IDEAL I

Wenn du schön bist, hört dir jeder zu.

So lautete damals das Memo auf ihrem Freezer.

Heute nennen sie ihre Friends >Beauty<.

Dafür arbeitete sie aber auch unaufhörlich. Der Name also war Verdienst. Sie arbeitete daran selbst, wenn sie schlief – 24 Hours/Day.

Am Anfang übernahm sie den Work-out-Plan ihrer Mutter und glich ihn ihrem Bodystatus an. Da sie von den ganzen Child-OPs nichts hielt (bei ihrer Tante hatte es einmal eine Art Unfall gegeben, weswegen dieselbe nun nicht mehr in Public erscheinen durfte), lag alles bei ihr.

Wenn du hart genug arbeitest, kannst du alles werden.  (Ein anderes Memo auf ihrem Freezer.)

Mithilfe ihrer Watch, die sie zu ihrem 12. Geburtstag geschenkt bekommen hatte und sie jederzeit in Kenntnis über ihren Bodystatus setzte, hielt sie fortan ihr Leben in Balance.

2 Times/Day besuchte sie das Fitnesscenter (noch früher sogar 3 Times), morgens Kraft, abends Ausdauer – ein strikter Dietplan, den sie von Ernährungsberaten empfohlen bekommen hatte (und der natürlich veganer Art war), sorgte dabei für genug Energy, wobei auch die kleinen Sünden miteinberechnet wurden, um sie vor einem Sixpack und unerwünschten Muskelzügen zu bewahren.

Auch dafür lieferte die Watch Tipps über eine App.

Denn wer ein Star am Medienhimmel werden wollte,  hatte eine bestimmte Quality zu erfüllen – musste sozusagen ein Vorbild sein. Dies war auch der Grund, weshalb sie sich mit 20 doch zu Beauty-OPs entschloss.

Nicht der Weg, sondern der Wille bringt einen ans Ziel. (Another Memo.)

>Wellness< sei nur etwas für die Middleclass, meinte sie damals, jeder ginge heutzutage auf Kur.

Sie nicht.

Das Lifting war unumgänglich und schnell erledigt gewesen, die Implantate für Arme und Beine quasi notgedrungen (ihre Augen waren bereits blau, weshalb sie diese so beibehielt), allerdings wurde etwas von ihrem Busen weggenommen – 1. da er nicht den verlangten Maßen entsprach, 2. um im BMI, trotz des zusätzlichen Gewichts des Silikons, in der goldenen Mitte zu liegen.

Der Name >Beauty< war verdient!

Sie hatte sich in den Spiegel gesehen und größte Genugtuung verspürt.

Denn Spiegel lügen nie.

Ihr Rank in der Society stieg von Today auf Tomorrow. Ihre Friends, die für gewöhnlich nur 5 Times/Week Sport betrieben, schämten sich plötzlich ob ihrer Hässlichkeit und nahmen die Metamorphose Beauty’s als zusätzlichen Ansporn. Ab sofort holten sie Rat bei ihr ein, vor allem über die Topics Fitness oder Health, aber auch über alle anderen.

Modisch gekleidet – wie ihr der Fernseher versprach – und in High Heels erklomm Beauty wenige Monate später die High Society. Gleichzeitig legte sie weite Strecken auf ihrer Karriereleiter zurück – Feministen huldigten sie als Beispiel dafür, dass der Gipfel der Emanzipation erreicht war.

Heute (sie ist mittlerweile 32) hält sie Presentations im Topic >Angleichung<, einer Fortsetzung der >Gleichberechtigung< des 21. Jhdts. Als Managerin dieser neuen Businesswelle unterrichtet sie global Companies im richtigen Verhalten zwischen Male und Female.

Selten nur kommt sie dadurch nach Hause …

Wenn sie es tut, so liest sie auf ihrem Freezer noch immer dieselben Zeilen. Richtig happy ist sie damit nicht. Da die durchschnittliche Lifeexpectancy erst bei ca. 117 Jahren liegt, steigt mit der Zeit ihr Unmut.

Ihre SI (Second Identity) im Internet ist daher seit Neuestem 3 Jahre jünger.

