit des Auftretens höher.
„Das sind deine uneingestandenen Probleme, die jetzt an die Oberfläche kommen“, sagte meine Schwester. Ich zuckte mit den Achseln. Probleme hatte ich genug, aber keine uneingestandenen.
„Hast du mal Teebaumöl probiert?“ Meine Freundin schob mir eine Flasche zu. Nach drei Tagen schob ich sie ihr wieder zurück, sie warf mir mangelnde Ausdauer vor und sprach von Akupunktur, Reiki und Bachblüten. Eine Weile lang besuchte ich sie nicht mehr.
Die Haut an meinem Unterarm war inzwischen dauerhaft gereizt. Mitten im Sommer trug ich langärmelige Oberteile, die ich zurückschob und überprüfte, ob die Rötung verschwunden war. Meine Gedanken kreisten um die Stelle wie Wasser um ein Abflusssieb und langweilten mich zu Tode. Ich konnte nicht aufhören zu grübeln und ich konnte nicht aufhören, darüber zu reden. Mitgefühl und gute Tipps verwandelten sich in Seufzen und abgewandte Blicke, aber ich tat, als würde ich es nicht bemerken.
Manchmal blieb das Jucken eine Woche oder länger aus. Am ersten Tag wartete ich noch ständig darauf, schielte auf meinen Arm und spürte in ihn hinein, bis ich nicht mehr sagen konnte, ob er juckte oder nicht. Dann gewöhnte ich mich daran und dachte fast mitleidig an das Jucken zurück, als wäre es Pubertätsakne, die abheilte, wenn man erwachsen wurde. Aber immer, wenn es erneut auftauchte, kamen mir die juckfreien Phasen seltsam vor; ich tauchte ein in bekanntes Gewässer, wo mir jedes Leid vertraut war und ich wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Ich kannte die Intensität und die Kneiftechnik, mit der ich den Juckreiz linderte, ohne dass er nachher unerträglich war, ich hatte eine Salbe, die kurzfristig half, und ich amüsierte mich dabei, Theorien aufzustellen; in Gedanken redete ich mit dem Jucken wie mit einem Vertrauten, den ich nicht mochte und der dennoch alles über mich wusste. Als ich an einer Lebensmittelvergiftung erkrankte, vermisste ich die Zeiten, in denen ich mich nur mit dem Jucken beschäftigt hatte; ich wünschte es mir zurück, wie sich andere Leute ihre Jugend zurückwünschten. Mit der Wiederherstellung meiner Gesundheit war auch das Jucken wieder da, zur Begrüßung gönnte ich uns eine neue Körpercreme und schloss Wetten mit mir selbst ab, ob sie es wohl schlimmer machen würde. Meine Schwester schüttelte den Kopf, als sie meinen Arm sah. Wann ich den nächsten Arzttermin hätte, fragte sie. Ich sagte, nächste Woche. Sie sagte, es wäre höchste Zeit, dass ich das in den Griff bekäme. Ich nickte. Ich hatte den Termin abgesagt.
Ich saß an meinem Schreibtisch im Büro, die Kollegen stressten, die Kunden hatten unmögliche Wünsche und ich kratzte mich am Arm. Er juckte. Ich lächelte.
Christina König
FM4 Wortlaut 2022
Mosaik Literaturzeitschrift
www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 23157
Die Neue
Als der Chef ankündigte, wir würden eine neue Kollegin bekommen, erwachte ich aus meinem Dämmerschlaf. Er brabbelte von ihrem ausgezeichneten Medien-Studium an der FH und ihrer bisherigen Tätigkeit im Marketing eines Skigebiets und ich wartete ungeduldig darauf, dass er aufhörte zu sprechen, damit ich sie in aller Ruhe googeln konnte. Endlich bekamen wir jemand Neuen. Meine Kolleginnen langweilten mich.
Sie hieß Sophia, postete Fotos von sich in Santorin und vor dem Isländer Gullfoss und teilte vegetarische Rezepte mit Kichererbsen. Ich rümpfte die Nase. Vielleicht hatte ich die falsche Sophia.
Ich hatte nicht die falsche Sophia. Am Tag ihres Arbeitsbeginns kam sie mit übergroßer Brille, roségoldenen Ketten und einem Spalt zwischen den Vorderzähnen ins Büro und stellte sich strahlend bei uns vor, machte mir ein Kompliment zu meinem Tattoo am Handgelenk und lachte über die ausgelutschte Warnung einer Kollegin vor der Kaffeemaschine. Sie war nett bis zum Wegdösen. Ich verkrümelte mich schmollend auf meinen Platz.
In den nächsten Tagen beobachtete ich sie. Durch die Glaswände ihres Büros sah ich, wie sie beim Telefonieren brav lächelte, wie sie ihre Einstandsblumen fotografierte, wie sie auf dem iPhone mit zersprungenem Display herumtippte und wie sie ihre platten Wangenknochen vor Kundenterminen mit Rouge bestäubte. So selbstbewusst, wie sie herumlief, könnte man meinen, sie wäre länger hier als ich.
