Freistadt im Mühlkreis / Österreich Festival – Der Neue Heimatfilm – 28. August 2016
Andrej Krementschouk
Jahrgang 1973
Geburtsort Gorky, Russland
(Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, im Atlas nachzusehen, wo Gorky genau liegt.)
Den russischen Fotografen Andrej Krementschouk kennengelernt. Er steht fest auf dem Boden, in Sandalen und knielanger Hose, aufrecht, kräftig. Da, wo ich herkomme, nennt man so einen ein g‘standnes Mannsbild. Ich habe gelesen, er hat in seiner Jugend geboxt. Sein Blick ist gerade, unverstellt, zugewandt. Er schaut direkt in den Raum, auf die Menschen, in die Gesichter, und er sieht. Fassaden durchschaut er, sein Blick geht tiefer, und er ist auf dem Weg zu erkennen, aber beiläufig, intuitiv, ohne Absicht, und das ist entscheidend.
Aufrichtig schaut er, ohne zu werten. Er hat schon viel gesehen, vielleicht schon alles, wer kann es wissen, und er hat gelernt, die Menschen, das Leben, die Welt, die Sehnsüchte wie die Süchte, die Katastrophen, die Waffen, die Maschinen, die Katzen, die Hunde, die Ratten und den Goldfisch so zu nehmen, wie sie eben sind. Dinge passieren, weil sie passieren. Wichtig ist das Beobachten, und Krementschouk kann beobachten. Ihm gelingt es sogar, den entscheidenden Augenblick mit der Kamera festzuhalten und auf Zelluloid zu bannen. Sagt man das heute überhaupt noch so? Krementschouks Fotos zeigen einen Ausschnitt aus dem Leben, aus dem wahren, dem unverstellten, dem bloßen, das bar aller westlicher Illusion ist, in der wir uns ach wie bequem eingerichtet haben: mit unserer Arbeit, unseren Berufen, unserem Wohlstand, unseren schönen Wohnungen und Autos, unserem Fortschritt, unserer Wirtschaft und Industrie, die alle Lebensbereiche steuert – die Nahrungsproduktion und das Sterben – , alles muss sich rentieren.
In Krementschouks Fotografien sehe ich das Leben, einfach so, ungeschönt und unmittelbar, nackt. Und da fängt es an, mich wieder zu interessieren. Es sind Bilder, in die man eintauchen kann, die mich in den Bann ziehen, wo es so viele Details zu entdecken gibt, die Erinnerungen wecken, Assoziationen schaffen, schmunzeln und sogar lachen lassen, Hoffnungen wecken, aber auch vor der Unausweichlichkeit des Abgrunds nicht Halt machen. Die Neugier des Fotografen ist überall zu erkennen. Es ist seine eigene Neugier, die ihn aufbrechen lässt, an Orte zu gehen, die anders sind. Seine Heimat Russland, die ich nicht kenne, in der Menschen leben, die ohne Fürsorge und Vorsorge ihr Auskommen suchen und mitunter nicht finden. In ihren Gesichtern ist so viel zu lesen. Sie machen neugierig auf das Leben, das augenfällig schwer ist, aber dennoch so verlockend und unbedingt wert, daran festzuhalten.
Der Fotograf schaut, bevor er durch die Ausstellung führt, beiläufig in die Runde. Ich habe das Gefühl, dass er die aufgesetzten Gesichter durchschaut, derer es viele gibt, er blickt auf das, was jeder gern verbergen möchte, und das ist es, was den Menschen ausmacht.
Die Fotografien zeigen weder Kulissen noch Inszenierungen, in denen Menschen posieren. Es sind scheinbar beliebige Momentaufnahmen, in denen so viel Menschliches zu sehen ist. Ich glaube sogar, dass darin alles enthalten ist, was es gibt. Ich wüsste nicht zu sagen, was fehlt. Es ist das, was man in der Religion seit alters als Seele bezeichnet, und ich kenne kein anderes Wort, das es besser trifft, was ich meine. Krementschouks Bilder sind beseelt. Jeder Winkel, jedes Detail, jede Flasche und jeder Stofffetzen erzählt eine Geschichte. Genauso verhält es sich mit der Haltung des Körpers, der Neigung des Kopfs, der Kleidung, ganz zu schweigen von den Gesichtern, dem Mund, den Augen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes beredt. Der Fotograf zaubert die Seele hervor, die immer und in allem da ist, aber eben erkannt sein will. Im richtigen Augenblick, ich habe mal gelernt, dass man den Kairos nennt, aber wen interessiert so ein Begriff?, im rechten Augenblick drückt der Fotograf ab, löst er aus, erwischt die Seele, wie sie gerade unbeobachtet spazieren geht und macht etwas sichtbar, das mich ungemein anspricht.