Beauty seufzt, schließt die Social Networks für heute und begibt sich zu Bett. Auf ihrem Beistelltisch liegt das einzige Buch in ihrer Wohnung: das E-Book.

Märchen hat sie gerne. Und die Story von Schneewittchen ist ihr die liebste.

Aber jetzt war keine Zeit für Literatur …:

Neben ihr der sich erwärmende Body. Eine Hand, bestimmt wie keine andere, streicht ihr über den Rücken.

Sie lächelt.

„Du lachst nie“, meint sie dabei – erfüllt von Bewunderung ist die intime Stimme: „Darum bekommst du auch keine Falten.“ Erregt öffnet sie ihr Nachtdress und präsentiert sich für ein, zwei Augenblicke den leeren Augen. Mit ihrem Klatschen geht das Licht aus, der unter ihr liegende, glatte Body doch beginnt, wie mechanisch zu leuchten …

Sie kam – öfters. Und die Erfüllung dessen gab ihr das Feeling absoluter Schönheit. An den Vortrag, den sie morgen zu halten hatte, dachte sie heute nicht mehr.

Denn sie wusste, dass alle Welt sie begehrte.

Alle. Welt.

Was Beauty morgen jedoch nicht auf ihrem Freezer lesen würde:

Und wenn du erst einmal schön bist, hast du nichts mehr zu sagen.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at |Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 15059




Jener Wald in Weiß …

Die vielen Bäume schwiegen mit geneigten Kronen. Wegen ihrer mit schwarzen Flecken durchzogenen weißen Rinde erinnerten sie an die Pest, und gleich Befallenen war ihr trauriger Blick auf scheinbare Gräber gesenkt, die sich bald füllen sollten. Sie weinten bittere Tränen, oder waren das nur die vereinzelt vom Himmel segelnden Schneeflocken? Die Zeit schien diesen Ort vergessen zu haben, denn der Birkenwald hielt eine tiefe Ruhe inne, die der sinkende Schnee nur nährte …

Eilig stapfte der Inquisitor durch die Stille, dicht von einer kleinen Gruppe gefolgt. Ein schwarzer Mantel fiel von seinen Schultern, sanft den Schnee streichelnd, während dieser unter seinen ledernen Stiefeln knirschte. Das Kreuz, das von seinem Hals baumelte, sprang hektisch nach vor und zurück, denn er schritt schnell und die Übrigen hatten Not mitzuhalten: Die zwei Mönche, die eng nebeneinander marschierten, der Augenzeuge, der nervös eine Holzfälleraxt umklammerte, und ein junger Mann, der alles beschreiben und aufschreiben sollte – der Novize Ithriel.

Der Wald glich einer Armee, die vom Felde zurückkehrte – die Bäume zerstreuten Männern, jene die Last des Krieges erdrückte. All Stolz und Ruhm ward vergessen, denn in einer Schlacht kann es nur Verlierer geben, schrieb er hastig mit seiner Feder auf das faltige Pergament, während er der Gruppe etwas unbeholfen nachhetzte: Doch von welcher Schlacht kehren sie nur heim?, wunderte er sich und sah an den zerstreuten Männern hoch. Er erkannte starre Gesichter in Rüstungen, die müden Blickes um Erbarmen beteten. Das Schwarz zerfurchte die weißen Birken, wie Tinte ein Pergament, notierte er, als er jenes stummen Gebets gewahr wurde. Konnte nur er es spüren? Da klang doch dieses intensive Schweigen, unruheschwanger – ein Flüstern, das zwischen den Bäumen zitterte. Sie alle sahen ihnen zu, wie sie umherschritten und ihre Stille störten. Oder waren es die Bäume, die wanderten? – Eine stumme Armee, die bloß dahinzog …

Als der Schnee durch eine leicht ansteigende Anhöhe schließlich seichter wurde, hielt der Inquisitor und sah an ihr hinauf. Ein Jungwald von Birken verwehrte ihm allerdings die Sicht auf die Spitze.
„Dort oben ist es, Herr“, meldete sich der Augenzeuge zu Wort, derweil er angespannt den Stiel seiner Axt würgte.
Ithriel musterte mit seinem eindringlichen Blick den unruhigen Mann, ehe er hinaufspähte. Selbst wusste er nicht, was sich dort oben hinter dem Jungwald befand, nur, dass es etwas mit der Hexe zu tun hatte – wegen ihr waren sie doch erst hergekommen. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Er wollte es nicht Angst nennen, aber er befürchtete, dass genau jene ihn durch das Geäst der Jungbirken aufblitzend anlächelte.

