Sandra und ich waren gerade dabei, die letzten Gläser des Tages aus dem Geschirrspüler zu räumen, als sich die Lokaltüre erneut öffnete, ein Mann mittleren Alters eintrat und sich erkundigte, ob es möglich wäre, noch einen Kaffee zu bekommen. Da es bis zur Sperrstunde noch eine Viertelstunde hin war, bedeutete ich ihm, Platz zu nehmen. „Was darf ich Ihnen bringen?“, obwohl es das Ende eines 14-Stunden-Tages war, hielt sich meine Müdigkeit in Grenzen; vielleicht hatte ich sie einfach schon übertaucht. „Einen großen Braunen bitte“, auf merkwürdige Weise erschien mir sein Lächeln vertraut, als ich ihn ansah, während ich seine Bestellung aufnahm. „Sie haben bis zwei Uhr geöffnet, wenn ich richtig gelesen habe?“, er blickte auf seine Uhr. „Ja“, ich nickte, „aber Sie müssen sich nicht hetzen. Ich bin noch nicht fertig hier!“ „Ich hoffe, Ihr Vorgesetzter weiß Ihre Einsatzbereitschaft zu schätzen!“, sagte er, während er seine Jacke über seinen Stuhl hängte. „Ich denke schon, dass ich meinen Einsatz in meinem Lokal noch schätze“, erwiderte ich. „Das haben Sie sehr gut hinbekommen“, er nickte anerkennend.
„Stört es Sie, wenn ich die Musik wechsle? Um diese Uhrzeit stört sich niemand mehr an Bon Jovi; fürs Alltagsgeschäft taugt er hier leider nicht so wirklich.“ „Nein, absolut nicht“, er schüttelte den Kopf, „ich mag Bon Jovi. Bist du Corinna? Corinna Berger?“ Die Erwähnung meines Mädchennamens ließ mich überrascht aufhorchen. Ich hatte ihn seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gehört. „Mittlerweile Karakaban, ich bin verheiratet“, ich sah ihn überrascht an, „kennen wir uns?“ „Harald“, sagte er leise, „Harald Stein!“ Vor mir saß meine Jugendliebe! Und Bon Jovis Never say Goodbye war unser Lied. „Dreiundzwanzig Jahre“, flüsterte er und umarmte mich, „du bist wunderschön! War das Leben gut zu dir?“ „Ja“, ich lächelte erfreut, „wie geht es dir?“ „Gut, gut, ja“, er lächelte verlegen. Einige Augenblicke standen wir voreinander, ohne zu wissen, was wir sagen sollten.
Sechs Jahre sind eine gute Zeit für eine erste Beziehung. Wir hatten uns bei einer ehrenamtlichen Tätigkeit in einem Altersheim kennen gelernt, da wir beide schon immer sozial engagiert gewesen waren. Schon beim ersten Treffen hatten wir uns ohne viele Worte verstanden. Es fühlte sich natürlich an, wenn wir zusammen waren. Bis wir an einem Freitagabend, bei der Party eines gemeinsamen Freundes, Tom, Arm in Arm einschliefen und uns am nächsten Morgen nach dem Aufwachen einfach küssten, als wären wir schon eine ganze Weile zusammen. Da wir beide Morgenmenschen waren, waren wir früh im Gästezimmer, das Tom uns reserviert hatte, eingeschlafen. „Na ihr beiden, wieso grinst ihr so?“, fragte Tom, als er in die Küche kam, um sich ein Glas Wasser zu holen, ehe er ins Bett ging, weil gerade erst, um sieben Uhr morgens, die letzten Gäste gegangen waren. In jenem Moment verriet mich die Röte, die mir immer ins Gesicht stieg, wenn ich bei etwas ertappt worden war. Tom begann zu lachen. „Corinna, Kleines, ich kenne dich lang genug, du kannst nichts verstecken. Wir haben schon Wetten drauf abgeschlossen, wann es endlich passiert, dass ihr zusammenfindet!“ „Ich hoffe, du hast gut gewettet!“, erwiderte Harald trocken und küsste mich auf die Stirn.
An jenem Samstag hatten wir ausnahmsweise nichts vor, so konnten wir den Tag gemeinsam verbringen und alles auf uns wirken lassen. Wir unternahmen eine Radtour und ließen uns irgendwann mit dem unterwegs besorgten Proviant bei einem kleinen See nieder. Während wir aßen, las Harald mir einige seiner Lieblingsgedichte vor, auch einige, die er selbst verfasst hatte. Ich konnte mich im Klang seiner Stimme verlieren, die den Wortbildern Leben einhauchte. Ich empfand Klopstocks Gefühle aus dem Gedicht Wiedersehen nach, sah den Mond aus Claudius‘ Abendlied vor mir aufgehen, seinen Nebel vor mir aufsteigen und durchlebte Brentanos Liebesnacht im Haine.
Irgendwann lagen wir einfach nur im Schatten, mein Kopf auf seiner Brust, sein Arm um mich gelegt. Mein Herz schlug bis zum Hals, als er sich plötzlich zur Seite drehte und mich lang küsste. „Keine Sorge, meine Kleine, alles hat Zeit, das ist kein Wettbewerb“, er drückte mich fest an sich.
