Axungia Canis
Mein Anzug zwickt und drückt, wo er nur kann, unter dem Hemd läuft mir der Schweiß aus sämtlichen Poren. Es scheint die Zeit des Fegefeuers gekommen, zumindest glaube ich mich nicht weit davon entfernt. Überall klebt Beileid an feuchten Händen, zwischendurch ein Wangenkuss, wenn man sich näher steht. Viele der Gesichter kenne ich von irgendwo her, von früher, ich bin nur nicht in der Stimmung, mich bei allen zu erinnern. Die blassen Gebirgszüge der Karawanken geben dem Ganzen einen vertrauten Rahmen, längst schon bin ich keiner mehr von hier und doch spüre ich, dass Vergangenes nach mir greift.
Amalie W., meine Großmutter väterlicherseits, ist im vierundachtzigsten Lebensjahr von uns gegangen. Unrasiert, schlampig und alkoholisiert geht mein Vater voran, er soll die Familie nun führen, es ist die Bestimmung des an Jahren ältesten Nachkommen. Meine Mutter beobachtet ihn dabei argwöhnisch; wenn sie nicht gerade schreit, dann ist sie kaum vorhanden. Aber niemand von uns wird ihm folgen wollen.
Ebensowenig kann von mir verlangt werden, dass ich mich diesem verlogenen Schauspiel anvertrauen muss. Schließlich bin ich nur gekommen, weil es sich gehört, um ungeschriebenen Regeln zu genügen, denn für einen Abschied brauche ich keine Inszenierung. Außerdem ist es mir viel zu heiß, hat man sich denn keinen späteren Termin aussuchen können, wo es die Trauer doch lieber hat, wenn es ein wenig feucht und kalt ist. Der Gottesmann wirkt elegant, er ist in Höchstform und die offene Grube seine Bühne. Den Menschen, um den er seine Grabesrede gewoben hat, kenne ich nicht, obwohl ich ihn kennen müsste, zumindest sagt mir das eine innere Stimme, wahrscheinlich geht es um den Leumund, den die Tote für den Schöpfer braucht. Meine Schwester stößt mich sanft in die Seite, die ganze Zeit schon kommt es mir vor, als ob sie mich suchen würde. „Ich kann nicht mehr!“, flüstert sie, niemand außer mir, soll hören, was sie sagt.
„Was?“
„Mir ist das Ganze zu viel, ich muss weg von hier!“
„Halte durch, bald haben wir es überstanden, ich habe mir schon etwas überlegt“, ich fasse nach ihrer Hand, weil ich Angst habe, dass sie mich alleine lässt.
Schließlich treten wir gemeinsam vor, um die Erde in den Schlund zu werfen. Wenn man Sachen gesehen hat, die man besser nicht hätte sehen sollen, ist man froh, wenn man damit nicht alleine ist. Hinter der von einer ranzigen Schicht überzogenen Eisentüre hat sich alles abgespielt, verborgen vor den Blicken derer, die es ohnedies nicht verstehen würden. Einen offenen Spalt, eigentlich nicht mehr als eine Unachtsamkeit hat es gebraucht, um das Geheimnis preiszugeben. Die Erinnerung formt sich quälend. Seelenlose Wesen, die über den Hof schleichen und deren schlaffe, ausgeweidete Körper von der Decke hängen, bevor sie in den Kochtopf wandern. Ab und an verfolgen sie mich sogar bis in den Schlaf. Die Luft von damals ist beißend scharf, sie raubt mir den Verstand, knöcheltief stecke ich im Morast und muss mich übergeben, heimlich, so wie ich es mir angewöhnt habe. Will ich nicht den Ledergürtel spüren, muss ich aufhören, an Widerstand, an Flucht zu denken. Dass es uns gibt, reicht aus, um uns zu bestrafen, Eva erwischt es meistens schlimmer. „Weiber sind dazu da, um zu empfangen!“, erbarmungslos hagelt es auf Evas kindlichen Körper hernieder. Hätte nicht ich an ihrer Stelle sein können, sie tut mir so leid, obwohl ich nichts dafür kann. Und die Eltern, die stehen unbeteiligt daneben und tun, als ob sie das nicht das Geringste angehen würde. Verstohlen blicke ich zu Eva und weiß, was sie denkt, ich bewundere sie für die Fassung, mit der sie das Geschehene erträgt. Ich muss mich ablenken, sonst wird es mir den Hals zuschnüren, aus reiner Verzweiflung schaue ich hinunter auf meine Schuhe, ob wohl kein Dreck und keine Exkremente auf ihnen kleben, denn sonst würde meine Mutter wieder schreien und das wäre wieder erst der Anfang. Eine Krähe stößt sich vom Mauerwerk des Kirchturmes ab, für einen Augenblick kann ich durchatmen.
