Tiger
Erstaunlich, wie schnell manchmal alles geht. Erst vorgestern habe ich auf die Anzeige „Villenhaushalt sucht Kindermädchen, Erfahrung erwünscht, zwei bis drei Abende pro Woche, tierlieb, gute Bezahlung“ reagiert, und schon lausche ich den Anweisungen der Inserenten, Herrn und Frau Panthera, die im Begriff sind, auszugehen. Etwas überheblich sind die beiden, zwar freundlich, aber reserviert. Die Achtjährige, auf die ich aufzupassen habe, hat diese Haltung übernommen, hat mir vorhin kühl die Hand gereicht, mir prüfend in die Augen gesehen und ernst gelächelt. Sie hat sich brav von ihren Eltern verabschiedet und ist in ihrem Zimmer verschwunden.
„Sie brauchen das Abendessen für Desiree nur aufzuwärmen. Auch für Sie ist reichlich da“, sagt Herr Panthera. Er verstaut bedächtig sein Smartphone und sein Portemonnaie in den Innentaschen seines Sakkos. „Bitte kein Fernsehen. Es gibt genügend interessante Spiele und Bücher.“
„Desiree wird Ihnen alles zeigen. Um neun Uhr wird sie schlafen gehen. Unsere Tochter ist sehr selbstständig“, sagt Frau Panthera. Sie zieht sich eine gestreifte Jacke an, betrachtet sich im goldumrahmten Vorraumspiegel.
„Eines jedoch“, räuspert sich Herr Panthera, schon einen Schlüsselbund in der Hand. „Eines jedoch bitten wir Sie, ohne Wenn und Aber und ohne es zu hinterfragen, zu respektieren. Uns ist vor einigen Wochen eine Katze zugelaufen. Desiree jedoch sieht in dem Tier einen Tiger. Spielen Sie einfach mit, auch wenn Ihnen das lächerlich erscheinen mag. Tun Sie so, als ob es tatsächlich ein Tiger wäre, dann wird dieser Abend für Sie problemlos verlaufen.“
Gegen Mitternacht würden sie zurück sein, sagen sie noch, wünschen mir einen angenehmen Abend, und dann beobachte ich auch schon erleichtert durch das Fenster, wie die beiden durch den gepflegten Vorgarten schreiten, in ihren grauen Jaguar steigen und wegfahren. Tief ausatmend finde ich, dass ich mir nun wirklich ein Getränk verdient habe, entdecke auch sogleich die unfassbar reichhaltige Hausbar im Wohnzimmer. Ich genehmige mir ein Glas Wodka.
Desiree kommt aus ihrem Zimmer, geht, ohne mich anzusehen, an mir vorbei in die Küche, und mit einem großen, rohen Fleischstück in ihren Händen wieder zurück.
Ich muss lachen. „Das ist wohl für dein Tigerkätzchen“, sage ich.
Das Mädchen antwortet nicht, würdigt mich keines Blickes, verschwindet wieder in ihrem Zimmer.
„Verzogener Fratz“, sage ich leise und amüsiert, mache es mir auf dem weißen, weichen Sofa bequem, schalte den riesigen Fernseher ein.
Nach einer Weile sitzt Desiree plötzlich neben mir.
„Na, schläft dein Tiger nun nach der Fütterung?“, frage ich.
Sie nickt.
„Darf ich deine Raubkatze mal sehen?“
Sie steht auf, öffnet eine Schublade, nimmt ein Foto heraus und reicht es mir. Darauf thront sie, Desiree, strahlend, lächelnd, auf dem weißen Sofa, auf dem ich soeben sitze – ihre rechte Hand ruht liebevoll auf dem riesigen Kopf eines entspannt zu ihren Füßen liegenden, ausgewachsenen Tigers.
„Sehr gut gemachte Fotomontage“, lobe ich.
In diesem Moment höre ich aus Desirees Zimmer lautes, bedrohliches Fauchen. Ich zucke zusammen.
„Tiger träumt nur“, sagt Desiree. „Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich fürchte mich nicht vor CDs mit Tiergeräuschen“, sage ich und spüre Ärger in mir hochsteigen. „Genug jetzt!“ Gereizt knalle ich das Foto auf den Couchtisch. „Ich habe Hunger. Komm, du Tigermädchen, essen wir etwas.“
Wir schweigen beide, während ich das bereitgestellte Gulasch aufwärme, Brot aufschneide und Desiree den Tisch deckt. Das Essen schmeckt gut. Ich trinke teuren Rotwein, betrachte das stille, schmale Mädchen mir gegenüber.
„Ist das nicht Tierquälerei, einen Tiger im Haus zu halten?“, frage ich provozierend.
Desiree nimmt einen Schluck Wasser, zupft an ihren langen, blonden Zöpfen, schaut an mir vorbei aus dem Fenster.
Als ich keine Antwort mehr erwarte und schon eine scharfe Frage nachschießen will, sagt sie laut und deutlich:
„Erstens: Das ist kein gewöhnlicher Tiger. Zweitens: Ich halte ihn nicht gefangen, er kann gehen, wann immer er will. Fast jede Nacht ist er draußen im Wald hinter unserem Haus und kommt am Morgen wieder. Er ruht sich bei mir aus. Denn drittens: Er ist sehr gerne bei mir.“
Wut steigt in mir auf. Wie kann ein kleines Kind derartig arrogant und verlogen sein, frage ich mich. Ich trinke den Wein aus, stehe auf, wende Desiree den Rücken zu, spüle den Teller ab und sage:
„Na, du hast ja eine blühende Fantasie. Aber mich interessiert deine ausgedachte Geschichte überhaupt nicht. Hör also bitte auf mit diesen dummen Lügen!“
Ich drehe mich zu Desiree, die jedoch lautlos verschwunden ist.
„Verrücktes Kind!“, schimpfe ich in die leere Küche, schenke mir nochmals großzügig Wein ein, stapfe damit ins Wohnzimmer.
„Eines jedoch …“, äffe ich die Ansprache ihres Vaters nach. „Eines jedoch bitten wir Sie … Respektieren Sie … Tun Sie einfach so, als ob …“
Ich lasse mich wieder auf die weiße Couch vor den Fernseher fallen, rufe laut:
„Ganz sicher nicht, Familie Größenwahn, nicht mit mir!“, und verschütte beim Hinstellen des Glases ein wenig Wein auf das Foto mit Desiree und dem Tiger. Ich zerknülle es und stopfe es in meine Hosentasche.
Aus dem Kinderzimmer dringen gedämpft Geräusche. Ich drehe den Fernseher lauter. Doch Desirees Lachen und eine Art freudiges Winseln lassen sich nicht übertönen. Ich trinke mein Glas aus, stehe auf, lege mein Ohr an die Tür. Es hört sich an, als würden nun in dem Zimmer Möbel geschoben. Wieder lacht Desiree hell auf.
Ich klopfe, und sage, bemüht, meine Stimme nett und klar klingen zu lassen:
„Desiree, es ist Schlafenszeit! Ich komme jetzt rein zum Gute-Nacht-Sagen.“
„Nein! Bitte nicht!“, ruft Desiree.
„Aber warum denn nicht?“, frage ich, so freundlich wie nur möglich, und fühle mich dabei seltsamerweise wie der böse Wolf aus einem Märchen.
Stille. Dann Desirees deutliche Stimme: „Tiger mag dich nicht.“
Ich muss gegen meinen Willen kichern, drücke die Türklinke nieder, kann aber nicht öffnen, spüre Widerstand. Ich schaue durch das Schlüsselloch. Es scheint kein Schlüssel zu stecken, offensichtlich hat Desiree ein Möbelstück vor die Tür geschoben.
‚Mit mir nicht, du Biest‘, denke ich, ‚mich sperrt niemand aus.‘ Wie mich dieses Kind mitsamt seiner Tigergeschichte aufregt, mich immer wütender macht! Um mich zu beruhigen, genehmige ich mir noch ein Gläschen Wodka von der Hausbar. Dann klopfe ich wieder an die Kinderzimmertür und sage ruhig und bestimmt:
„So, Desiree, Schluss jetzt mit dem Theater. Mach bitte die Tür auf. Ich möchte nachsehen, ob alles in Ordnung ist bei dir und deinem Tigerkätzchen.“
Keine Antwort.
Ich drücke wieder die Türklinke nieder, stemme mich mit aller Kraft gegen die Tür, schaffe es tatsächlich, das davorgestellte Möbelstück wegzuschieben. Die Tür ist offen.
