Die Erde liegt krank darnieder, zu viele Verletzungen über die ganzen Jahre. Sie fühlt sich schwach, sie fühlt sich schlecht. Ein Arzt und eine Krankenschwester behandeln sie. „Seit Milliarden Jahren ist sie schon auf der Welt und wurde dabei erschöpfter und erschöpfter. Wie schaffte sie das nur über so lange Zeit, ohne zusammenzubrechen?“, fragt der Arzt die Schwester. „Sie scheint zäh zu sein“, antwortet die Schwester. Ja gut, aber wenn jemand einen aggressiven Krebs in einem finalen Stadium hat, nützt ihm das auch nichts mehr, wenn er zäh ist, denkt der Arzt. Das schon, natürlich, denkt er weiter, die Erde scheint eben keine unheilbare Krankheit zu haben. Sie war lange in einem ungesunden Umfeld. Ihr wurde viel entnommen, von ihrer Haut und aus ihrem Inneren, aber sie ist in keiner unmittelbar lebensbedrohlichen Situation, vieles kann nachwachsen, in ihrem Inneren kann sich einiges nachbilden. Sie hat durchaus eine gute Chance, wieder auf die Beine zu kommen, nach einiger Zeit wieder auf die Beine zu kommen.
„Mir ist so heiß, Herr Doktor“, sagt die Erde. Sie hat Fieber, zeigt das Thermometer an. „Tja“, sagt der Arzt, „die Temperatur an Ihrer Oberfläche steigt kontinuierlich an. In den meisten Fällen ist das schlecht. Theoretisch könnte die Temperatur wieder sinken, aber das würde gemeinsame Anstrengungen verlangen und eine gewisse Zeit dauern.“
Die Erde liegt kraftlos im Krankenbett. Sie kann sich selbst nicht helfen, weder hier auf der Krankenstation noch im Freien, bei sich zuhause. Wie soll sie verhindern, dass sie angebohrt wird, ihre Wälder abgeholzt, Giftmüll vergraben, Grundwasser, Flusswasser, Seewasser immer stärker belastet werden und Tag für Tag neue Arten aussterben, ein Vorgang, der nicht reversibel ist?
Die Erde hat keine Handhabe. Vielleicht gibt es manche, die hören, wie sie sagt: „Schont mich, Leute, schont mich, ewig mache ich das nicht mehr mit. Was heißt ewig? Hundert Jahre können da schon eine lange Zeitspanne sein. Habt ihr denn eine zweite Erde zur Verfügung, auf der ihr leben könnt?“ Natürlich ist derzeit keine zweite Erde bekannt. Würde man eine finden, wäre die Reise zu ihr ein Flug über tausende Generationen. Momentan gibt es keine Möglichkeit, auch nur einen winzigen Teil der Menschheit umzusiedeln. Sie ist auf diese Erde angewiesen, jeder Einzelne ist das.
Die Erde weiß nicht, ob sie sich darüber freuen oder traurig sein soll, was ihr der Arzt soeben mitteilte. „Ja, Herr Doktor“, sagt sie, „dann machen Sie mich doch bitte gesund.“ „Sehen Sie, Frau Erde“, gibt der Arzt zurück, „es ist keine Operation nötig, Sie leiden an keiner viralen Erkrankung. Tabletten hätten keine Wirkung. Sie haben viele Verletzungen erlitten, die aber von selbst ausheilen. In erster Linie sind sie erschöpft. Sie müssen sich ausruhen, dann werden Sie wieder zu Kräften kommen, ich würde sagen fünfzig Jahre.“ „Fünfzig Jahre?“, fragt die Erde nach. „Fünfzig Jahre, ja genau“, erwidert der Arzt, „danach sind Sie eine neue Erde.“
Und die Erde atmet ein und aus, was einen heftigen Wind erzeugt. Später, als sie alleine ist, beginnt sie zu singen, das hört man als Vogelgezwitscher. Manchmal auch weint sie, dann regnet es auf die Erde.
Johannes Tosin
(Text und Foto)
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