Wer ist Herr Professor Biermann, und was hat es mit seiner Rosskur auf sich?
Herr Dr. Martin Biermann ist Mitte fünfzig und unterrichtet an einem Oberstufen-Realgymnasium Geschichte und Geographie. Unter einer Rosskur – so steht es im Internet –„versteht man heute in der Umgangssprache eine medizinische Behandlung mit Hilfe von unsanften Methoden oder umstrittenen und drastischen Mitteln.“ Im Grimm’schen Wörterbuch steht, die Rosskur sei „eine gewagte kur mit ungeheuerlichen mitteln“.
Es war ein milder Juni-Nachmittag, als Herr Dr. Biermann und Gattin Hilde auf der Hausbank vor ihrem Reihenhaus saßen und behaglich in die spätgoldene Sonne blinzelten, so recht angenehm entspannt (obwohl Rock und Hose deutlich spannten), und den schönen Tag nochmals vorbeiziehen ließen. Ihre beiden Söhne Hermann und Rudolf waren mit ihren Frauen und je einem Enkelkind auf Besuch dagewesen, und das reichhaltige gute Mittagessen ist im Garten unter dem schattigen Birnbaum mit genießerischer Langsamkeit eingenommen worden. Der Hausherr und die Kinder sparten nicht mit Lob für die Hausfrau (welche den ganzen Vormittag in der dampfenden Küche gestanden war). Sie kochte gut und gerne, und die Leibesfülle ihres Gatten sowie, seien wir ehrlich, auch ihre „stattliche Erscheinung“ bezeugten dies nachdrücklich nach außen.
„Also ich muss schon sagen, dein heutiges Dessert war super-super – diese kleinen Powidl-Buchteln mit Vanillesoße – die Kinder haben ganz schön eing’haut“, lobte der Gatte nochmals und seufzte wohlig. Frau Biermann sah ihn von der Seite liebevoll-spöttisch an: „Ah so, nur die Kinder – dir hat’s ja gar net g’schmeckt, wie du nachher das Reindl mit der restlichen Soße in der Küche heimlich ausgelöffelt hast?“ Der Angetraute drehte sich zu ihr und hob hilflos die Handflächen nach oben: „Ich war wehrlos – es war halt der Jamaica-Rum, den du für die Großen dazugeschwindelt hast – sowas kann man doch net wegschütten!“
„Was sagst du“, meinte Frau Biermann, die gute Stimmung und Gelegenheit ausnützend, mit dem wohlgelaunten Göttergatten allein und ohne Eile ein schon lange anstehendes „schwer-wiegendes“ Problem anzugehen, „meinst du nicht, dass wir doch endlich den Gürtel ein wenig enger schnallen sollten – ich meine, wir haben beide ein paar Kilo zu viel?“
Dr. Biermann, der diese schwarze Wolke am Horizont schon zwanzig Jahre routiniert vor sich hergeschoben hatte und außerdem die Berechtigung dieser Forderung nicht leugnen konnte, antwortete nachgiebig: „Ja sicher, damit sollten wir endlich einmal Nägel mit Köpfen machen – ich denke, die Fastenzeit vor Ostern wäre ein guter Anfang. Wollten wir nicht voriges Jahr schon so ein schönes Kurhaus mit Reduktionskost aufsuchen? Da zahlt die Krankenkasse sicher dazu!“
„Mein lieber Martin“, so die Gattin, „du bist wohl ein ganz Schlauer – das wäre erst in einem dreiviertel Jahr! Du schiebst doch sonst nicht alles auf die lange Bank – sagst du nicht immer, das Richtige soll man gleich tun, und dass die guten Vorsätze ein kurzes Ablaufdatum haben? Es ist ja für unsere Gesundheit, und jünger werden wir auch nicht. Ich meine, wir sollten jetzt gleich damit beginnen – stell dir vor, wie wir im August mit unseren Speckrollen über der Badehose aussehen – wo wir doch heuer den Badeurlaub in Zypern gebucht haben! Habe ich dir schon erzählt, dass eure Schulsekretärin, die Frau Engel, mit ihrem Mann den gleichen Urlaub gebucht hat wie wir?“