Krementschouk wählt seine Motive nicht geschäftstüchtig, wenigstens möchte ich das gerne glauben. Er überrascht mit einem Schnappschuss, und das Objekt weiß gar nicht, dass es vom Objektiv ausgewählt und festgehalten ist. Welches Glück! Etwas kann nur gelingen, wenn keine Absicht dahinter steckt, wenn es umsonst geschieht, einfach so.
Da ist das Bild mit dem nackten Mädchen. Der Unterleib steht im beengten Raum eines kleinen Zimmers. Vor dem Oberkörper hält es das bekannte Bild mit den drei reitenden Tataren, sicher eine billige Reproduktion. Der Kopf des Mädchens ist abgeschnitten, so nennt man es doch in der Sprache der Fotografen, wenn etwas nicht im Bild ist. Der Kopf des Mädchens ist abgeschnitten. Links daneben sitzt die weiße Katze auf einem Podest neben dem Fenster, vornehm, adelig, weise, schicksalverheißend, schön und lieb, kuschelig, mit aufmerksamem Blick in die Linse. Das Futterschälchen steht vor den nackten Beinen des Mädchens. Auf der rechten Seite Bügelbrett und Bügeleisen. Alles muss seine Ordnung haben. – Vor dem Fenster ein Vorhang wie beim Theater, golden, zur Seite gezogen. Aber die Szene spielt sich hinter der Bühne ab, mit Blick ins Zimmer. Das Draußen, die Straße, die Welt ist ausgesperrt.
Und dennoch ist in diesem Ausschnitt alles, die ganze Welt: die bloße Scham des Mädchens und die wohlfeile Wohnung, bereit für den Mann, der nicht eintritt. Schwer, anstrengend, mühsam ist es, sich hartnäckig bereitzuhalten für den Mann, der nicht kommt, der nicht zu finden ist an diesem Ort, in dieser Stadt, deren Namen ich vergessen habe. Der Fotograf erwähnt erklärend, dass die Stadt am Meer liegt, aber an keinem Meer, wo man Urlaub macht, sich beim Schwimmen erfrischt und dem Rauschen lauscht. Es ist ein Meer mit einer U-Bootwerft, in der die Männer hart arbeiten und ihre Kräfte verbrauchen. Sie vergeuden ihre Kräfte für billiges Geld. Sie unterdrücken ihre Sehnsucht für hart verdienten und geringen Lohn. Was bleibt ihnen anderes übrig, als madigen Wodka zu trinken und darin Stück für Stück das Leben zu ersäufen. Wo ist der Mann zu finden, auf den das Mädchen mit der Katze Jahr um Jahr sehnsüchtig wartet?
Andere Fotografien erzählen andere Geschichten. Auf ihnen sind Gesichter eingefangen, Gesichter, die noch nicht zur Ikone geworden sind. Gesichter, in denen noch die Sehnsucht funkelt. Die bereit sind, das Glück mit beiden Händen zu ergreifen und für immer festzuhalten, wenn es sich denn einmal dazu herabließe, sich blicken zu lassen. Menschen, die aufbrechen wollen, und da es keinen rechten Grund und kein wahres Ziel für diesen Aufbruch gibt, nützen sie die Gelegenheit zu einer Wallfahrt, die tagelang durch die ländliche Natur und durch Dörfer führt. Dem Popen ist es nicht wert mitzupilgern, das Ziel vermag ihn nicht mehr zu locken. Wer kann es ihm verübeln?
Militärparaden geben vor, Boten einer besseren Zukunft zu sein. Es ist aufregend, ihnen beizuwohnen. Krementschouk fotografiert die Zuschauer, die auf Absperrungen klettern, auf martialische Denkmäler, um einen guten Blick zu haben. Eine Frau im Vordergrund trägt einen grünen Sommermantel mit Rüschen am Kragen, tadellos gebügelt. Daneben ein Mädchen mit dem gleichen Modell bekleidet. Die Gesichter der Zaungäste sind freudig, erfrischt, zuversichtlich, vielleicht euphorisch, wenn sie es nicht bereits besser wüssten.
Menschen sind in Bewegung, eilen und hetzen durch die Stadt, jetzt ist es Moskau, sie haben es wichtig, müssen etwas erledigen, ganz dringend. Vielleicht ist es auch eine Sonderzuteilung begehrenswerter Güter, die es unbedingt zu ergattern gilt, um es leichter, bequemer, genussvoller zu haben. Sie eilen sich, sie hetzen. Und mir wird immer klarer, dass alle danach trachten, das Leben zu spüren, so viel wie irgend möglich. Sie wollen das Leben zu Gesicht bekommen, es einatmen, es trinken, essen, schmecken, hören, spüren, irgendwie und möglichst viel davon. Und wenn das Leben nicht zu dir kommt, musst du dich selbst auf den Weg machen, und wenn zufällig einer wie Krementschouk beim Umherschweifen seiner weichen Adleraugen auf dich aufmerksam wird, ist das ein Glück. Er kann den Augenblick einfangen, in dem du dem Leben auf der Spur bist, rastlos, nimmermüde.
Claudia Kellnhofer
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