„Na bitte“, sage ich zufrieden, betrete das Kinderzimmer.
Es passiert blitzschnell.
„Nicht, Tiger!“, höre ich Desiree schreien. Aus einer Ecke des Raumes springt ein grollendes, pelziges, mächtiges Etwas gegen mich, ein weißes Raubtiergebiss blitzt dicht vor meinem Gesicht auf, und schon schmettert ein wuchtiger Prankenschlag auf meinen Kopf. Dann ist alles dunkel und still.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24185
Cirrus
Über den Tisch verstreut liegen Fotos. Ich nehme eines nach dem anderen in die Hand und betrachte sie. Schließlich entscheide ich mich für einen Schnappschuss, den meine Tochter wenige Tage bevor sie nach Berlin umgesiedelt ist, gemacht hat. Auf dem Foto sitzt Cirrus, mein wunderschöner Kater, aufrecht auf seinem Lieblingsplatz, der Fensterbank. Er blickt aus smaragdgrüntiefen Augen direkt in die Kamera. Die Abendsonne hinter ihm lässt sein weißes Fell schimmern und glänzen. Ich klebe das Foto auf ein großes Blatt Papier und schreibe darunter sorgfältig seine Vermisstenanzeige, lasse es dann später im Kopierladen vervielfältigen und verbringe den ganzen restlichen Tag damit, die Plakate auf sämtliche Litfaßsäulen, Baumstämme und Mauern meiner Umgebung zu kleben.
– Zutraulicher weißer Maine-Coon-Kater namens Cirrus seit 5.5. vermisst. Freigänger, sieben Jahre alt, gechipt. Bitte melden Sie sich, wenn Sie ihn gesehen haben! Finderlohn! –
Diese Wortfolge samt meinem Vornamen und meiner Handynummer habe ich nicht nur auf das Papier geschrieben, ich habe sie verinnerlicht, da ich sie an diesem Tag wie ein Mantra ständig lautlos wiederholt habe.
Cirrus’ Verschwinden ist ein zusätzliches Glied meiner Unglückskette, die sich, chronologisch aufgezählt, aus Folgendem zusammensetzt: meine Scheidung nach beinahe drei Jahrzehnten Ehe. Meine Pensionierung nach über vierzig Jahren Büro. Der Tod meiner Eltern, die kurz hintereinander an Krebs starben. Der Auszug meiner Tochter in ihre Berliner WG. Der Abschied von meiner einzigen Freundin, die nun mit ihrem neuen Lebensgefährten in Neuseeland lebt. – Dies alles geschieht innerhalb von elf Monaten, eine Zeitstrecke, in der mich zunehmend das Gefühl beschleicht, dass dicht über mir eine dunkle, bedrohliche Wolke hängt, eine düstere Wolke, die mich überallhin begleitet, eine Wolke, die immer tiefer zu mir sinkt, immer schwerer auf mir lastet.
Es melden sich fünf Menschen, die Cirrus gesehen haben wollen. Vier der Anrufe stellen sich als Fehlanzeige heraus. Der fünfte Anruf aber bringt Gewissheit. Cirrus, mein wundervoller, geliebter Kater, ist überfahren worden. Wie versteinert stehe ich vor dem reglosen, kleinen Körper, der im Straßengraben neben der Landstraße liegt. Das junge Mädchen, das mich angerufen hat, meint mitleidig: „Da hilft nur eines, glauben Sie mir, eine neue Katze …“, und verstummt, als ich den Kopf schüttle.
Nein, das kommt für mich nicht in Frage. Cirrus, der mir seit sieben Jahren jeden einzelnen Tag durch seine sanfte, weiche Anwesenheit verschönt hat, ist nicht ersetzbar. Die schwere Wolke über mir senkt sich mehr und mehr, droht mich zu erdrücken. Es gibt nun Tage, da schaffe ich es nicht, unter ihrer Last aufzustehen. In dem Zustand, in dem ich mich nun befinde und aus dem ich nicht herausfinde, ergibt nichts mehr Sinn für mich. Ich isoliere mich, gehe kaum mehr außer Haus.
Es ist ein Sonntagvormittag, als mein Handy klingelt. Abgesehen von den Freitagabenden, an denen meine Tochter anzurufen pflegt, ist das Klingeln des Handys inzwischen ein äußerst seltenes Geräusch geworden. Unbekannte Nummer, blinkt es am Display. Ich habe nicht vor, den Anruf anzunehmen. Es läutet jedoch dreimal hintereinander, sodass ich schließlich doch widerwillig annehme. Eine freundliche Frauenstimme antwortet auf mein etwas Schroffes:
„Ja, Anja spricht. Wer ist denn da?“
„Guten Tag, mein Name ist Carmen. Ich rufe wegen des Plakates an.“
„Das ist längst hinfällig, danke, mein Kater ist gefunden worden“, will ich mich rasch verabschieden.
„Nein, nein, bitte warten Sie, Anja“, sagt sie. „Es geht um etwas anderes. Eine Frage, ist das Ihre Schrift auf dem Plakat?“
„Ja“, antworte ich irritiert. „Aber ich verstehe nicht, warum wollen Sie das wissen?“
„Ich bin Grafologin. Und, kurz gesagt, ich finde Ihr Schriftbild sehr interessant. Darum habe ich gedacht, ich rufe Sie einfach mal an und frage Sie, ob Sie vielleicht Zeit für ein Treffen haben. Ich würde nämlich zu gerne persönlich mit Ihnen besprechen, was an Ihrer Schrift so bemerkenswert ist.“
Überrumpelt schweige ich einen Moment und überlege. Die Stimme der Anruferin ist freundlich und angenehm, sie ist mühelos durch die dunkle Wolke zu mir durchgedrungen.
„Zeit hätte ich schon“, sage ich zögernd. „Und neugierig haben Sie mich auch gemacht. Es ist nur so, ich befinde mich derzeit in keiner guten Verfassung.“
„Ja, das kann ich verstehen“, sagt sie ruhig. „Ich würde mich dennoch sehr über ein Treffen freuen.“
Ich hole tief Atem und sage – mich damit selbst überraschend – einem Treffen zu.
Zwei Tage später sitzen wir uns tatsächlich in einem Gastgarten gegenüber. Wir trinken Weißwein. Carmen ist so, wie ihre Stimme am Telefon auf mich gewirkt hat: ein zugewandter, freundlicher Mensch. Sie bemüht sich, mir mein Schriftbild zu erklären, und ich höre zu und versuche, zu verstehen. Ich höre grafologische Ausdrücke wie Girlanden, Schlingen, Arkaden, finde diese komplexe Welt der Schrift interessant, fühle mich aber etwas überfordert. Auch erschließt sich mir nicht wirklich, was denn nun der eigentliche Grund von Carmens Anruf war.
Carmen meint, dass meine Girlanden den ihren ähneln, und dass sie eine Übereinstimmung in unserer Lebensanschauung vermute. Sie legt ein von ihr vollgeschriebenes A4-Blatt neben mein Cirrus-Plakat, das sie von einem Baumstamm genommen hatte. Ich entdecke allerdings keine Spur von Ähnlichkeit unserer Handschriften und schüttle ratlos den Kopf, was Carmen zum Lachen bringt. Sie lacht so herzlich, dass ich mitlachen muss.
Den wesentlichen Punkt für Carmens Anruf erfahre ich nicht bei diesem ersten, sondern bei einem unserer nächsten Treffen: Als sie meine Vermisstenanzeige beim Spazierengehen gesehen hat, ist sie erschrocken über die großen, die viel zu großen Abstände zwischen meinen Wörtern, sie erkannte in diesen mich gefährdende Abgründe der Isolation.
Als mir klar wird, dass sie mich angerufen hat, weil sie sich um mich sorgte, bin ich berührt von der Tatsache, dass sich ein Mensch über eine ihm völlig fremde Person Gedanken macht.
Bei diesem ersten Treffen aber streift Carmen dieses Thema nur kurz. Sie bemerkt natürlich, wie schlecht es mir geht, sieht meine Hände zittern, spürt meine Anspannung.