Währenddessen hatte der Inquisitor den Worten des Augenzeugen zugenickt und so schritten sie weiter: Wie mit Speer und Schild, mit Widerstand und Willen stand der Rand des Jungwaldes, wie ein undurchdringbarer Wall. Wir aber brachen durch die vorderste Reihe und kämpften uns durch das Dickicht, um zu finden, was es verbarg.

Unerwartet lichtete sich der dichte Jungwald und vor ihnen öffnete sich eine kreisförmige Lichtung. Der Inquisitor trat, scheinbar unberührt, elegant zwischen den Bäumen heraus. Dann blieb er stehen und sah. Die beiden Mönche, der Augenzeuge und Ithriel stolperten, von den lästigen Ästen des Dickichts verärgert, hinterdrein. Danach blieben sie stehen und sahen …
In der Mitte der kleinen Lichtung wuchs eine einzelne knorrige Birke, umwandet von einer roten Blüte aus Flammen, die hoch hinauf loderte. Ihr Schein flackerte in den Augen der Staunenden wider und der Schnee um die Birke herum leuchtete aufgeregt. Die Feuerzungen leckten rastlos an dem alten Holz, aber sie verzehrten es nicht, sie …: …schienen den Baum nur zu umgarnen. Sie liebkosten ihn. Trotzdem litt er. Welcher Mensch würde auch gerne von Wölfen liebkost werden? Den letzten Satz strich Ithriel mit einigen hektisch gezogenen Linien wieder durch, denn er gefiel ihm nicht.

Der Inquisitor trat näher an die brennende Birke heran und streckte den Arm nach ihr aus. Da konnte er den warmen Atem der Flammen spüren – ihre Gier und ihr Verlangen nach mehr … Sofort zuckte er zurück, als das Feuer durch eine hinwegschnalzende Böe hungrig auffauchte.
„Was ist dies für ein Teufelswerk?“, raunte der kleinere Mönch und nahm zur Sicherheit einige Schritte Abstand.
Der Augenzeuge antwortete ihm angsterfüllt: „Es ist das Werk der Hexe!“
„Wir sollten geradewegs umkehren und das Weib verbren-“
„Verhören“, schnitt der Inquisitor dem kleineren Mönch den Satz ab, während er sich in einer geschmeidigen Bewegung zu ihnen umdrehte und beruhigend lächelte: „Wir brechen auf, sobald wir es vernichtet haben“, er wandte sich an den Augenzeugen: „Du! Fälle es.“
Der Mann zuckte. Er nahm seinen Befehl nicht mit Freuden entgegen und näherte sich der lodernden Birke nur langsam. Sichtlich nahm er allen Mut zusammen, bevor er zum ersten Mal mit der Axt ausholte …

Ein einsamer Soldat, mit nichts außer seinem bitteren Stolz. Ithriel hatte sich auf einen Baumstumpf gesetzt und beschrieb nun, was er sah: Die Schlacht hinter sich gelassen, kehrt ihm die nächste das Antlitz zu. Wunden tragend ward auch er zurückgelassen – kein Freund mehr, kein Kamerad, er ward verlassen.
Der Augenzeuge holte erneut aus, einen Moment später donnerte sein Eisen gegen das alte Holz.

Ithriels Blick wanderte im Kreis und er meinte, die Jungbirken, die die Lichtung einschlossen …: …sahen ihn. Sie sahen ihn alle. Aber niemand half ihm. Als sein Blick jedoch wieder auf die brennende Birke fiel, glaubte er zu spüren, dass sie ihm erwiderte: Er sah aus, als weinte er. Und wenn er es könnte, hätte er es getan – er hätte es getan. Dann barst das Holz des Stammes endgültig und der Soldat fiel. Der Augenzeuge sprang noch eilends zur Seite, und kaum war die Birke zu Boden gebrochen, erlosch auch das Teufelsfeuer und es wurde mit einem Mal dunkel.
Ithriel durchfuhr ein eigenartiges Kribbeln – ein Frösteln, das einen umfing, wenn man die Tür vor einem aufkommenden Sturm schloss. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass es bereits dämmerte und die Kälte sich wie schwere Eisenketten um die Männer gelegt hatte. Zurück auf das Geschehen besehen, musterte er den Augenzeugen, der immer noch die Axt fest umklammert hielt und seine Tat gerade erst zu realisieren schien. Der Inquisitor hingegen reckte seine Brust und betrachtete den Baum, als wäre es ein erlegtes Tier. Jeder schwieg für einen Moment …

