Der Wind der Julier
Mathilda zieht sich ein zweites Paar Wollsocken über ihre Schlafsocken an und in eine dicke Lammfelljacke gehüllt schürt sie das Feuer im Ofen der Stube. Die Kälte wollte in diesem Winter nicht weichen, seit Wochen war das Tal von einer dichten Schnee- und Eiskruste verhüllt. Ihre Finger sind klamm und steif, und sie kann nur mit Mühe Wasser in den Kessel füllen. Aus der Kammer nebenan hört sie leises Wimmern und Husten, die Tochter ist wach. Augustin, der Hund, der in diesem Winter im Haus schlafen darf und der in einer Ecke zusammengerollt geschlafen hat, erhebt sich und tapst zum Bett der Kleinen. Ihm entgeht es nie, wenn ein Kind von Mathilda in Nöten ist.
Aus einigen Lagen Decken und Fellen holt Mathilda die kleine Agatha hervor, zieht Haube, Fäustlinge und Überwurf fest um das Mädchen und stillt das fiebernde Kind. Matthias, der drei Jahre ältere Bruder, der im anderen Bett des Zimmers liegt, öffnet die Augen und steckt sich den Daumen in den Mund. Das Feuer knistert im Ofen, Wasserdampf steigt aus dem Kessel auf und taucht den kleinen, dunklen, verrußten Raum in einen feinen Nebel, das Kerzenlicht am Tisch flackert.
„Wir müssen heute Holz sammeln und Hagebutten ernten, Matthias, hörst du? Du musst mir helfen. Agatha braucht Hagebuttentee, damit sie gesund wird. Unsere Vorräte gehen zur Neige und der Winter ist hartnäckig in diesem Jahr.“
Matthias hüpft von der Pritsche und zieht sich rasch an. Aus der Truhe neben dem Tisch holt er Brot und Käse, ein kleines Stück Geräuchertes und zwei Becher. Mathilda beobachtet ihren Sohn liebevoll und atmet tief durch. Seit dem Tod ihres Mannes im Herbst davor konnte sich ihr Herz nur mehr selten erwärmen, und wenn, dann nur durch den Anblick der beiden Kinder.
Nachdem Mathilda die Hühner, Schafe und Schweine im Stall nebenan gefüttert hat, setzt sie sich mit ihrem Sohn an den Tisch und sie essen die spärliche Mahlzeit. Seit Wochen sind sie und der Kleine hungrig aufgewacht und hungrig zu Bett gegangen. Zum Glück hatte sie noch genug Milch in ihren Brüsten für die kleine Agatha.
Ein sachtes, dunkles Knarzen und gleichmäßiges Poltern ist aus der Richtung des Dobratsch zu hören, als sich Mutter und Kinder auf den Weg machen. Die Tochter fest eingehüllt und mit Tüchern an ihren Bauch festgebunden, stapfen sie mit hohen Stiefeln durch den Schnee.
„Hast du das gehört, Matthias? Dobraci grummelt wieder!“ Der Sohn sieht seine Mutter an und schüttelt leicht den Kopf. „Nein, Mutter, ich höre nichts.“ Sie marschieren entlang des teilweise vereisten Flusses und die Wasserkristalle an der Oberfläche bilden einen glitzernden Nebel. Langsam nähern sie sich dem Fuße des Berges, an dessen Hang Hundsrosen wachsen. Der Hund bleibt schwanzwedelnd vor ihnen stehen und hält inne. Hebt einen Fuß und lauscht. Auch er scheint etwas im Inneren des Berges zu vernehmen. Mathilda stellt den kleinen Korb hin und Sohn und Mutter pflücken die letzten Hagebutten der Sträucher. Augustin streift durch die Büsche und sucht nach Beute, er muss sich selbst versorgen.
Wieder knarzt und pocht es aus dem Berg, die Erde scheint leicht zu beben und der Hund schießt nun winselnd aus dem Gebüsch. Ein starker Wind zieht über die Julischen Alpen kommend in ihre Richtung und wirbelt Schnee auf. Das Kopftuch von Mathilda entschwindet in die Lüfte.