„Wie kam es eigentlich zu dem Namen Cirrus?“, fragt sie bei einem zweiten Glas Weißwein. „Das hatte doch bestimmt seinen Grund.“
„Ja“, antworte ich nach kurzem Zögern, „mein Kater kam zu seinem Namen, weil mich sein Fell, sein seidiges, weißes Fell, an Federwolken, an Cirrus-Wolken eben, denken ließ.“
„Cirrus-Wolken“, wiederholt Carmen. „Federwolken. Schön klingt das.“
Sie lächelt mich ermutigend an, berührt mich kurz am Oberarm, und sagt dann leise:
„Erzähle mir bitte, erzähle mir von dir.“
Und während mir noch die Frage auf der Zunge liegt: ‚Aber, was denn – was soll ich denn von mir erzählen?‘, steigen plötzlich Erinnerungen in mir hoch, Bilder von früher, an die ich lange Zeit nicht gedacht habe, und ich beginne tatsächlich zu erzählen.
„Ich denke gerade daran“, sage ich, „dass ich als Kind am liebsten stundenlang auf der Wiese lag und in den Himmel zu den Wolken sah. Wolken faszinierten mich. Irgendwann sah ich zufällig in einer Ausstellung Ölbilder und Aquarelle eines Wolkenmalers. Es waren beeindruckende Werke. Ich war derart begeistert davon, dass ich ebenfalls Wolken malen wollte. Tatsächlich bin ich in meiner Jugendzeit sehr oft mit meiner Staffelei auf einer Anhöhe, im Garten, auf einer Wiese gesessen und habe unzählige Wolkenbilder gemalt …“
„Das ist es“, nickt Carmen zufrieden. „Ich wusste es. Es ist in deiner Schrift sichtbar: Du trägst eine starke Leidenschaft in dir, so wie auch ich, du für das Wolkenmalen, ich für die Grafologie.“
„Na ja, ehrlich gesagt, war das wohl früher bei mir der Fall, aber das liegt lange zurück. Das letzte Bild, das ich gemalt habe – ich weiß nicht mehr, wann das war, bestimmt vor der Geburt meiner Tochter.“
„Oh, wie schade!“ Carmen schaut mich betroffen an. „Das muss dir doch schrecklich fehlen. Was ist passiert, dass du damit aufgehört hast?“
Ich zucke die Schultern, denke nach. „So genau kann ich das nicht sagen, es gab keinen bestimmten Auslöser. Ich hatte wohl keine Zeit mehr dafür, hatte anderes, hatte viel zu tun. Meine Familie, die Arbeit. Vielleicht war ein weiterer Grund, dass das Wolkenmalen schon vor Jahrzehnten etwas Veraltetes war, nichts, was andere interessierte. Es fand keine sonderliche Beachtung. Tja, niemand malte Wolken. Niemand außer mir.“
„So ähnlich ist es auch mit der Grafologie. Früher bekam ich viele Aufträge, doch das hat sich mit den Jahren geändert. Ich hoffe, dass die Schriftenkunde nicht völlig ausstirbt. Das wäre traurig, ist sie doch ein Spiegelbild unseres Selbst. Mich persönlich wird sie immer beschäftigen. Das macht mir unglaublich viel Freude.“
Carmen sieht mich an.
„Denkst du daran, wieder mit dem Malen zu beginnen?“
„Ach, das habe ich bestimmt verlernt, befürchte ich“, weiche ich aus.
„Dann erlerne es doch wieder. Sei nachsichtig mit dir, sei geduldig. Mache dir doch dieses Geschenk.“
Ich schweige.
„Jeder Mensch, der das Glück hat, seine Passion gefunden zu haben, sollte diese ausüben, wenn es möglich ist. Findest du nicht auch, Anja? Was man liebt, das soll man tun.“
Sie sieht mich an, sieht meine Betroffenheit, wechselt feinfühlig das Thema.
Als ich eine Stunde später nach Hause gehe, spüre ich so etwas wie Zuversicht in mir, und ich freue mich darüber, dass Carmen und ich bereits ein weiteres Treffen vereinbart haben. Die dunkle Wolke über mir erscheint mir weniger düster, weniger schwer. Die nächsten Tage fühle ich mich unruhig, ich gehe viel spazieren. An einem sonnigen Nachmittag lege ich mich auf eine Decke in eine Wiese, sehe nach oben in den Himmel zu den Wolken.
Am Morgen darauf stelle ich meine Staffelei im Wohnzimmer auf. Ich öffne sperrangelweit das große Fenster, rücke die Staffelei davor, mische die Farben, hole tief Atem und sehe hinaus, zum Himmel empor. Ich konzentriere mich und beginne damit, den Himmelsausschnitt, den ich sehe, auf die Leinwand zu malen. Schon bei den ersten Pinselstrichen fühle ich mich wunderbar lebendig – und ich bin bestürzt darüber, so lange Zeit auf das Malen verzichtet zu haben. Nicht alles gelingt mir so, wie ich es gerne haben will, aber ich denke an Carmens Worte: ‚Sei nachsichtig mit dir, sei geduldig.‘
Ich strenge mich an, bin mal unzufrieden, dann wieder einverstanden mit dem, was entsteht: ein Wolkenbild, das ich Carmen schenken werde, mein erstes Wolkenbild seit Jahrzehnten.
Ich schließe kurz die Augen, und spüre, dass eindeutig keine schwere, dunkle Wolke mehr über mir ist. Und als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich weiße Wölkchen, Cirrus-Wolken, auf meiner Leinwand und am Himmel dahinter schweben.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 24149
Es fühlt sich richtig an
Plötzlich ist es still im Zimmer. Ich sehe von meiner Zeichnung auf, sehe dich ruhig in deinem Lieblingseck des Sofas sitzen, dein Oberkörper aufrecht, die Beine angezogen, in der Hand die Fernbedienung. Du hast den Fernseher auf lautlos geschaltet. Auf dem Bildschirm bewegen sich die Schauspieler in ihren Rollen, öffnen und schließen ihre Münder, fischähnlich.
„Ich möchte dich etwas fragen“, sagst du leise, „etwas Wichtiges.“
Du siehst mich nun an, deine Augen glänzen, du streichst eine Haarsträhne aus der Stirn. Ein heller Schimmer liegt auf deinem Gesicht, deinem Haar. Du strahlst eine derartige Intensität aus, dass ich nicht anders kann, als in das Fach unter dem Couchtisch und zu jenem Zeichenblock zu greifen, in welchem sich ausschließlich Skizzen von dir befinden, schiebe den anderen Block beiseite, schlage rasch deinen, den Lena-Block, auf und beginne dich zu skizzieren. Augenbrauen, Nase, Augenlider …
„Nein, nicht jetzt, bitte, lege es weg“, sagst du, und verwundert lasse ich den Bleistift sinken. Noch nie hat dich gestört, dass ich zeichne, während wir miteinander reden. So hast du mich kennengelernt, vor gut einem Jahr, in der Bibliothek: zeichnend, hast dich unter anderem auch deswegen in mich verliebt, so sagtest du mir Wochen später. Ja, es gehört zu mir, ich zeichne, wenn möglich, immer und überall, ob zuhause oder unterwegs, immer.
„Was ist, Lena? Nun sag doch, was willst du mich fragen?“
„Ja, also, wen hast du vorhin im Park gesehen?“
„Vorhin im Park? Ich verstehe nicht, wir haben doch die selbe Person gesehen, die alte Frau unter der Straßenlampe. Hier!“
Ich halte dir den Skizzenblock hin, nicht den Lena-Block, sondern den anderen, in welchen ich sogleich, nachdem wir nach Hause gekommen waren, das im Park Gesehene zu übertragen begonnen habe.
Auf dem ersten Blatt die Skizzierung einer alten Frau, unter dem Licht einer Straßenlampe stehend, und von uns beiden, die wir vom Parkeingang aus auf die Frau zukommen, diskutierend, beinahe streitend.
Wir debattierten über Jasmin und Ben, bei denen wir zuvor zu Besuch gewesen sind, und die sich in letzter Zeit, insbesondere seit der Geburt ihres Babys, so sehr verändert haben. Konservativ, klein-denkend sind sie geworden, Ben sowieso, aber auch Jasmin, meine Schwester, die ich doch von Kindheit an als Freigeist kenne. Aber diese Jasmin ist nicht mehr vorhanden, kreative Arbeit kein Thema mehr für sie, sie geht nun voll und ganz in ihrer Mutterrolle auf. Von Kinderpädagogik spricht sie nun, von Mutter-Kind-Gruppen, kein Wort mehr von ihren künstlerischen Projekten.
Mein Bleistift flog in ihrer überheizten Wohnung über gut dutzend Blätter, ich zeichnete und zeichnete: das Dauerlächeln, mit dem Ben und Jasmin ihr Kind bedachten, die Plüschtiere, die Spielsachen, die stillende Jasmin, Bens Doppelkinn, das lächelnde, das schreiende, das schlafende Baby. Und dich, wie du dies alles wohlwollend betrachtest. „Ich freue mich sehr für euch“, hast du mehrmals beteuert.