„Nun denn“, sprach, die Stille brechend, der große Mann in der Mitte mit erleichterter Stimme: „Dann ist es also wirklich eine Hexe!“ Er schritt wieder in Richtung Jungwald, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt: „Lasst sie uns …“, die ernsten Worte hüpften mit verspielter Leichtigkeit über seine lächelnden Lippen, „… fangen.“
Stumme Zustimmung – die beiden Mönche bekreuzigten sich und folgten, und der Augenzeuge hastete eilig hinterher.
Und Ithriel?
Nun, Ithriel blieb noch kurz sitzen. Sein Blick gebannt vom toten Baum. Die Schreibfeder in seiner Hand ruhte, aber er war fasziniert. Fasziniert vom Werk der Hexe, vom …: …gebändigten Feuer. So nannte er es. Die anderen doch warteten nicht und der Wald war ihm unheimlicher geworden. Auch wenn er den Tod des Soldaten bedauerte, kehrte er schließlich um.

Doch noch ruhte die Geschichte nicht, die er beschrieben und geschrieben. Voller Entsetzen musste er nach Einbruch der Nacht folgenden Satz hinzufügen: Der lodernde Soldat war gefallen und niemand von uns hätte ahnen können, dass am Ende des Tages, nachdem die Hexe geflohen war, die ganze Armee im Feuer versank.

Prolog (zum Roman: „Ignis“)

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 15058




Die Nuss

Ich war noch sehr jung.
Aber egal wie alt ich damals auch gewesen sein mag, manche Dinge begreift man erst, wenn man „erwachsen“ wird. – Andere Dinge dafür nie wieder.

Es geschah an einem heißen Tag im Sommer. Die Sonne hatte über die Erde gelächelt als kannte sie nichts Böses, denn nur wenig Wolken hangen als weißwachende Gesichter am Himmel. An jenem Tag besuchten mein Vater und ich seinen Bruder, den wir lange Zeit nicht mehr gesehen hatten, und so fuhren wir mit dem neuen Automobil hinaus aufs Land.
Während der Fahrt wagte ich weder von etwas zu erzählen noch mich zu erkundigen, wie lange wir denn unterwegs wären, da es damals nicht üblich war, den Vater mit Nebensächlichkeiten zu belästigen, weswegen rege Stille zwischen uns herrschte.

Gegen Ende der Fahrt hin machte mich mein Vater jedoch aufmerksam auf die Landschaft, die sich gleich auf meiner Fensterseite erstrecken würde.
„Sieh, Sohn“, bedeutete er, und sodann sah ich nach rechts:
Zuerst erblickte ich bloß einige Bäume, die in rasender Geschwindigkeit an uns vorbeiliefen, aber hernach, nachdem alle vorüber waren, klaffte ein weiter Landstrich auf, der sich bis zum Horizont ausbreitete, und bestückt war mit einem Volk aus Nussbäumen. Reihe an Reihe wachten sie im Wind, der über ihre Häupter hinwegzog, und starr beäugten sie hinter dem Zaun das schnelle Automobil, das die staubige Straße hinaufjagte. Die Plantage war riesig, und erst als mein Vater sie im folgenden Gespräch erwähnte, entdeckte ich zwischen den Beinen der Bäume die Arbeiter, die wie Ameisen unter den mächtigen Kronen umherliefen.