„Was ist das, Mutter? Kommt ein Schneesturm?“, der Sohn klammert sich an das Kleid der Mutter und schiebt sich den Daumen in den Mund. „Ich weiß es nicht, Matthias. Ich höre den Groll des Dobraci schon länger poltern. Jede Nacht werde ich wach davon.“
„Was sprichst du da, Frau! Was für einen Groll hörst du?“ Der Bauersfrau nähert sich mit Riesenschritten der Pater des Dorfes, der wohl ihren letzten Satz noch vernommen hat.
„Gott zum Gruße, Hochwürden.“ Sie senkt ihren Kopf und drückt ihre Kinder an sich.
„Was treibt dich hier heraus bei diesem Wetter, Witwe? Und wieso ist dein Haupt nicht bedeckt?“ Der Pater stemmt seine Fäuste in die Seiten, unter seiner dicken Lammfelljacke quillt ein beachtlich großer Bauch hervor. Seine buschigen Augenbrauen sind zusammengezogen und seine hellgrauen Augen funkeln. Mit einer hastigen Bewegung fegt er dem Jungen die Mütze vom Kopf. „Benehmen, meine Junge! Benehmen! Nimm die Mütze ab, wenn ich mit euch spreche!“ Mathilda drückt ihren Sohn an sich und blickt dem Pastor nun in die Augen, ihr Kinn leicht nach vor gereckt, atmet sie tief ein und aus und die Atemluft malt Kringel in die Sphäre.
„Meine Tochter Agatha hat seit Tagen Fieber, Hochwürden. Wir suchen hier nur Hagebutten für das kranke Kind, und Feuerholz für den Ofen, es geht zur Neige.“ Mit zittriger und etwas zischender Stimme schmeißt sie dem Pfarrer die Worte vor die Füße. Dieser kratzt sich am Ohr und macht einen Schmollmund.
„Soso, Hagebutten. Die Witwe hat Kräuterwissen? Ist sie gar im Pakt mit dem Teufel, Ketzerei? Und warum war sie mit den Kindern nicht beim letzten Gottesdienst?“
„Ich sagte doch, dass die Kleine krank ist. Ich konnte deshalb nicht zur heiligen Messe.“ Der Pastor stapft zwei Schritte näher an Mathilda heran, sodass er dicht vor ihr zu Stehen kommt. Sein weingetränkter Atem schlägt ihr ins Gesicht. Die kleine Agatha beginnt plötzlich zu husten und zu weinen, als der Pfarrer zu sprechen beginnt.
„Der Gutsherr hat mir berichtet, dass du die Abgaben als Hufenbäurin nicht mehr leisten kannst. Es hat den Anschein, als kommst du den Pflichten der Kindererziehung nicht ausreichend nach, sie zu gehorsamen, gottesfürchtigen und bescheidenen Menschen zu erziehen! Ich rate dir, nach Einhaltung des Trauerjahres wieder zu heiraten, ansonsten nimmt das ein schlimmes Ende mit dir, Weib!“ Die letzten Worte spuckt er angewidert aus, er rümpft die Nase und rotzt in den Schnee.
Mathilda wendet sich jäh ab, greift nach dem Korb mit den Hagebutten und stapft mit ihren Kindern zurück ins Dorf. Der Erdboden scheint nun wieder leicht zu beben und das Donnern aus dem Berg und der beißende Wind aus den Julischen Alpen legt zu. In ihren Augen sammeln sich Zornestränen, sie weiß es geschickt, sie zu unterdrücken: Kinn nach vor, Rücken gerade, tief atmen.
Auf dem Heimweg muss sie an ihren verstorbenen Mann denken, der nach etlichen Jahren mit Missernten, eisig kalten Wintern und nach dem Heuschreckeneinfall vor drei Jahren den Mut nie verloren hat. Er war Bauer aus voller Überzeugung und beide schufteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem kleinen Hof, um die Abgaben an den Gutsherren rechtzeitig leisten und um die Familie ausreichend ernähren zu können. Sie weiß, dass sie es alleine nur schwer schaffen kann, denn sie hat keine Unterstützung von Nachbarn und Frauen aus der Umgebung, die sie nur als „die fremde Frau aus Italien“ bezeichnen, weil sie die Schöne, Unnahbare war, die den heimischen Bauern geheiratet hat, den andere wollten.