„Sie ist glücklich, sie liebt ihr neues Leben“, hast du Jasmin auf dem Nachhauseweg verteidigt und den Kopf geschüttelt, als ich meinte, wie unecht, wie gespielt alles auf mich gewirkt hat.
„Nur, weil Jasmin sich verändert hat, nur, weil du einen anderen Lebensentwurf, eine andere Einstellung hast, gibt dir das nicht das Recht, andere Lebensweisen geringer zu schätzen“, hast du gesagt.
Als wir dann die alte Frau unter der Straßenlaterne sahen, hörten wir zu diskutieren auf. Zu unwirklich wirkte die Szene. Die Frau stand unter dem Lichtkegel wie unter einem Spotlight, weißes leuchtendes Haar, gut gekleidet, charismatisch. Die Arme hochgeworfen, deklamierte sie mit lauter, melodischer Stimme Shakespeare. Doch etwas war irritierend an ihrer Haltung, an ihren Bewegungen, und dieser Eindruck verstärkte sich beim Näherkommen.
Du blätterst um, und du und ich betrachten meine zweite Skizze. Sie zeigt deutlich ein Flackern im Blick der Frau, etwas Unstetes, Verwirrtes. Ihr seltsam abwesender, beinahe versteinerter Gesichtsausdruck passt nicht zu ihrer theatralischen Gestik.
Die nächsten Skizzen zeigen eine desorientierte alte Frau, fern jeder Realität, eine, die ein Straßenlicht mit einem Scheinwerfer verwechselt, die einen Gehsteig zu ihrer Bühne erklärt. Um ihre gesamte Erscheinung ein Schleier von Verlorenheit.
Du siehst dir alle Skizzen an.
„Und ihren Begleiter?“, fragst du dann leise. „Ihn hast du nicht gezeichnet?“
„Ihren Begleiter?“
Ich denke nach. Ja, da war noch jemand. Ein alter Mann. Ich habe seine leise Stimme hinter mir gehört. Du hast mit ihm geredet, minutenlang oder auch länger, ich weiß es nicht, war ausschließlich damit beschäftigt, mir jedes Detail dieser faszinierenden alten Frau einzuprägen, sie innerlich zu fotografieren, wie du es nennst.
„Du hast ihn gar nicht wahrgenommen. Du hast ihn gar nicht angesehen“, sagst du, deine Stimme klingt traurig.
Du stehst abrupt auf, gehst unruhig im Zimmer auf und ab, barfuß.
„Ihr Mann, er hat mir viel erzählt. In der Art und Weise, wie alte Menschen mit einem reden, so, als ob sie dich schon ewig kennen würden. Er hat erzählt, dass sie seit Jahrzehnten ein Paar seien, dass sie früher tatsächlich Schauspielerin gewesen sei und nichts auf der Welt ihr so wichtig wäre wie die Schauspielerei, auch jetzt noch, trotz ihrer Demenz. Und für ihn, so hat er gesagt, gäbe es nichts Wichtigeres als sie. Er höre und sehe ihr so gerne zu. Früher, als sie auf der Bühne spielte, und heute, wenn sie eben manchmal unter Straßenlampen deklamiere.“
Du klatschst plötzlich in die Hände.
„Ach“, rufst du laut, „was er nicht alles gesagt hat! Er sagte: Es gibt Menschen, die haben sich einer Sache verschrieben, mit Leib und Seele, mit Haut und Haar, und das darf man ihnen nie nehmen. Er sagte: Mit manchen dieser Menschen kann man unbeschadet leben, aber es gibt welche, von denen sollte man lieber lassen, wenn man sich selbst, wenn man sein eigenes Leben liebt.“
Ich habe längst wieder einen Bleistift in der Hand, um dich auf Papier einzufangen, deine Art, auch mit den Händen zu sprechen, die Schultern ein wenig hochzuziehen, den lebhaften, dann wieder nachdenklichen Ausdruck in deinem Gesicht, das Leuchten in deinen Augen.
„Er sagte: Ich liebe sie. Es fühlt sich richtig an, mit ihr, auch jetzt, in ihrem Zustand. Denselben Satz hat auch deine Schwester gesagt, als sie ihr Baby hielt: Es fühlt sich richtig an.“
Du bleibst vor mir stehen, wirfst einen kurzen Blick auf meine Zeichnung, siehst dann mich an. Du lächelst.
Ich zeichne dein Lächeln.
„Ach du“, sagst du zärtlich, „wie lange wartest du schon insgeheim darauf, dass ich aufhöre zu reden, dass ich dich allein lasse, damit du beginnen kannst, deine Skizzen auf die Leinwand zu übertragen?“
„Lena, du kennst mich doch. Du weißt ja, dass ich nur malen kann, wenn ich ungestört, wenn ich allein bin.“
„Ja, natürlich“, sagst du. „Ich kenne dich.“
Du küsst mich, gehst aus dem Zimmer, schließt leise die Tür.
Ich nehme meinen Skizzenblock, den mit der alten Frau im Park, gehe damit auf die Mansarde, zu meiner Staffelei, zu meinen Farben, in meine Welt.
Am nächsten Morgen bist du nicht mehr da.
Als ich spätabends von der Galerie nach Hause komme, sind alle deine Sachen weg, Kleidung, Laptop, Bücher. Auf dem Holztisch in der Küche liegt ein neuer Skizzenblock. Daneben eine weiße Leinwand, im für mich passenden Format, und, liebevoll arrangiert, Acrylfarben, Kohlestifte, Bleistifte, jene, die ich am liebsten verwende. Du kennst mich.
Du hast mir keinen Brief, keine Nachricht hinterlassen.
Ich schlage den neuen Block auf und beginne zu zeichnen. Ich skizziere deine Abwesenheit. Dein unbenutztes Lieblingssofaeck, das Bücherregal, in dem deine Bücher fehlen, die Wand ohne deine Fotocollagen, das leere Schuhregal. Ich zeichne dein Gesicht, den Glanz in deinen Augen, deine Hand, die eine Haarsträhne aus der Stirn streicht, zeichne dich, barfüßig durch das Zimmer schreitend.
Später, im Mansardenzimmer, male ich dich auf dem Sofa sitzend, deine angewinkelten Beine, deinen aufrechten Oberkörper. Es gelingt mir, den Schimmer deiner Haut, deines Haars wiederzugeben. Von der Leinwand aus siehst du mir direkt in die Augen.
Es fühlt sich richtig an.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 24139
Manuela
„Hast du gestern „Tarzan in Gefahr“ gesehen?“, fragt Manuela.
Wir spazieren durch den lichten, kleinen Eichenwald am Rande unseres Dorfes. Manuela geht zwei Meter vor mir. Ihr langes Haar fällt in hellen Strähnen über ihren Rücken. Mit ihrer rechten Hand schwingt sie energisch einen Stock und schlägt ihn hin und wieder gegen Sträucher und Baumstämme.
„Ja“, antworte ich geistesabwesend.
‚Sei doch still‘, denke ich. Ich stelle mir nämlich gerade vor, eine wunderschöne Prinzessin zu sein. Der Wald hier gehört zu meinem riesigen Reich. Manuela ist meine Zofe; sie hält mir den Weg frei und beschützt mich vor Schlangen und Wölfen. Es belustigt mich, dass Manuela nichts von der Rolle weiß, die ich ihr insgeheim zugeteilt habe.
„Und, ist dir etwas an Tarzan aufgefallen?“, stört Manuela schon wieder. Ihre Stimme klingt ungeduldig.
„Na? Ob dir etwas aufgefallen ist, will ich wissen!“
Redet so eine Zofe mit einer Prinzessin?
„Nein“, sage ich und fühle mich unbehaglich.
„Dann höre mir jetzt gut zu.“
Manuela bleibt abrupt stehen, lässt ihren Stock fallen, dreht sich um und fixiert mich aus zusammengekniffenen blauen Augen. Fast wäre ich gegen sie gerannt.
„ICH war der Tarzan im Fernsehen!“ Triumphierend streckt sie ihr Kinn nach vor.
„Blödsinn! Du bist doch viel kleiner als der Tarzan.“
„Ich bin auf Stelzen gegangen und manchmal auf einem Schemel gestanden“, sagt sie schnell und blinzelt mich listig an. „Natürlich immer so, dass die Zuseher es nicht erkennen können.“
„Ach, Manuela, du bist ein Mädchen, hast blonde Haare – du bist das pure Gegenteil von Tarzan!“
Ich schüttle den Kopf, gehe an ihr vorbei, weiter den Waldweg entlang.