Im Laufe der Zeit entwickelten wir unsere Rituale. Unsere Sonntag verbrachten wir entweder gemeinsam, bei seiner oder meiner Familie oder alleine, wenn wir das Gefühl hatten, Ruhe zu brauchen. Freitag war der Abend, den wir mit Freunden verbrachten, nicht unbedingt zusammen. An zwei bis drei Nachmittagen waren wir gemeinsam ehrenamtlich unterwegs und die Samstage gehörten nur uns. Zumindest Teile unserer Sommer verbrachten wir immer gemeinsam im Ausland, weil wir so viel wie möglich von der Welt sehen wollten. Unsere Radtour durch Litauen, im Sommer nach meinem achtzehnten Geburtstag, war eines unserer intensivsten Erlebnisse, weil es vor allem ihn neue Seiten an mir sehen ließ. Vielleicht war das unser Geheimnis: genug Gemeinsamkeiten, aber auch genug Gespür für die nötige Distanz.
Als wir zu studieren begannen, zog es uns beide von Salzburg nach Wien. Und unser Ende kam so schleichend, dass wir es nicht gleich realisierten. Leise begann die Sprachlosigkeit zwischen uns, weniger Zeit für uns, mehr Zeit, um auszubrechen und sich auszutoben. Immer häufiger verbrachten wir immer mehr Zeit getrennt, mit anderen Menschen und Interessen und damit, Neues zu erleben, das zu teilen uns nicht mehr wirklich gelang. Neben Studium, einem Studentenjob und neuen Freundschaften blieb nicht mehr viel Raum für uns, weil alles Neue, durch das wir uns entwickelten und veränderten, uns voneinander entfremdete. Nach einem Jahr hatten wir außer einigen Bekannten nichts mehr gemeinsam. Wenn ich mich zurückerinnere, sehe ich uns weinend auf der Couch sitzen. Es war eine lange Nacht, in der wir uns zum ersten Mal betrogen hatten. Und das auf derselben Feier, auf die wir geraten waren, weil wir zufällig Bekannte des Gastgebers kannten ...
/Corinna, du weißt, dass ich dich liebe, oder? /Ja ich weiß. Ich dich doch auch. Und wann haben wir uns verloren? /Ich weiß es nicht; ich hätte nie gedacht, dass so etwas ausgerechnet uns passieren würde. Ich habe immer gedacht, dass uns so etwas nicht passieren könnte. /Ja ich auch, für mich waren wir etwas, das einfach zusammengehört, ein Paar wie ein Paar alte Hausschuhe. Aber vielleicht war das unser größter Fehler.
Bald danach zog er aus der gemeinsamen WG aus, nachdem er eine Wohnung und einen Nachmieter gefunden hatte. Gintaras, ein Masterstudent aus Vilnius, meiner Geburtsstadt. Nach dem Studium zog ich für zwei Jahre nach Vilnius, ehe ich eine Stelle als Reservierungsleiterin im Istanbul Marriott Hotel Asia bekam. Die Stelle war auf zwei Jahre befristet, so konnte ich mich mit sechsundzwanzig noch immer umorientieren, sollte mir die Hotellerie nicht mehr zusagen. Doch war ich danach noch weitere drei Jahre geblieben, hatte allerdings die Abteilung gewechselt: Food and Beverage, also Verpflegung, und war sogar Restaurantleiterin geworden.
In Istanbul lernte ich meinen Mann Alican kennen. Auch er war in Wien aufgewachsen und nach der Ausbildung nach Istanbul gekommen. Wieder fing es ohne viel Aufregung an. Wir trafen uns häufig zum Essen, er zeigte mir Istanbul. Genau wie ich liebte er Städte bei Nacht. Wir sprachen viel über Vorstellungen, Glauben und Lebensentwürfe. Auch Alican wollte sich einmal selbstständig machen und fand Gefallen an meiner Idee von einem kleinen Café. Sein Heiratsantrag war keine Überraschung für mich. Harald hätte meine Träume wohl auch nie geteilt. Er wollte immer nur schreiben, das aktuelle Geschehen einfangen. Dafür hatte er, seit wir nach Wien gezogen waren, alles hintangestellt. Für meine Träume und Wünsche hatte er bald kein Ohr mehr gehabt.
Unsere Hochzeit fand im kleinen Rahmen in Istanbul statt. Wir beide, unsere Eltern und unsere engsten Freunde. Nach der Hochzeit zogen Alican und ich bald wieder nach Wien. Wir hatten genug gespart und fanden schon nach kurzer Suche das perfekte Lokal in der Innenstadt. Ein Lokal mit vielen großen Fenstern und hohen Wänden für die Bücherregale. Jeden Abend von sechs bis zehn Uhr kam Vladan, unser kroatischer Pianospieler.
Harald und ich saßen uns an diesem Abend lange schweigend gegenüber. Es war fast auf den Tag genau dreiundzwanzig Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten. Es gab so viel zu erzählen und keinen passenden Einstieg. Schließlich erzählte er mir von seinen Jahren in Amerika, von seiner Frau und seinem Leben. Gegen seinen Wunsch war er kinderlos geblieben; den Grund dafür verriet er mir nicht. Ich nehme an, es ist ein zu persönlicher Grund. Alican holte mich um halb drei ab – wie jeden Freitag. Alles war sauber, die Tageseinnahmen waren abgerechnet und im Safe. Er wusste von Harald und dass es ihn vor ihm in meinem Leben gegeben hatte. Harald und ich haben uns seit jenem Abend nicht mehr gesehen. Das ist vielleicht auch gut so; zwischen einstigen Liebenden wird zu leicht Staub aufgewirbelt.
Cornelia Hell
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