„Mein Bruder hat hier gearbeitet“, erwähnte mein Vater: „Es war wohl gleichzeitig sein Verderben.“
Trotzdem ich meinen Onkel lange Zeit nicht mehr gesehen hatte, erinnerte ich mich doch daran, dass er ein kräftiger Mann gewesen war. Umso mehr wunderte ich mich über die Aussage meines Vaters.
„Er schrieb mir – neulich“, begann mein Vater plötzlich, als hätte er meine Gedanken gehört: „Anscheinend war es der Regen gewesen. Der künstliche natürlich – der aus den Wassersprinklern. Durch den Wind und die Nässe, denen er ausgesetzt war … -“, er räusperte sich: „- das vertrug sein Körper nicht. Sklavenarbeit!, hab ich ihm gesagt, sei das, Sklavenarbeit! Du kennst sie ja, die Plantagen in Amerika – die mit den Negern – so etwas.“

Inzwischen wanderte das Nussvolk an uns vorüber und wir bogen von der Straße auf einen Schotterweg ab. Demnach mussten wir gleich angekommen sein.
„Jetzt schmerzen ihn die Gelenke oder Glieder – was weiß ich – er schreibt, er kann sich kaum noch rühren – jedenfalls. Starr ihn ja nicht an! Hörst du?“
„Ja, Vater“, antwortete ich ihm, als wir ausstiegen.

Wir kamen durch ein Tor in den großen Garten meines Onkels mit glattrasiertem Rasen und in Form geschnittenen Büschen. Man hätte meinen können, es wären hunderte Gärtner am Werk gewesen, so zahm wie die Natur auf diesem Grundstück war. Während ich noch über den Garten staunte, und das Knirschen des Kieses auf dem angelegten Weg meinen Schritt begleitete, rief ein Mann von Weitem: „Bruder!“
Ich sah zum Haus, das in der Sonne blitzend weiß erstrahlte, und entdeckte meinen Onkel auf der Veranda in einer Hängeschaukel sitzend. Als wir herankamen, begrüßten sich die beiden Männer und mein Vater stellte mich seinem Bruder vor: „Vielleicht kannst du dich nicht mehr erinnern: mein Sohn“, präsentierte er mich und schob mich vor sich hin.
„Es ist lange her“, antwortete sein Bruder, während er mich musterte: „Du bist gewachsen.“

Und vor mir saß ein Mann, von dem ich schon so viel erfahren hatte, dass ich eine genaue Vorstellung besaß, doch dieser Mann da vor mir, der erfüllte sie nicht. Was ich sah, war ein Mann in den besten Jahren seines Lebens, doch sein Körper war bereits müde und erschlafft, wie bei einem Greis.
Schwerfällig hoben sich seine Arme für eine Umarmung, dabei schien er aber glücklich. Der Schmerz kam nachher und löste sich in Form eines Aufstöhnens.
Mein Vater ignorierte die Qualen, unter denen sein Bruder litt, und sagte stattdessen: „Was für einen schönen Garten du hast.“ Dabei wandte er seinen Blick gewählt um und betrachtete zufrieden das Grundstück, als gehörte es ihm.
„Nicht wahr?“, antwortete sein Bruder.
„Hat es dich von der Plantage in die eigenen vier Wände getrieben?“
„Meine Frau ist wohl dafür verantwortlich. Da ich die Arbeit auf der Nussplantage beenden musste, wegen meiner … Man überließ mir das Haus und den Garten. Meine Frau -“, er lächelte: „- sie versucht, alles auf Vordermann zu bringen.“

Da fragte mein Vater, wo seine Frau denn sei.
„Meine Frau?“, wiederholte mein Onkel und meinte, dass sie in der Stadt unterwegs sei, um einzukaufen. „Vielleicht werdet ihr sie noch erwischen.“
„Das wäre schön“, antwortete mein Vater knapp.
„Wenn ihr wollt, können wir auch hineingehen.“
„Nein, nein“, blockierte mein Vater: „Wir werden ohnehin nicht so lange bleiben.“

Sie unterhielten sich weiter, als hätten sie einander nichts zu sagen. Später redete mein Vater über die Arbeit: „Du weißt, wie wichtig meine Arbeit ist“, bekräftigte er.
Mein Onkel hatte bloß genickt, denn es war ihm schwer zu reden. Ein anderer hätte vielleicht gemeint, es wäre ihm leid gewesen, sich mit meinem Vater im seichten Hin und Her zu unterhalten, aber ich erkannte genau, dass wir vor uns einen körperlich gebrochenen Mann sitzen hatten. Es schmerzte mich, und so verlor ich das Gespräch, bis mir irgendwann klar wurde, dass sie aufgehört hatten zu sprechen.