In der Nacht pfeift ein eisiger Schneesturm ums Haus, der an den Fensterläden zerrt und das Vieh im Stall unruhig werden lässt. Mathilda, Matthias und Agatha liegen eng aneinandergeschmiegt unter vielen Decken, der Hund liegt vor dem Bett, hechelt und spitzt die Ohren. Der Donner, der nun durchs Tal poltert, kommt nicht vom Himmel, er kommt aus dem Inneren des Berges. Mathilda kann es bis in ihre Magengrube fühlen. Tisch und Stühle in der Stube nebenan zittern sachte, die Becher in der Truhe schlagen aneinander. Die Kinder schlafen, nur Mathilda, der Hund und das Vieh im Stall sind hellwach.
Am nächsten Morgen liegt die Schneedecke dicht vor der Haustür und eine grelle Wintersonne scheint vom Himmel, als wäre nichts gewesen. Einzig den Schafen, Hühnern und Schweinen ist nicht wohl zumute und der Hund läuft aufgeregt um den Hof. Mathilda bereitet Hagebuttentee und der Sohn holt die letzten Brot- und Käsereste aus der Truhe. Die Kirchenglocken rufen zum Morgengebet und die Dorfbewohner stapfen durch die Schneewehen zur Messe.
Mathilda tritt vor das Haus und ihre Blicke schweifen über den eindrucksvollen Dobratsch, der sich wie ein Herrscher über das Tal zu beugen scheint. Weiter westlich liegen die Julischen Alpen, die Julier, die nun von der Sonne hell ausgeleuchtet im Hintergrund verharren, als hätten sie noch etwas zu erledigen an diesem Tag. Wieder spürt Mathilda ein leichtes Beben unter ihren Füßen, ein beharrliches Knarzen und ein Stöhnen vom Berginneren.
„Was ist denn bloß los, Dobraci?“, flüstert sie. Eine plötzliche Übelkeit macht sich in ihr breit und sie muss würgen. Ihr Herz beginnt zu rasen und der Atem stockt in ihrer Brust. Mathilda läuft ins Haus, verstaut das spärliche Hab und Gut in ein großes Tuch, packt ihre Tochter ins Tragetuch und drängt ihren Sohn zur Eile. Sie öffnet die Stalltür und entlässt das Vieh in die Freiheit.
„Mutter, Mutter, die Erde wackelt!“, schreit der kleine Matthias. Sie laufen zur Kirche, reißen die Türen auf und Mathilda ruft ins Gotteshaus: „Ein Erdbeben, sofort raus hier!“
Dann geht alles ganz schnell. Mathilda läuft mit ihren Kindern und dem Hab und Gut das Dorf entlang Richtung Passstraße. Sie weiß, sie muss weg von hier. Einige Schafe und der Hund laufen hinter ihr her. Lautes Geschrei von den Dorfbewohnern ist zu hören, aber sie ist längst auf dem Weg. Sie ist unterwegs in ihre alte Heimat Venetien, zu einem kleinen Dorf am Meer, während hinter ihr der Dobratsch zornig stürzt. Einhundertfünfzig Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen schüttet der Berg ins Tal hinab. Die nahe gelegene Stadt steht durch das Erdbeben in Flammen, Flüsse treten über die Ufer und Klöster, Kirchen und Gutshäuser werden zu Ruinen.
Mathilda erreicht mit ihren Kindern nach zwei Tagen Fußmarsch ihr Heimatdorf geschwächt, aber lebend. Der Zorn des Dobratsch hat ihr das Leben gerettet, denn einige Wochen später wird die Pest nach Österreich ziehen und Jahrzehnte danach findet in Kärnten der erste Hexenprozess statt.
Angelehnt an die wahre Begebenheit des Bergsturzes vom Dobratsch am 25. Jänner 1348.
Manuela Murauer
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