Ihr Gatte erschrak. Ausgerechnet Frau Engel, die hübsche blonde Sekretärin in seinem Gymnasium und heimlicher Schwarm vieler Kollegen (und sagen wir’s ehrlich, auch von ihm) sollte ihn mit seiner schwabbeligen Figur am Strand sehen, tagelang, da würde kein noch so mühsames Bauch-Einziehen helfen, das wäre ja schrecklich, das musste verifiziert werden: „Wieso weißt du das, Hilde, ich meine, sie hat es dir wohl nicht erzählt – ihr kennt euch doch fast nicht?“
„Nein, nein, das hat sich zufällig ergeben. Als ich vorige Woche im Reisebüro war, du weißt schon, weil wir ja wegen der Kinder um eine Woche verschieben mussten, da habe ich eine Regina Engel auf unserer Hotelliste gesehen, wie der Schalterbeamte auf dem Bildschirm geschaut hat, ob noch was frei ist – sie heißt doch Regina mit dem Vornamen, nicht? Das hast du mir damals gesagt als sie eingetreten ist. Ja, ich wollte es dir ja am selben Abend erzählen, aber da war doch die Sache mit dem Stromausfall, und die ganze Tiefkühltruhe ist geschwommen, und so habe ich das halt vergessen. Also was sagst du, fangen wir heute an?“ Sie blitzte ihn einladend mit ihren graublauen Augen an – wie immer, wenn sie einen guten Einfall hatte und sich der Zustimmung ihres Göttergatten sicher war: „Weißt du, das können nur Leute mit Mut und Charakterstärke wie wir!“
Der Hausherr seufzte aus Herzensgrund: „Ja, hast recht, mach ma’s in Gottes Namen“ und schlug in ihre senkrecht aufgerichtete offene Hand – das war ihr Treuegelöbnis und Einverständnis bei spontanen Einfällen. Seine bessere Hälfte seufzte erleichtert: „Gott sei Dank, ich hab ja gewusst, auf dich kann man sich verlassen – weißt, ohne dich würd ich es ja nie schaffen, das mit dem Hungern und Kalorienzählen, aber miteinander sind wir unschlagbar, sagst du doch immer. Dann war das heute mittags sowas wie unsere Henkersmahlzeit vor den mageren Zeiten.“
Aber ihrem Eheliebsten fiel noch etwas ein: „Also mein abendliches Bier möchte ich schon haben – das brauch ich zum Einschlafen!“ „Ja natürlich“, beruhigte seine Frau, „das Bier ist doch ab heute dein Abendessen, und ich werde nur zwei Tassen Kräutertee trinken, damit ich was Warmes im Magen habe. Und noch was: Wir werden ab heute – natürlich nur bei gutem Wetter – jeden Tag einen Abendspaziergang von einer Stunde machen! Vor den Nachrichten halt. Die Strecke können wir uns gemeinsam aussuchen – ich denke, wir gehen heute einmal über den Bach durch die neue Siedlung, dann am Waldrand bis zur Barbara-Kapelle und durch die Kellergasse zurück – ja?“
Der überfahrene Gatte nickte resigniert: „Was bleibt mir anderes über – in guten und in schlechten Zeiten, hat es geheißen. Ich habe ja nicht gewusst, dass die schlechten – nein, die mageren – Zeiten jetzt schon anfangen.“ Frau Hilde küsste ihn liebevoll: „Du bist ein Schatz. Wie ich schon gesagt habe – allein tät’ ich das nicht schaffen. Bleib sitzen, jetzt hol ich uns einen guten Kaffee, dann geht’s los – es ist ja schon fünf vorbei.“ Sie ging ins Haus und ließ einen verunsichert in die Zukunft blickenden Gatten auf der Hausbank zurück.
Dass der Kaffee nur mit einem statt wie gewohnt mit zwei Löffeln Zucker gesüßt war, wäre noch erträglich gewesen, aber dass der nunmehr verpflichtende Abendspazierweg gerade über die steilste Straße des Städtchens bergauf führte, wurde von Herrn Dr. Biermann, als sie endlich die Anhöhe erklommen hatten und er wieder genügend Atemluft sammeln konnte, heftig kritisiert. Was seine bessere Hälfte, die auch vernehmlich schnaufte, zur streng-liebevollen Replik veranlasste: „Siehst du, wie nötig wir das haben – diesen Weg sind wir – wenn du dich erinnerst – in unserer Verlobungszeit wohl hundert Mal gegangen. Nur, damals hast du dich nicht aufgeregt darüber, ganz im Gegenteil!“ Dieser Logik konnte der gute Martin nichts entgegensetzen.