„Schon etwas von Schminke gehört und von Perücken, du Dummi? Glaube mir, die können viel, die im Fernsehen. Sie haben mich so toll geschminkt, dass ich wie Tarzan aussah. Echt, ich schwöre!“, läuft sie aufgeregt neben mir her.
„Da, schau!“
Sie überholt mich, stellt sich mir in den Weg und zieht den rechten Ärmel ihres Pullovers hoch. Ich sehe einen großen, blauen Fleck auf ihrem Oberarm.
„Hier haben mich die Elfenbeinjäger verletzt, als sie mich gefangen nahmen. Aber Chita hat mich dann zum Glück befreit.“
Manuela öffnet weit ihren Mund, legt ihre Hände herum, den Kopf in den Nacken, und brüllt: „AAUUAA HHUUAA!!! Das war der echte Tarzanschrei! Was sagst du jetzt?“
„Du hast Mundgeruch“, sage ich.
Manuela blitzt mich wütend an.
„Du bist nicht mehr meine beste Freundin“, zischt sie.
Sie dreht sich weg und setzt sich auf einen Baumstumpf.
„Und tschüss“, sagt sie böse, ohne mich anzusehen.
Etwas ratlos stehe ich da. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Manuela vorsichtig eine große Weinbergschnecke von dem Baumstumpf löst, auf dem sie sitzt. Die Schnecke zieht sich sofort in ihr Haus zurück. Manuelas linke Hand greift sich einen Stein und schlägt damit in kurzen Abständen auf das Schneckenhaus zwischen Zeigefinger und Daumen in ihrer rechten. Die Schale bricht. Ich sehe nackte, feuchte Schneckenhaut schimmern.
„Was machst du da?“, rufe ich fassungslos.
Manuela wirft den Stein weg und bricht konzentriert ein kleines Stück Schale vom Schneckenhaus ab, dann das nächste.
„Tja, meine Liebe, andere Schnecken haben auch keine Häuser“, sagt sie im sanften Tonfall.
„Spinnst du? Das arme Tierchen!“
„Ah, wegen einer Schnecke regst du dich auf! Aber dass mich die Elfenbeinjäger gestern schwer verletzt haben, das lässt dich völlig kalt!“
Manuela springt auf und wirft die Schnecke in einen Strauch.
„Du bist echt keine Freundin!“
Ich möchte etwas entgegnen, als plötzlich ein Radfahrer den Waldweg einbiegt und abbremst, als er uns sieht. Es ist Robert aus der Klasse über uns, den weder Manuela noch ich leiden können.
„Guten Tag, die Damen“, grinst er und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
„Auf Wiedersehen, der Herr“, Manuela ist aufgesprungen und zieht mich am Ärmel.
„Komm, Nora, gehen wir.“
Doch Robert fährt langsam neben uns her, als wir losgehen.
„Wie geht es denn deinem Vater? Hat er sich schon erholt?“, fragt er Manuela, die starr geradeaus blickt und schneller geht.
„Meine Mutter hat ihn nämlich gesehen, weißt du“, sagt Robert im Plauderton an mich gewandt, „gestern Vormittag, als sie auf dem Weg zur Arbeit war.“
„Hör auf, du Vollidiot!“, schreit Manuela mit plötzlich hochrotem Gesicht und schubst ihn mit dem Ellbogen, fest, so dass er beinahe vom Rad fällt.
„Ihr Vater ist mitten auf dem Gehsteig gelegen, stockbesoffen, am helllichten Tag …“
„Halt dein blödes Maul! Schleich dich, du Lügner, sonst …“ Manuela hat blitzschnell einen großen Stein in der Hand, hält ihn in Wurfposition.
Robert schaut Manuela an, den Stein, dann mich.
„Suche dir besser eine andere Freundin!“, ruft er mir zu, während er sein Rad wendet und wegfährt. „Die da ist ja echt das Letzte.“
Manuela schleudert ihm den Stein nach, er bleibt einige Meter von uns entfernt liegen.
„Und du bist das Allerletzte!“, schreit sie.
„Du glaubst doch diesem Lügner nicht“, sagt sie zu mir. Tränen treten in ihre Augen. Ungeduldig wischt sie sie weg, doch es kommen neue. Sie tut mir leid.
„Komm, vergiss es, gehen wir zu mir“, sage ich.
Schweigend gehen wir den Waldweg entlang, dann durch die zwei kurzen Gassen bis zu meinem Elternhaus.
Wenig später sitzen wir still in meinem Zimmer und malen.
Ich male eine wunderschöne Prinzessin, die allein in ihrem gepflegten Schlossgarten unter einem Baum steht. Manuela lässt auf ihrem Blatt Papier eine dunkelrote Sonne in einem wilden, tiefblauen Meer versinken. Wir verwenden Deckfarben.
Ich tauche den Pinsel ins Wasser, dann in die schwarze Farbe und beginne, zum Schutze der Prinzessin eine hohe Mauer um den königlichen Garten zu malen.
„Hast du gestern nach Tarzan „Superman in Not“ gesehen?“, fragt Manuela plötzlich.
„Superman? Hat es gestern nicht gespielt.“
„Doch, gestern war Superman im Fernsehen, um acht Uhr. Das weiß ich ganz sicher, denn ICH WAR Superman.“
Ich sage nichts, arbeite konzentriert an meiner Schlossmauer weiter.
„Du glaubst mir nicht! Dabei bin ich auch über euer Haus geflogen. Ich habe sogar an dein Fenster geklopft, aber du hast schon geschlafen. Über das ganze Dorf bin ich geflogen! Ich habe Saltos geübt, hoch oben, und dann – dann habe ich mich an der Kirchturmspitze verletzt. Es hat furchtbar wehgetan! Da, schau her, wenn du mir nicht glaubst!“
Sie springt auf, wendet mir den Rücken zu und zieht ihren Pullover bis zu ihren Schulterblättern hoch.
Erschrocken sehe ich blaue Flecken und rote Striemen auf Manuelas Haut.
„Und, glaubst du mir jetzt?“ Manuela zieht den Pullover wieder hinunter, dreht sich zu mir.
„Manuela“, flüstere ich schockiert. „Wer hat das getan? War das dein – ?“
„Du bist so gemein!“ Manuela schießen Tränen in die Augen. „Ich habe dir doch vorhin erzählt, wie es passiert ist. Nie glaubst du mir. Du bist nicht mehr meine beste Freundin!“
Sie greift fahrig nach ihrem Zeichenblatt, zerknüllt es und wirft es auf mich.
Abwehrend fange ich es mit der linken Hand und sehe, wie das Blau ihres Meeres vermischt mit dem Rot ihrer Sonne über meinen Handrücken rinnt.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 24120
Katzenmädchen
Geweint hatte sie, die Nachbarin vom dritten Stock, als du ihr zufällig im Stiegenhaus begegnet bist. Geweint vor dir, einer ihr relativ Unbekannten, und auf dein behutsames Nachfragen stockend erzählt, soeben erfahren zu haben, dass ihr Bruder einen schweren Autounfall gehabt hat, dass sie zu ihm wolle, für ein, zwei Wochen, mit dem nächstmöglichen Flug, nach Berlin, unbedingt, zum Bruder, der dort im Krankenhaus liege – sie wisse jedoch niemanden, der ihre Katze während dieser Zeit versorge. Du hast nicht eine Sekunde gezögert und ihr deine Hilfe angeboten.
Ben hast du nicht davon erzählt, um dir seine Kommentare zu ersparen.
Bereits einige Stunden später streichelst du die Katze in der fremden Wohnung, ein zartes Tier, das sich sogleich vertrauensvoll an deine Beine schmiegt. Du genießt es, das weiche Fell zu berühren.
In deiner Kindheit sind ständig Katzen um dich gewesen. In deinem Elternhaus, bei den Großeltern, bei Freundinnen. Du liebtest das.
Ben hingegen mag keine Haustiere.
Als du Katzenfutter in eine Schüssel gibst, hörst du ihn innerlich nörgeln: „Typisch für dich. Als ob du nichts anderes zu tun hättest. Du musst lernen, Nein zu sagen.“
Zugleich taucht ein Bild in dir auf: du, als kleines Mädchen in Omas Stube. Wie so oft streichelst du eines ihrer Kätzchen, das auf deinem Schoß liegt.