Es war das Ende unseres Besuches, und tatsächlich, erst zum gewissenhaften Schluss fragte mein Vater, als sich sein Bruder erhoben hatte, um für den Abschied vor ihn zu treten. „Wie geht es dir?“
Mein Onkel hatte ihn bloß angesehen, und erst nach einigen Momenten diese Frage mit einer knappen Antwort gewürdigt.
„Dann wünsche ich dir gute Genesung“, sagte mein Vater etwas verunsichert in seinem rechten Sinne: „Denn die Gesundheit ist das Wichtigste im Leben.“

Der Weg durch den Garten schien zurück deutlich länger zu sein, so die Autofahrt. Vielleicht lag es daran, dass mein Geist zutiefst zerrüttet durch die Zeichnung meines Vaters war.
Doch ich war sein Sohn, und mein Vater war stets im Recht.

Wie froh bin ich heute noch, dass ich zurückgerannt bin. Kurz vor dem Gartentor war ich einfach umgekehrt und war noch einmal zu meinem Onkel gelaufen, um ihm zu danken. Dafür, was er mich gelehrt hatte.
Denn dem letzten Satz meines Vaters war er mit einem „Nein“ entgegengetreten.
„Nein“, hatte er geantwortet und ihn umarmt: „Das Wichtigste im Leben ist die Zufriedenheit.“

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 15057

 




Der Zivildiener

Du stehst.
Der Schnee fällt.
Und der Atem dreihundert moorgrüner Soldaten verflüchtigt sich in schüchternen Wolken.

Du bist nun einer von ihnen – „Rekrut“. Stehst stramm in einem der fünfzehn Glieder und zwanzig Rotten, dein Blick ist im Nacken des Vordermanns, und du zitterst.
Jemand unter Niemanden.

„Wenn Sie ein weiteres Mal irgendwohin anders hinblicken als geradeaus, ist das das Letzte, was Sie jemals tun werden – haben Sie mich verstanden!“, bellt einer der vier Kommandanten jemanden in deinem Augenwinkel an.
Sie kontrollieren euch.
Dabei stieben unzählige Namen in die kalte Luft …

Du stehst.
Der Schnee fällt.
Und die Rekruten ziehen langsam ab.

Reihe um Reihe wird in das vor dir liegende Objekt geführt. Auch du wirst abgeholt. Ein Kommandant bringt dich und neunzehn deiner Kameraden in einen Raum, in dem von jedem einzelnen ein Foto geschossen wird.
Lächelst du?
Dies stellt sich dir nicht als Frage.

Nachher verlässt du das Objekt und reihst dich erneut ein – in den Kreis der vier Kommandanten. Einer derselben pfeift dir in diesem Moment ins Ohr …

Du stehst.
Der Schnee fällt.
Und mit dem Pfeifen erklingt, irgendwie erlöst von seiner Tragik, in bös neckender Art Schoenbergs „Verklärte Nacht“. Dabei ist es Tag. Noch …

Du hast dir immer mehr vom Sonnenuntergang erwartet.
Dass er dich hinreiße und eins werden lasse mit der Welt – nur für einen Augenblick, wenn sein gnadenvoller Kuss am Horizonte die Farben verlegen erröten lässt und alles für einen Moment den Atem anhält.

Für dich kann das nur der Mensch.
Was er tut und was er antut. Er, dazu mächtig, der Milch ihre Reine zu rauben und sie schwarz werden zu lassen. Wenn seine Worte in der Luft verhallend, schallend als Gelöbnis die Zivilisten zu Zeugen machen und je so brausen die Dutzenden, Hunderten, gar Tausenden! – badend im prasselnden Regen tosenden Beifalls!
Ja dann – dann hältst auch du den Atem an und beginnst, dich zu wundern.

Du lächelst?
Jedoch heute stehst du.
Und der Schnee segelt an dir vorüber, als wärst du der Zeit entwichen.

Du stehst.
Es ist der 1. Tag.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15056