Willensstärke. Übermut. Fall?
Von einem vorteilhaften Lauf der Dinge konnte nun wirklich nicht die Rede sein – Lisa spürte aber, dass sich manche der Verlegenheitsentscheidungen, in die sie vor nicht allzu langer Zeit gezwungen wurde, durchaus als nützliche Anknüpfungspunkte erweisen könnten. Die verheißungsvolle Qualität dieser Gewissheit setzte sie aber auch unter Druck. Denn sie wusste: Es war nun ein Gebot der Stunde, nicht nur dieses positive Moment zu internalisieren, sondern auch die bewusste Steuerung dieses Prozesses nicht überzustrapazieren.
Drei Monate wohnte Lisa nun schon in Wien. Diese Zeit hatte sie sich erkauft, indem sie das Angebot ihrer Eltern, in den gastronomischen Familienbetrieb einzusteigen, nicht begeistert aufgegriffen und sich in weiterer Folge in eine Selbstfindungsphase in der Bundeshauptstadt hineinreden ließ. Dass sich diese Entscheidung so gar nicht danach anfühlte, als erfülle sie einen wichtigen Part in ihrer ganz persönlichen Lebensplanung, hinderte sie nicht daran, mit vorauseilendem Gehorsam an die Sache heranzugehen. Damit unterminierte sie unwillentlich den Freiraum, den ihr ihre Eltern ganz bewusst zugestehen wollten.
Ohne Plan und Ergebnisorientierung hatte sie schon nach wenigen Tagen Unmengen an Studienplänen und Anmeldeformularen gesammelt – um nicht in die Verlegenheit zu kommen, sich selbst Untätigkeit vorwerfen zu müssen. Dabei zögerte sie durch die Unverbindlichkeit dieser Maßnahmen fundamentale Fragestellungen ihres zukünftigen Lebensweges hinaus. In den Lehrveranstaltungen, die sie besuchte, versuchte sie wie besessen den jeweiligen Anforderungen von Anfang an auf Punkt und Beistrich zu entsprechen – ohne zu wissen, wofür ihr das einmal helfen sollte. Diese eindimensionale Wissensakkumulation wirkte wie eine Art Schleier, der sich über jene Bereiche ihres Naturells legte, die über selbstbestimmte Initiative und zwischenmenschliche Charakterbildung in einer neuen studentischen Identität aufgehen hätten können.
Die Bedingung, sich in der Gruppe auf ein Seminar vorzubereiten, war für Lisa anfangs immer ein Grund, die Veranstaltung vorzeitig abzuschreiben. Als sie merkte, dass sich das nicht vermeiden ließ, wenn sie ernsthaft mit dem Studium beginnen wollte, zögerte sie nicht, sich auf diese potenzielle Bedrohung einzustellen. Dabei war ihr beim ersten Zusammentreffen mit den Kollegen vor allem aufgefallen, wie gleichgültig diese ihren Mangel an Selbstdisziplin und Sachorientierung hinnahmen. Einzig der offensichtlich aus Deutschland stammende Tim drängte beiläufig darauf, einen Zeit- und Arbeitsplan zu entwickeln. Er schien dabei weder mit sich selbst noch mit den Begleitumständen der Besprechungssituation beschäftigt zu sein. Das gefiel Lisa sehr.
Sich nicht nur in ihrer kargen Einzimmerwohnung im zehnten Bezirk sondern auch in einem der majestätischen Parks oder einem der zahlreichen Cafehäuser in Wien ihrer Literatur widmen zu können, verschaffte Lisa die Bestätigung und Genugtuung, dass sie ihre akribische Lernmoral nun auch an die neuen Lebensumstände angepasst hatte. Niemals hätte sie es jedoch zugelassen, sich von den Reizen der neuartigen Umgebung überwältigen und von dem selbst auferlegten Arbeitspensum ablenken zu lassen.
Als der Winter unerwartet früh über Wien hereinbrach, hatte sich Lisa bereits entschieden, zunächst auf das Studium der Anglistik zu setzen. Das hieß auch, dass sie die bereits begonnene Gruppenarbeit weiterführen würde müssen. Dieser versuchte sie offensiv entgegenzutreten und in Tim hatte sie auch einen Arbeitspartner gefunden, der als einziger die Bereitschaft andeutete, Anstrengung in das gemeinsame Projekt zu legen. Und weil das nicht die Regel war, hatte Lisa ein großes Interesse dafür entwickelt, was Tim dazu veranlasste, sich so in den Dienst der Sache zu stellen. Selbiges galt übrigens auch für Tim: Er fragte sich, wie Lisa es schaffte, ihre Persönlichkeit einem Arbeitsauftrag derart unterzuordnen.