„Katzenmädchen“, sagt Oma, von einer Stickarbeit aufblickend, zärtlich zu dir. „Mein Katzenmädchen.“
Wie sanft doch Omas Stimme in deinem Inneren die tadelnde von Ben unterbrochen hat! Es treibt dir Tränen in die Augen.
Du hast deine Oma lange nicht gesehen, dein letzter Besuch bei ihr liegt Monate zurück. Damals ist Ben mitgekommen. Zum ersten und sicherlich letzten Mal. Er hat sich unwohl gefühlt in der überheizten, altmodischen Stube, hat sich geekelt, vor den Katzenhaaren am Sofa, vor Omas abgetragener Kleiderschürze, ihrem selbstgemachten Kompott, und sich kaum bemüht, dies zu verbergen. Oma hat offensichtlich nichts bemerkt, naiv hat sie euch beiden immer wieder Hände und Wangen getätschelt. Du hast dich geschämt. Für sie, für ihn.
Deine alte Welt bei Oma, deine neue Welt mit Ben, sie passen nicht zusammen.
Du solltest nun gehen. Jeden Moment wird Ben nach Hause kommen, heute mit seinen beiden Kollegen. Projektbesprechung. Du hast Sushi für sie vorbereitet. Die Kollegen werden Ben um dich beneiden: rare Momente, in denen Ben stolz auf dich ist.
Oma ist nie stolz auf dich. Ihre Liebe zu dir ist immer gleichbleibend, unabhängig von Leistung, Erfolg oder Misserfolg.
Dein Handy läutet. Ben. Du ignorierst seinen Anruf. Wie müde du plötzlich bist. Du legst dich auf die Couch im Wohnzimmer. Wohltuende Stille um dich. Die Katze springt zu dir. Du streichelst sie. Die Katze schnurrt, schläft dann ein auf deinem Bauch. Wieder Handyläuten. Nein, flüsterst du, nein. Du weinst.
Später dann, viel später, nimmst du das Handy, drückst auf eine Nummer, wartest sehnsüchtig. „Oma“, sagst du leise, als du den vertrauten Klang ihrer Stimme hörst.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 24110
LIES MICH!
Roman schlendert durch die Innenstadt, als ein Buch direkt vor ihm auf den Gehsteig knallt. „Raus damit!“, hört er zugleich eine Frauenstimme aus einem weit geöffneten Fenster im dritten Stock kreischen. „Raus!“ – „Raus!“ – und mit jedem weiteren „Raus!“ wird temperamentvoll ein Buch aus dem Fenster geschleudert. Ein junger Mann stürzt aus dem Haustor und beginnt hastig, die Bücher aufzusammeln.
„Meine Freundin ist wütend auf mich, weil ich lieber lesen als mich mit ihr unterhalten will“, klärt er Roman unaufgefordert auf, während ihnen beiden nun gelbe Reclam-Hefte um die Ohren flattern. „Tja, meine baldige Ex-Freundin ist sehr temperamentvoll“, fügt der Mann seufzend dazu. Roman, der sich weder mit aus Fenstern fliegenden Büchern noch mit Konflikten fremder Leute auseinandersetzen, sondern in Ruhe seinen obligatorischen Nachmittagsspaziergang fortsetzen will, möchte diesen dramatischen Ort rasch und dezent passieren, als ihm ein schweres Buch auf den Kopf fällt und dann vor seinen Füßen landet.
„LIES MICH!“, kann Roman noch den in Goldbuchstaben gedruckten Titel des dicken, rotgebundenen Buches entziffern, bevor ihm schwarz vor Augen wird.
„Oh, wie furchtbar!“, hört er den jungen Mann entsetzt rufen. „Ich hoffe, Sie sind nicht verletzt!“
„Aber nein, alles gut“, beeilt Roman sich, diese Gefahrenzone nun endlich zu verlassen. „Alles gut, alles gut.“
Und er geht, nein, er schwebt nun förmlich weiter, fühlt sich trotz Brummschädel so ungewohnt beschwingt, dass er ernsthaft überlegt, ob eventuell durch die Wucht, mit der dieses schwere Buch seinen Kopf getroffen hat, irgendein bis dahin schlummerndes Areal seines Gehirnes aktiviert worden ist und dies jene wunderbare Leichtigkeit in ihm auslöst.
„Lies mich, lies mich …“, summt er fröhlich die beiden Wörter vor sich hin, die golden vor seinem inneren Auge leuchten.
‚Warum eigentlich nicht?‘, denkt Roman übermütig, ‚warum eigentlich nicht wieder einmal ein Buch lesen?‘
Er überlegt, wann dies das letzte Mal der Fall gewesen ist. Es liegt tatsächlich viele, viele Jahre zurück. Roman ist ein Spaziergänger, ein Billardspieler, ein Katzenfreund, ein Pfeifenraucher. Roman ist vieles, aber kein Leser. Er biegt in die Fußgängerzone ein und schreitet feierlich auf eine kleine Buchhandlung zu. Höflich lässt er einer alten Frau den Vortritt, die ebenfalls in den Laden will und folgt ihr hinein. Drinnen grüßt er lächelnd die telefonierende Buchhändlerin, und nickt freundlich einem älteren Mann zu, der tief in einem Ohrensessel und in ein Buch versunken ist. Der Lesende, die alte Frau, die sogleich zielsicher ein Regal mit der Kennzeichnung Lyrik ansteuert, und er, Roman, sind die einzigen Kunden.
Roman sieht sich um und stellt sich schließlich vor eine Bücherwand mit der Aufschrift Romane – nomen est omen. Als er seinen Blick über die Bücher in den Fächern schweifen lässt, bleibt dieser auf einem ihm bekannten, dicken roten Buch hängen.
„Ah!“, entfährt es Roman überrascht und „He!“, ruft er empört, als ihm plötzlich der vertraute, goldene Titel „LIES MICH!“ ins Auge springt. Seine gute Laune verschwindet schlagartig. Tiefste Beunruhigung macht sich stattdessen in ihm breit.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigt sich die Buchhändlerin, die ihr Telefonat beendet und sich kundenfreundlich zu Roman gesellt.
„Ich bitte darum! Stellen Sie sich vor: Der Titel dieses Buches da ist mir soeben ins Auge gesprungen. Wenn Sie so nett wären …“
„Aber gerne. Dieses hier?“ Sie greift nach dem roten Buch. „Igitt! Was klebt denn da Ekliges auf dem Cover? Und warum steht da kein Titel darauf?“
„Das Eklige“, räuspert sich Roman beleidigt, „ist mein Blick, der an dem Buch hängen geblieben ist. Und der Titel ist mir, wie schon gesagt, vorhin ins Auge gesprungen. Bitte helfen Sie mir, ihn wieder herauszufischen, es juckt entsetzlich!“
„Ich fische doch nicht in fremden Augen“, weicht die Buchhändlerin, das rote Buch zwischen spitzen Fingern, hinter ihr Kassapult. „Ich ersuche Sie, Ihr Problem eigenhändig zu lösen.“
„Aber ich schaffe es nicht ohne Hilfe“, klagt Roman, und zwinkert mitleiderregend. „Und schließlich entstand mein Problem aufgrund eines Buches Ihrer Buchhandlung.“
„Junger Mann, ich will mich ja nicht einmischen“, mischt sich der ältere Mann im Ohrensessel ein, „aber ich finde Ihr Jammern so dermaßen absurd. Offensichtlich haben Sie keine Ahnung von Büchern. Der Sinn und Zweck guter Bücher ist doch, dass sie uns zunächst einmal ins Auge springen. Und dann, beim Lesen, da sollen sie uns im Innersten treffen, uns aufwühlen, uns den Atem, den Schlaf, ja, sogar den Verstand rauben! Dieses hier zum Beispiel“, hebt er das Buch in seinen Händen demonstrativ hoch, „dieses Buch liegt mir schon nach wenigen Sätzen im Magen, es geht mir an die Nieren – und, jammere ich deswegen?“ Er schnauft verächtlich. „Im Gegenteil, ich freue mich darüber! Sie sollten dankbar sein, wenn Ihnen ein Buch ins Auge sticht, denn dann will es von Ihnen gelesen werden! Also kaufen Sie es gefälligst, anstatt sich zu beklagen, und setzen Sie sich mit ihm auseinander!“
Und sichtlich, erschöpft nach seinem langen Plädoyer, verschwindet der Mann wieder hinter seinem Buch.