Ich suchte das Gespräch mit ihr. Bereitwillig erzählte sie, dass sie am Land aufgewachsen und lange Zeit bei der Landjugend und der Musikkapelle aktiv gewesen war. Ich verkniff mir das Augenrollen. Gleich würde sie ihren Freund erwähnen, der bei der Feuerwehr war und im IT-Bereich arbeitete. Stattdessen sagte sie, dass sie am Wings-for-Life-Run im Mai teilnehmen wollte. Ich sah schon die Instagram-Story von ihrem verschwitzten Grinsen und ihren neuen Adidas-Laufschuhen neben all den anderen Instagram-Storys von verschwitztem Grinsen und neuen Adidas-Laufschuhen. Ich beendete das Gespräch.
Irgendwann, als wir gleichzeitig Feierabend machten, unterhielten wir uns für ein paar Minuten draußen vor der Tür. Sie erzählte mir, dass ihre Schwester an Depressionen litt. Ich horchte auf. So etwas machte die Leute immer interessanter. Sie fragte mich, was ich so triebe in meiner Freizeit. Vorsichtig erwähnte ich die Comic Cons, auf die ich gern ging, meine Versuche im Fluid Painting und das Geigenspielen. Sie hörte mir zu und stellte Fragen. Ich schöpfte Hoffnung.
„Es glauben alle, sie sind lesbisch“, brummte eine Kollegin. „Nur, weil das jetzt cool ist. Woher wollen die überhaupt wissen, dass sie nichts von Männern wollen, wenn sie es nie probieren?“ Sophia nickte. Ich spielte mit dem Regenbogenanhänger an meinem Schlüsselbund und ignorierte sie nachher in der Küche.
An einem Montag fragte sie mich, ob ich mit ihr und zwei anderen Kolleginnen mittagessen wollte. Skeptisch stimmte ich zu. Als wir zu viert durchs Büro gingen, spürte ich diverse hochgezogene Augenbrauen in meinem Rücken.
Wir saßen in einem dieser protzigen Restaurants mit Schauküche, spiegelnden Tischplatten und violetten Samtbänken, das auf allen Foodblogs gehypt wurde. Sophia aß vegan. Die anderen beiden aßen vegetarisch. Grantig bestellte ich einen Burger. Es ging um die nächsten Urlaubsdestinationen; die eine wollte nach Sardinien, die andere nach Kroatien, Sophia nach San Francisco, weil sie in Europa „schon überall gewesen war“. Ich murmelte etwas von zwei Wochen am Bauernhof meiner Oma, wo ich malen wollte, alle taten beeindruckt und fragten mich dann nichts mehr.
Dann ging es um ihre Freunde: Gleich zwei waren im IT-Bereich, der letzte bei einer Spedition. Drei Paar Augen verdrehten sich nach oben, wenn ihre Besitzerinnen jammerten, dass die Männer nicht so ordentlich im Haushalt waren, wie sie es gern hätten. Ich schaute von einer zur anderen und wartete auf einen Hauch Individualität. Darauf, dass eine von ihnen sagte, sie wäre in einer offenen Beziehung, sie würde koreanische Gedichte lesen, sie hätte ein Jahr in Tansania gelebt. Stattdessen sagte eine nach der anderen, dass sie gern ein Haus in ihrem Heimatdorf haben wollte. Ich fragte mich, ob sie sich auseinanderhalten konnten, wenn sie sich im Spiegel ansahen. Als sie nächste Woche wieder zum Mittagessen aufbrachen, luden sie mich nicht ein.
Wenn wir miteinander redeten, redeten Sophia und ich über das Präsentationstraining, das der Chef für unser Team geplant hatte. Wir reden über Geburtstagsgeschenke für Mütter. Wir redeten über Tee mit oder ohne Zucker. Wir redeten über unsere Wochenendpläne. Sie wollte eine neue 90-Days-Fitness-Challenge beginnen. Ich behauptete, ich hätte nichts vor.
Dann kam die Weihnachtsfeier. Sophia war betrunken. Ich half ihr zu einem abseits gelegenen Tisch, brachte ihr ein Glas Wasser und ein Aspirin, das irgendjemand vorsorglich mitgenommen hatte. Sie bedankte sich. Dann begann sie zu weinen. Sie würde sich in ihrem Leben gefangen fühlen, hätte Angst, dass ihr alles zu schnell ginge, wäre gestresst von ihren Verpflichtungen und den Erwartungen ihrer Familie. Ich nickte und tätschelte ihren Arm und überlegte, wann ich wohl davonschleichen könnte. Sogar ihre Probleme waren langweilig.
Am nächsten Montag tat sie so, als wäre das Gespräch nie passiert. Ich tat es ihr gleich.
Ein paar Wochen später, in meinem Frühlingsurlaub, las ich beim Frühstück in den Online-Nachrichten von einer Siebenundzwanzigjährigen, die mit aufgeschnittenen Pulsadern ins Krankenhaus gebracht worden war. Ich aß meine Cornflakes auf und überlegte, welche Acrylfarben ich mir kaufen sollte. Als ich wieder zurück in die Arbeit kam, fehlte Sophia.
Christina König
FM4 Wortlaut 2022
Mosaik Literaturzeitschrift
www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23073