Aber das Schlimmste stand ihm noch bevor. Nach der abendlichen Dusche wurde ihm zwar sein kühles Bier im schönen Steinkrug serviert, aber als sich die Gattin kurz um die Waschmaschine kümmerte, schlich der hungrige Hausherr heimlich in die Küche, um sich als Zukost ein Stück des fetten Schweizer Emmentalers zu holen. Geschockt erstarrte er vor der offenen Kühlschranktür: Ein Küberl Leicht-Joghurt, einige Karotten und zwei Gurken waren in Begleitung von zwei Litern Magermilch und einer Packung Margarine die einzigen Insassen dieses noch heute vormittags übervollen Kalorien-Speichers. In der Brotdose war außer einer Packung Vollkornbrot auch nichts zu holen, und als der nunmehr geradezu verzweifelt hungrige Professor die Tür zur Speis öffnete (wo sich doch seit ewigen Zeiten Kekspackungen, Fleischkonserven, Sardinen, Schokolade und andere Trosthappen befunden hatten) grinsten ihm leere Stellagen entgegen; und wie zum Hohn präsentierten sich in Augenhöhe je eine Familien-Packung Diät-Zwieback und Knäckebrot. Aus, Ende, fertig, es gab nichts von der Hand in den Mund zu steckendes Essbares mehr im Haus!
Herr Biermann ging, geknickt und gedemütigt, ja sich überrumpelt fühlend, zurück ins Wohnzimmer und brütete schwarze Gedanken aus. Das war keine liebevolle Einladung zur gut gemeinten Gewichtsreduktion gewesen, sondern ein Komplott, eine hundsgemeine geplante Falle! Seine erst vor zwei Stunden gegebene – nein, ihm abgeluchste – Zustimmung war genau kalkuliert und als minimales Risiko eingestuft. Da sollte doch der Teufel dreinfahren – so war das nicht ausgemacht, so nicht! Zornig erhob er sich, um nach oben zur Frau in die Waschküche zu gehen – da passierte es: Infolge der stoßweisen Bauchatmung beim ruckartigen Aufstehen gab der müde Zwirn der Belastung nach und die untersten zwei Knöpfe des prall gefüllten Hemdes sprangen ab und knallten gegen den Wohnzimmer-Spiegel. Und was quoll ihm daraus förmlich entgegen? Im goldenen Rahmen sah er sich mit geplatztem Hemd, den Nabel hervorstechend aus einem rosa-weißen Berg von Bauch! So grausam deutlich hatte er seine Leibesfülle noch nie gesehen.
Er sank reuig und beschämt wieder in den Ohrenfauteuil zurück und ging in sich. Ja, seine Hilde hatte Recht – er war abstoßend fett geworden –, da half alles Schönreden und Verniedlichen nichts. Er hatte einen schwabbelnden Bauch wie ein Sumo-Ringer, aber ohne dessen Muskeln. Da konnte man darüber anziehen, was man wollte – und in der Badehose am Strand würde er wirken wie eine Witzfigur, von Kindern verspottet und jungen Frauen gemieden. Der Pädagoge versank in dumpfes Brüten.