„Das sind die Kunden, die wir brauchen“, seufzt die Buchhändlerin zufrieden, und sagt dann an Roman gewandt: „Auch ich empfehle Ihnen, jenes Buch zu kaufen, an dem Ihr Blick kleben geblieben ist. Das Lesen dieses Buches wird Ihnen garantiert die Augen öffnen. Es kostet zwanzig Euro.“
Flink befördert sie das rote Buch in eine Papiertasche und reicht sie Roman.
„Sie erlauben doch –“, drängt sich die alte Frau vor. „Sie erlauben doch, dass ich zuvor diesen Lyrikband bezahle? Wissen Sie, ein Gedicht darin hat mich direkt ins Herz getroffen.“
„Aber natürlich, bitte, sehr gerne“, flüstert Roman und reibt beschämt so unauffällig wie möglich sein Auge.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 24068
Überraschungen am Heiligabend
Kira wälzt sich genüsslich im Schnee und läuft dann freudig weiter durch den Park. Unsere kleine Malteserhündin liebt ihre Gassi-Runden vor allem im Winter. Ungewohnt still ist es heute, am Nachmittag des Heiligabends. Ich treffe keinen einzigen Menschen im Park, nicht einmal Rudi, den Obdachlosen, der sonst immer um diese Zeit die Tauben füttert. Nur ein Jugendlicher schlurft beim Rückweg an mir vorbei, in ganz offensichtlich schlechter Laune: gerunzelte Stirn, finsterer Blick, verkniffener Mund. Ich muss an die Zeit denken, als ich in seinem Alter war und Weihnachten zuhause mit meinen Eltern und mit Tante Berta feierte. Vielleicht erwartet diesen missmutigen Jungen Ähnliches wie mich damals.
Heiligabend mit meinen Eltern, das wäre ja sehr schön gewesen, aber mit Tante Berta – tja, das war, gelinde gesagt, der Alptraum eines jeden Jugendlichen. Da gab es Tante Bertas Umarmungen, bei denen man in eine Wolke von Lavendelduft eingehüllt wurde, und ihre unangenehmen Fragen, von denen jene wie: „Erzähl mal, wie geht es dir in der Schule?“ oder „Jetzt mal ehrlich, Jonas, hast du schon eine Freundin?“, noch die harmloseren waren. Im fortgeschrittenen Weihnachtspunsch- und Eierlikörstadium erzählte sie dann langatmige Anekdoten, die niemanden interessierten, über die sie selbst sich jedoch köstlich amüsierte.
Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Viele Kilometer liegen zwischen Tante Berta und mir. Den Heiligabend verbringe ich seit Jahren ausschließlich mit meiner kleinen Familie, meiner Frau Klara und unserer Tochter Christie, die außerdem auch heute ihren neunten Geburtstag feiert. Meine Eltern werden wir morgen besuchen, und Tante Berta wird wie jedes Jahr kurz angerufen.
Ich biege mit Kira in die ruhige Straße, in der wir wohnen, und öffne wenig später die Wohnungstür. Kira läuft mir voraus durch den Vorraum Richtung Wohnzimmer. Ich ziehe meine Jacke aus und schnuppere in Erwartung des Duftes nach Tannenzweigen oder gar schon nach dem eines köstlichen Weihnachtsbratens. Doch ein völlig anderer Geruch als erwartet steigt mir in die Nase. Es riecht seltsam muffig, wie nach ungewaschener Kleidung.
Klara kommt aus der Küche zu mir, sie hat einen seltsam ratlosen Ausdruck in den Augen und rote Flecken im Gesicht. Die Flecken bekommt Klara immer, wenn etwas Unerwartetes, Stressiges passiert.
„Was ist los, Liebling?“, frage ich besorgt. „Ist etwas mit Christie?“
„Christie geht’s blendend. Sie unterhält sich im Wohnzimmer mit unserem Gast.“
„Mit unserem Gast? Aber wir haben doch niemanden eingeladen. Mit welchem Gast denn?“
Klara seufzt. „Mit Rudi, dem Obdachlosen. Du weißt schon, der Bärtige, der immer im Park die Vögel füttert. Christie hat ihn eingeladen. Sie sagte, dass du gemeint hast, es wäre für dich das Allerschönste, Weihnachten gemeinsam mit einsamen Menschen zu feiern.“
Ich bin sprachlos. Tief atme ich durch und gehe ins Wohnzimmer. Da sitzen eine strahlende Christie und ein verwahrloster Rudi auf dem Sofa. Kira liegt neben ihm und lässt sich von ihm streicheln. Christi springt auf und umarmt mich, und zugleich überfällt mich ein dankbarer Wortschwall von Rudi. Überschwänglich beteuert er, wie sehr er es zu schätzen wisse, eingeladen worden zu sein, und er bedanke sich sehr für die persönlichen Zeilen, die ihm meine Tochter gestern zu seiner größten Überraschung und Freude überreicht habe.
Bevor ich zu Wort kommen kann, sagt Klara, die neben mich getreten ist und augenscheinlich ihre Fassung wiedergewonnen hat, freundlich: „Vor der Bescherung und dem Essen ziehen wir uns immer um. Komm, Rudi, ich zeige dir das Badezimmer. Jonas schenkt dir gerne Kleidung von sich, stimmt’s, Schatz? Ihr scheint dieselbe Größe zu haben.“
Und schon geht sie mit Rudi, der mir im Vorbeigehen auf die Schulter klopft, aus dem Wohnzimmer und Richtung Badezimmer.
„Christie“, sage ich leise zu meiner Tochter, „Was ist dir da bloß eingefallen? Du kannst doch nicht einfach wildfremde Leute zu uns einladen?“
„Aber heute ist Weihnachten und mein Geburtstag und Rudi ist so nett“, sagt sie. „Er freut sich so sehr, bei uns zu sein. Er ist ein Supergast. Und du hast ja zu mir gesagt, zu Weihnachten soll man besonders an die denken, die einsam sind, und dass es für dich das Allerschönste wäre, mit ihnen zu feiern.“
Das habe ich bestimmt nicht gesagt, will ich sagen, doch da fällt es mir ein. Vorgestern haben Christie und ich über Weihnachten geredet. Das heißt, Christie hat geredet, und ich habe zugehört, mit nur einem Ohr, weil ich gleichzeitig ein wichtiges Fußballmatch verfolgt habe. Dunkel erinnere ich mich, dass sie gesagt hat, wie schön es sei, dass sie am selben Tag wie das Christkind geboren ist, doch es sei auch etwas traurig, weil sie nie eine Geburtstagsparty haben könne, weil natürlich alle ihre Freundinnen Weihnachten mit ihren Familien zuhause feiern. Aber eigentlich könne sie ja diejenigen einladen, die zu Weihnachten allein wären. Und dann weiß ich noch, dass ein ungerechtfertigter Elfmeter gegeben wurde und ein ärgerliches Tor für die Gegenmannschaft gefallen ist, danach war wieder Christies Stimme an meinem Ohr:
„… wäre das nicht am allerschönsten?“ „Jaja, das wäre am allerschönsten“, habe ich geantwortet, obwohl ich den Anfang des Satzes nicht mitbekommen hatte, und Christie hat mich glücklich umarmt und ist in ihrem Zimmer verschwunden.
Ich seufze wieder, dann sage ich: „Gut, Christie, nun ist es so, wie es ist, machen wir also das Beste daraus. Feiern wir gemeinsam mit Rudi ein schönes Weihnachts- und Geburtstagsfest.“
Eine halbe Stunde später wähne ich mich in einer dieser Vorher-nachher-Serien, die Klara manchmal ansieht. Ein frisch geduschter, dezent parfümierter Rudi erscheint. Sein ungepflegter Bart ist abrasiert, das weiße, lockige Haar ist gekämmt. Mein schwarzer Rollkragenpulli und meine schwarze Lieblings-Jeans stehen ihm hervorragend. Er sieht um Jahre jünger aus.
Klara schenkt uns drei Gläser Sekt und einen Kindersekt für Christie ein.
Wir stoßen an und plaudern Belangloses. Dann erzählt Rudi aus seinem Leben. Er erzählt, dass er noch nicht lange obdachlos ist, dass er noch vor einem Jahr eine kleine Wohnung und einen Arbeitsplatz besessen hat, doch dann sei es schnell gegangen. Scheidung, Verlust der Arbeit. Die Exfrau bekam die Wohnung und die Sparbücher, und er, der Rudi, stand plötzlich mit nichts vor dem Nichts.