Keiner der beiden wagte sich aus der Deckung, als es zum wiederholten Male an ihren Schultern hängen blieb, die Textabschnitte der Kollegen in eine kohärente Arbeit zu verpacken. Dass die Sacharbeit derartig viel Aufmerksamkeit verlangte, dass gar keine Zeit blieb, um auf Andeutungen persönlicher Natur einzugehen, war beiden ganz recht. Die Erkenntnis, dass auch unvorhersehbare Entwicklungen beherrschbar sind und nicht nur ein Weg zum Ziel führt, hatte Lisa mittlerweile aber neue Luft zum Atmen verschafft.
Die Präsentation des Gruppenprojektes, das die deutliche Handschrift von Lisa und Tim trug, verlief zufriedenstellend. Angesichts ihrer ursprünglichen Scheu war Lisa sogar etwas stolz darauf, dass sie neben der permanenten Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten zumindest in Ansätzen den Verlauf der fachlichen Diskussion im Auge behalten konnte. Als sie nach getaner Arbeit die Räumlichkeiten des Anglistik-Instituts verließ, war Lisa weniger erleichtert denn motiviert, auf dieser noch nicht annähernd optimalen Performance aufzubauen.
Instinktiv spürte sie, dass es ihr guttäte, wenn sie sich für diesen ersten Teilerfolg belohnen würde. Anstatt zu Hause an ihrem Englisch zu feilen, verabredete sie sich mit einer ehemaligen Schulkollegin zum Kino. Auch wenn sie das gegen die entgangenen Lerneinheiten aufrechnete, zahlte sich das echt aus. Die Intensität des Films bescherte ihr eine Wissensvermittlung viel emotionalerer Natur als sie das in den letzten Wochen gewohnt war. Er lieferte auch genügend Gesprächsstoff für die Nachbereitung mit ihrer Freundin in einem Gürtellokal. Und weil der pochende Sound der Location um die Ecke zu verlockend war, klang der Abend recht intensiv aus. Das Bett sah Lisa erst um 4.30 Uhr.
Als sich Lisa kurz vor Mittag ins Badezimmer schleppte und – sich ihrer täglichen Selbstgesprächsdosis hingebend – merkte, dass sich das Timbre ihrer Stimme veritabel nach unten verlagert hatte, bescherte ihr das völlig unerwartete Glücksmomente. Sie war körperlich auch bald wieder soweit hergestellt, dass sie wie selbstverständlich nach dem Mittagskaffee den Gang in die Bibliothek antrat. Weil dort am Samstag kaum Betrieb herrschte, konnte sie sich voll auf eines der von ihr bearbeiteten Werke konzentrieren. Dass sie nicht das fand, wonach sie suchte, tangierte sie kaum. Als sie gerade dabei war, am Kopiergerät zu hantieren, spürte sie einen forschen Rempler zwischen ihren Schulterblättern. Drei ihrer begrenzt motivierten Gruppenkollegen schienen sich einen Riesenspaß daraus zu machen, die zufällige Begegnung zu nutzen und auf Lisa zuzugehen. Ohne darüber nachzudenken, versuchte sie das körpersprachlich zu goutieren. Es überraschte sie nicht, dass die Konversation von der Abendgestaltung bestimmt wurde. Sehr wohl überraschte sie aber, dass sie das Angebot, die Clique am Abend zu treffen, prompt annahm.
Schon 15 Minuten vor dem vereinbarten Termin fand sich Lisa am Treffpunkt Museumsquartier ein und staunte über die inspirierende Atmosphäre des Kulturzentrums, das in den Wintermonaten von unzähligen Künstlergruppen und provisorisch errichteten Verpflegungsstellen belebt wird. Deshalb stieß es ihr dann weniger sauer auf, dass sie über eine geschlagene Stunde auf ihre Universitätskollegen warten musste. Schon während man sich mit einem Punsch aufwärmte, dämmerte es Lisa, dass sich hinter den vermeintlichen Lernmuffeln spannende Persönlichkeiten verbargen. Dass sich auch ihre Bekanntschaften erstaunt darüber zeigten, was Lisa langsam von sich preiszugeben begann, versetzte sie endgültig in ein Hochgefühl. Dieses konnte sie dann im nahegelegenen Club ausleben. Es wurde getrunken – und getanzt. Als sie kurz davor war, sich in dem Soundteppich zu verlieren, spürte sie die Vibration ihres Smartphones in der Hosentasche. Als sie Tims Nummer auf dem Display sah, hielt sie kurz inne, steckte das Handy dann aber schnell wieder weg. Sie widmete sich wieder der sich anbahnenden Ekstase – und rief nie zurück.
Nico Lajev
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