„Martin, was ist los – du wirkst so bedrückt! Und wie siehst du denn aus – warum ist das Hemd offen? So sitzt man doch nicht im Wohnzimmer herum.“ Frau Biermann kam mit einem Korb Bügelwäsche ins Zimmer und ihr Mann rang um eine Erklärung: „Nichts ist los – nur die zwei Knöpfe sind mir beim Aufstehen abgerissen – und da hab ich mich halt genau im Spiegel gesehen, wie dick ich geworden bin. So kann’s wirklich nicht weitergehen, jetzt ist höchste Eisenbahn zum Abnehmen.“ Er zog das Hemd aus und hielt es der Gattin hin: „Bitte leg das nach dem Waschen ganz oben auf meinen Stapel, damit ich jeden Tag daran erinnert werde, dass sowas nicht mehr passieren darf. Und die Knöpfe werden erst nach minus zehn Kilo wieder angenäht. Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen!“ Die Gattin stellte den Korb ab und legte ihm beide Hände auf die Schultern: „So kenne ich dich, ein Mann mit Entschlusskraft und eisernem Willen. Wir schaffen das – pro Woche ein, zwei Kilo, bis wir zwei Konfektionsgrößen herunter haben!“
Spätabends, nach dem „Gute-Nacht-Bussi“, drehte sich Herr Biermann aber noch einmal zur Gattin um: „Also ein bisserl hinterfotzig bist du’s schon angegangen; wieso war heute nachmittags unser Haus mit einem Schlag komplett kaloriensauber? Ich mein, das muss doch von langer Hand vorbereitet gewesen sein, also komm!“ Seine Hilde drehte sich von der gewohnten Rückenlage auf die linke Seite und sah ihn schuldbewusst mit großen Augen an: „Das war nicht so raffiniert geplant, wie du meinst, sondern halt eine Gelegenheit, die’s kein zweites Mal gibt. Unser Bub ist doch gerade vorgestern in die neue Wohnung eingezogen, und da war natürlich noch nichts zum Essen da in der Küche und so. Die Erika hat mich gestern früh angerufen, ob ich ihr für die erste Zeit mit ein paar Sachen aushelfen kann, bis sie mit dem Rudi einen Großeinkauf macht. Und da ist mir klar geworden, dass wir eigentlich viel zu viel haben – an Lebensmitteln und so – und dass wir eh schon seit langem zu viel essen. Also habe ich der Erika g’sagt, sie soll mit ein paar von den leeren Umzugskartons kommen, und wir haben, während du in der Schule warst, miteinander den Großteil eingefüllt und sie hat’s mitgenommen. Und heute nach dem Essen, während dein’ Mittagsschlaferl, haben wir den letzten Rest verpackt und in ihr Auto verladen. Weil das war die Chance, dass wir endlich ein paar Kilo loswerden! Ich hab seit der Früh schon ein schlechtes Gewissen, dass ich dich so überfallen hab damit, aber so war unseren Kindern g’holfen, und in ein paar Wochen freu’n wir uns vielleicht an Haxen aus, dass wir endlich nimmer so dick sind, was meinst?“
Der Gatte grunzte gerührt: „Also wenn das so war – ego te absolvo! Weil, vertrau’n möchte ich dir schon können, immer, gell? Also mach’ ma’s Beste draus. Gute Nacht.“
Im Gymnasium erklärte Professor Biermann seinen Wechsel vom Jausen-Speckbrot zur Karotte mit seinen zu hohen Cholesterinwerten, und der einmal eingeführte Abendspaziergang wurde für das Ehepaar nach und nach zur liebgewordenen Gewohnheit. Denn nach den ersten zwei verlorenen Kilos einer zugegeben äußerst unangenehmen Woche mit täglicher Abwaage kam wieder Freude an der Bewegung und der lockerer sitzenden Kleidung auf. Pünktlich vor dem Abflug nach Zypern konnte der um neun Kilo reduzierte Professor seine geliebte rote Freizeit-Lederjacke wieder zuknöpfen, und die erschlankte Gattin hatte mit einem Jubelschrei alle ihre nunmehr zu große Kleidung in einen Humana-Container gestopft.
Nur zwei kleine Enttäuschungen mussten zur Strafe noch sein: Die von Frau Biermann angeblich in der Hotelliste erspähte Regina Engel – auf die in einem knappen Bikini am Strand zu sehen sich Herr Biermann schon seit Wochen gefreut hatte – erwies sich als ein Herr Reginald Engel, ein vertrocknetes altes Männlein mit einer stets nörgelnden Frau im Schlepptau. Und das wunderschöne grünseidene Strandkleid, welches der Professor seiner Frau heimlich gekauft und in deren Koffer geschmuggelt hatte, erwies sich als noch immer eine Nummer zu eng! Das war seine schmunzelnd ausgekostete Rache für ihren Überfall – und so musste die Gattin wohl oder übel ihre strenge Diät im ganzen Urlaub fortsetzen, um es wenigstens bei der Abschieds-Strandparty tragen zu können.
Robert Müller
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