„Tja“, sagt Rudi, „mit den Frauen hatte ich nie Glück. Nur eine hat es gegeben“, seine Augen leuchten sehnsüchtig auf, „eine, die wäre die Richtige für mich gewesen. Betty. Wir sind in dieselbe Volksschule gegangen. Jeden Tag habe ich ihr die Schultasche getragen und ihr in der Pause einen Kakao gebracht. Betty hat mir gesagt, was ich für sie machen soll, und ich habe ihre Wünsche erfüllt. Das brauche ich, eine Frau, die den Ton angibt, mich aber nicht ausnutzt.“
„Und wo ist Betty jetzt?“, fragt Christie.
„Das weiß ich nicht, Kind, die Stadt ist groß. Vor ungefähr zwei Jahren habe ich sie zufällig am Bahnhof getroffen. Mit ihrem Mann. Sie hat mich angesehen, hat den Kopf geschüttelt und gesagt: „Du siehst nicht gut aus, Rudolf Knopf. Da stimmt etwas nicht in deinem Leben. Achte besser auf dich.“ Dann war sie wieder weg, sie und ihr Mann sind in einen Zug gestiegen.“ Rudi seufzt.
Da klopft es plötzlich laut an der Wohnungstür. Alarmiert sehen Klara und ich uns an, dann schauen wir beide zu Christie.
„Christie“, sage ich, „hast du noch jemanden eingeladen?“
Christie lächelt mich lieb an. Es klopft wieder, und Klara geht in den Vorraum zur Tür. Kurz darauf ist eine laute Frauenstimme zu hören.
„Danke für die Einladung, Frau Nachbarin, die Ihre Tochter mir überreicht hat. Freut mich außerordentlich. Sie wissen ja, dass ich allein bin, und allein sein ist grad am Heiligabend nicht schön.“
Es ist eindeutig Elsbeth Hasenschreck, die nebenan wohnt. Seitdem vor einem Jahr ihr Mann gestorben ist und vor allem seit ihrer Knieoperation im Sommer braucht sie des Öfteren unsere Hilfe. Klara erledigt Besorgungen für sie, und ich habe erst kürzlich etwas bei ihr montiert, und war froh, als ich damit fertig war, denn Elsbeth Hasenschreck spricht immer im unangenehmen Befehlston, sogar ihr ‚Danke schön‘ klingt wie eine Zurechtweisung.
Anklagend sehe ich zu Christie und schüttle leicht den Kopf. Warum lädt meine Tochter ausgerechnet die herrische Elsbeth ein?
Da bemerke ich, dass Rudi, plötzlich blass im Gesicht, aufgeregt aufgesprungen ist, und sich seine Wangen purpurrot verfärben, als Elsbeth Hasenschreck auf Krücken das Wohnzimmer betritt.
Stumm sehen sich die beiden an. Rudi lässt sich ins Sofa sinken und greift nach seinem Sektglas.
„Das würde ich bleiben lassen, Rudolf Knopf. Das Trinken hat dir nie gutgetan“, sagt unsere Nachbarin streng.
„Du hast recht, Betty“, sagt Rudi und stellt das Glas sofort wieder auf den Tisch.
Erstaunt sehen Klara, Christie und ich von einem zum anderen.
„Ist Frau Hasenschreck die Betty, von der du uns vorhin erzählt hast?“, kombiniert meine Tochter klug und hüpft aufgeregt auf dem Sofa. „Die, der du immer die Schultasche getragen hast und in der Pause Kakao gebracht hast? Die, die du am Bahnhof getroffen hast?“
Rudi nickt. Er wirkt nach wie vor fassungslos.
„Was erzählst du meinen Nachbarn für Unsinnigkeiten, Rudolf Knopf?“, fragt Elsbeth Hasenschreck streng. „Und überhaupt, warum bist du hier? Wer hat das arrangiert?“
„Ich, ich“, ruft Christie übermütig, „ich war das! Weil heute Weihnachten ist – und mein Geburtstag!“
„Jetzt ist mir alles klar“, flüstert Rudi, und lässt sich ins Sofa sinken. „Du bist das Christkind, Christie.“
„Das stimmt, Rudi. Christie ist tatsächlich unser Christkind“, sagt Klara stolz. „Ihr Geburtstermin wäre ja erst Mitte Jänner gewesen, aber Christie kam ausgerechnet am Heiligabend zur Welt.“
„Wie auch immer“, sagt Elsbeth Hasenschreck, „Alles Gute zum Geburtstag, Kind!“
Und an mich gewandt: „Jonas, jetzt nehmen Sie mir doch endlich meine schwere Tasche ab, bevor ich zusammenbreche. Es sind Geschenke drin, die legen Sie unter den Christbaum.“
„Apropos Geschenke“, sagt Klara, „ich finde, es ist höchste Zeit für die Bescherung, was meinst du, Christie?“
„Jaaa!!“
Beim Essen nach der Bescherung werden wir Zeugen eines echten Weihnachtswunders und einer rührenden Liebesgeschichte. Rudi und Betty wirken so vertraut miteinander, als ob sie ihr Leben lang jeden Tag zusammengewesen wären. Als unsere Nachbarin erfährt, dass Rudi seit gut einem Jahr keine Unterkunft hat, sagt sie resolut:
„Damit ist es jetzt vorbei, Rudolf Knopf. Ab sofort wohnst du bei mir. Ich habe Platz genug und brauche dringend jemanden, der meine Einkäufe erledigt und mir im Haushalt behilflich ist. Freie Kost und Logis für deine Hilfe. Bist du einverstanden?“
Rudolf schweigt und räuspert sich ein paar Mal.
„Ja, natürlich, Betty, furchtbar gerne, danke, ich – ich bin einverstanden“, stottert er, und seine Augen glitzern und strahlen heller als die Weihnachtslichter am Baum.
Es ist ein fröhlicher, schöner Abend mit Rudi und Betty. Gegen zwanzig Uhr wollen sich die beiden verabschieden, und wir begleiten sie in den Vorraum. Rudi bedankt sich zum wiederholten Mal bei Klara, Christie und mir, als Kira plötzlich die Eingangstür anbellt. Ein paar Momente später läutet es anhaltend draußen an der Tür.
„Christie?!“, mir schwant Böses. „Hast du noch jemanden eingeladen?“
Christies strahlendes Gesicht erklärt alles. Und dann geschieht ein fliegender Wechsel. Rudi und Betty verlassen unsere Wohnung und eine mir sehr vertraute Person betritt diese, einen großen Rollkoffer hinter sich herziehend. Christie und Klara werden geherzt und geküsst, dann hüllt mich eine vertraute Wolke von Lavendelduft ein. Es ist tatsächlich Tante Berta.
„Na endlich sehen wir uns wieder, mein Junge“, hält sie mich fest umarmt. „So lange habe ich auf eine Einladung gewartet! Aber nun ist sie ja, noch dazu auf so reizende Art und Weise, durch eure liebe Christie, gekommen. Da konnte ich natürlich nicht nein sagen, heute Morgen habe ich mich in den Zug gesetzt – und ja, ehe du mich fragst, ich habe Zeit und kann einige Tage bei euch bleiben!“
Mir verschlägt es die Stimme, ich höre Klara herzlich antworten, wie sehr sie sich über ihren Besuch freue. Dann hakt sich Tante Berta bei mir unter, schleift und trägt mich beinahe mit sich ins Wohnzimmer zum Sofa.
Zufrieden lässt sie sich mit mir darauf nieder und sagt:
„So, mein Junge, jetzt schenke mir mal einen kleinen Eierlikör ein, und dann erzähle mir in Ruhe. Wie geht’s Christie in der Schule? Und wie läuft’s denn so in deiner Firma? Und sag mal, bist du noch immer so verrückt nach Fußball?“
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23188
Über Nacht
die Lage verändern
Bilder und Töne
verschieben
über Nacht
die Lage verändern
in der Herzgegend
Vergessenes
Geträumtes
fließt
wie von selbst
sickert ein
in unser Gewebe
in unsere Vertiefungen
in unsere Endungen
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 23164
Hintertreppen
ist es ein Beginn
das Träumen vom Erwachen
und ist es Wiederholung (es zu äußern)die Möglichkeiten
auf Vogelfedern
zwischen Buchseiten
unter Baumrinden
zu lebendas Verlangen
nach Zwischentönen und
das Bemüht-Seinwer weiß schon, woher
die Gedanken an Sicherheiten kommen
und wo sie zerfallenam Anfang steht
immer (und)
ein blühender Baum
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23165