Im gleißenden Licht der Sonne glänzen die Leute der Trauergesellschaft, wie Krapfen, die gerade aus dem heißen Fett gefischt wurden. Auf einen Schlag ist mir klar, warum so viele erschienen sind. In gewisser Weise aus Dankbarkeit, weil sie es alle bei ihr gekauft haben, abgefüllt in weißen Plastiktiegeln ohne Aufschrift. Ein Ablaufdatum oder eine Chargennummer hätte ohnedies niemanden interessiert. Was die Überlieferung für gut hält, wird wohl gut sein, warum zweifeln, die Alten werden schon gewusst haben, was sie tun und wenn es tatsächlich hilft, wofür es Zeugen gibt, dann muss das als Beweis ausreichen, dann hat die Überlieferung recht gehabt. Es fehlt noch, dass sie aus der Hexe eine Heilige machen, aber wundern würde mich das nicht. Noch liegt sie unten im Loch, sodass sie für jedermann sichtbar ist, aber bald schon werden die Herren von der Bestattung Erde drüber geschüttet haben, womit das Vergessen beginnen kann. Für viele mag es damit vorbei sein, für uns ist es das nicht, wir bleiben die Nachkommen der Hundsbäuerin, für immer, denn Blut ist die stärkste Verbindung, die es gibt.
Langsam geht die offizielle Show zu Ende, um im Anschluss dem ausgelassenen Gesicht der Trauer Platz zu machen, ich habe meine Schuldigkeit getan. Eva noch viel mehr. Mein Vater wendet sich zu mir um, die aufgesetzte Vertraulichkeit wirkt lächerlich auf mich. „Wir gehen jetzt zum Kirchenwirt…ihr kommt doch mit?“ Ich muss seinem warmen, alkoholschwangeren Atem ausweichen. „Ja!“, sage ich artig, weil ich keine Diskussion haben will. Das „Ja“ ist ein falsches „Ja“, denn ich denke nicht daran, zum Kirchenwirt zu fahren, ich habe anderes vor. Eva, die alles mitverfolgt hat, schaut mich erwartungsvoll an, ich spüre, dass sie mir vertraut, so wie früher. Jeder kann sehen, dass wir nicht dem Tross folgen, sondern in der entgegengesetzten Richtung verschwinden. Meinen Vater wird es nicht weiter kümmern, er wird seinen Schmerz ertränken, so wie er es gewohnt ist.
Den Ort, an den ich uns führe, habe ich sorgfältig ausgesucht. Vor allem Eva soll es dort gefallen, für sie mache ich das Ganze. Das Auto lassen wir am Parkplatz neben der Straße zurück, die letzten Meter hinauf zur Kirche und den Ausgrabungen müssen wir gehen. Eva weiß Bescheid. Unser stilles Abkommen hält, wir brauchen keine Worte. Ich bin froh, dass das Areal menschenleer ist, denn so habe ich es mir insgeheim gewünscht. Der Stein des Altars ist warm, aufgeheizt von der Sonne, er wird alles geduldig über sich ergehen lassen und seiner Bestimmung entsprechend niemandem davon berichten. Aus der Hosentasche fische ich eine Locke aus dünnem, grauem Haar und lege sie sorgfältig vor uns auf den steinernen Tisch. Begleitet von einem unabsichtlichen „Hm?“ deutet sie mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo das Haarbüschel liegt. „Die Krankenschwester war gerade draußen und da hab ich es gemacht, sie hat sicher nichts gemerkt, sie hat geschlafen… Gibst du mir ein Feuerzeug?“ Wir halten uns an den Händen, während das Keratin vor sich hin schmort und dabei übel riecht. Der Dämon scheint vertrieben. Auf dem Weg zurück zündet sich Eva eine Zigarette an, ich habe sie schon lange nicht mehr so gelöst gesehen, ich habe das sehr vermisst. Zu unseren Füßen das Jauntal, die klare Sicht gibt den Blick weit ins Land hinein frei.
Mit Leib und Seele lege ich mich vertrauensvoll in deine Hände, denn du hast mich erlöst, treuer Gott. (Psalm 31,6)
strobauer
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