Was geht nicht alles verloren. Meine Mutter hat den Verlust der Kamelhaardecke unendlich bedauert, die ihr ihr Bruder aus Holland mitgebracht hat, wo er während des Krieges stationiert gewesen war. Die Kamelhaardecke hat ein besonders tragisches Ende genommen: Mein Bruder hat beim rigorosen Ausmisten der alten Sachen die Decke arglos miteingepackt und zur Sandgrube gebracht, wo sie mit all dem anderen Müll verbrannt und anschließend mit Erde überdeckt worden ist.
Eine Reihe von Fotos, mini-kleine Negativabzüge mit wellig geschnittenem Rand, habe ich als Kind heimlich aus der Zigarrenschachtel genommen und in meine Hosentasche gesteckt. Ich wollte sie mit meiner Tante gemeinsam anschauen und somit einen Grund für den Besuch haben. Ich bin mit dem Fahrrad gefahren, auf dem Sattel hin- und hergerutscht. Die Fotos waren in der Gesäßtasche meiner Jeans. Ich habe wohl auch etwas geschwitzt. Bei der Tante kam es nicht zum Anschauen der Fotos und ich habe vergessen, dass ich sie noch in der Tasche habe. Erst als die Hose in der Wäsche war, wurde meine Freveltat entdeckt. Unwiederbringliche Fotos von längst verstorbenen Vorfahren waren zerstört. Ich spürte den Schmerz und die Trauer meiner Mutter auf mich übertragen, fühlte mich voller Scham. Der Verlust war nicht wiedergutzumachen.
So ist es, wenn der Verlust entdeckt wird. Dann gibt es auch den unentdeckten Verlust, der einen zwar auch schmerzt, der andere aber vermutlich noch viel mehr schmerzen würde, und so hofft man, er möge verborgen bleiben und nach Möglichkeit nicht mit einem in Verbindung gebracht werden. Ja, das sind so Geheimnisse, die man mit sich herumträgt.
Im vergangenen September habe ich mir eine wunderschöne Jeansjacke gekauft, die zu meinem afrikanischen Kleid optimal passen hätte sollen. Ich schreibe im Irrealis, weil es nie dazu gekommen ist, dass ich die Jacke über dem Kleid tragen konnte. Ich zog die Jeansjacke am Tag nach dem Kauf in die Schule an, ging anschließend in die Gärtnerei, um Blumenerde zu besorgen, besuchte auf dem Heimweg noch meine Freundin Melanie, saß eine halbe Stunde auf ihrem Sofa, ohne die Jacke auszuziehen, ging nach Hause, und seither vermisse ich sie. Ich habe alle Orte noch einmal besucht, habe in der Schule beim Hausmeister und den Putzfrauen nachgefragt, habe zu Hause hinter dem Sofa, im Auto unter den Sitzen, in der Garage unter den leeren Bierkästen gesucht. Nirgendwo ist die Jacke aufgetaucht. Ein Mysterium! – Natürlich beobachte ich seither Menschen argwöhnisch, die eine Jeansjacke tragen. Leider erfolglos. Meine ist verschwunden. Lost in Space, wo sonst.
Oma hat eines ihrer beiden Hörgeräte verloren. Unauffindbar. Nicht in der Schürzltasche und auch nicht auf dem Sofa zwischen den Polstern, nicht im Kopftuch eingewickelt und auch nicht im Handtascherl neben dem Gebetbuch, nicht im Rosenkranzschachterl und nicht im Portemonnaie. Verloren für immer! – Das zweite Hörgerät war nach einigen Wochen auch plötzlich verschwunden. Das regte aber jetzt schon niemanden mehr besonders auf. Man gewöhnt sich an Verluste. Umso größer war die Überraschung, als das kleine Wunderwerk der Technik völlig unerwartet im Lockenwickler-Beutel, gut verpackt im Haarnadelschachterl, wieder zum Vorschein kam. Bloß inzwischen hatte sich die Oma schon daran gewöhnt, ohne Hörgerät auszukommen. Es hätte also ruhig verloren bleiben können.
Tina hat nach dem Konzertausflug nach München das Handy verloren. – Nun ist ja ein Handy was anderes als eine Jeansjacke oder ein Hörgerät. Ohne Handy ist man aufgeschmissen. Einen einzigen Tag zu überbrücken, verlangt ein unvorstellbar großes Maß an Selbstüberwindung. Eine Demutsübung. So ein Handy ist praktisch ein Teil der eigenen Festplatte, des Gehirns, der Seele. Der angeborene Speicherplatz reicht ja längst nicht mehr aus. Sim-Karte, Guthaben, Vertrag sind das Eine, persönliche Daten, Telefonnummern, E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, gespeicherte Musikvorlieben, eventuell ureigenste Kompositionen, Fotos, Videos sind das Andere. Beim Handy ist es quasi so, als hätte man sich selber verloren. Wahrscheinlich kann man nur einen winzig kleinen Bruchteil davon wieder rekonstruieren. – Bitter, zum Weinen! Ich finde keine Worte.
Tina hat gesucht: vor der Bäckerei, wo sie zum Brezen-Kaufen ausgestiegen ist. – Fehlanzeige! Im fremden Auto, in dem sie mitgefahren ist, mehrmals und besonders gründlich. – Fehlanzeige! Im Tascherl, in der Hosentasche, im Winterstiefel, zwischen den Notizbücherln, unter dem Kopfkissen, im Schminktascherl, im Hut. Überall Fehlanzeige! Keine Chance! Lost in Space! Definitiv.
Das heißt jetzt praktisch, ein neuer Lebensabschnitt muss wohl oder übel beginnen. Gewissermaßen eine Fügung von oben, aus dem Space.
Tina packt es erstaunlich gelassen an. Gar nicht schlecht ohne Handy, auch ohne Uhrzeit. Ein neuartiges Gefühl von Freiheit. Ein unbeschriebenes Blatt. Ein paar Tage ohne Handy, unerreichbar für missliebige Zeitgenossen. Tina kann selber entscheiden, wen sie kontaktieren kann und will. Mich ruft sie auf dem Festnetz an. Eine schon fast vergessene Gewohnheit aus dem letzten Jahrtausend. Vor allem beklagt Tina die auf dem Handy gespeicherte Musik. Sie kann ihre Musik nicht mehr hören. Bitter. Aber das Leben geht weiter.
Was verlieren wir nicht alles im Lauf unseres Lebens. Mit der Datenmenge, die auf einem Handy, einem Laptop, einem Stick Platz hat, ist die Kamelhaardecke vom Anfang der Geschichte natürlich in keinster Weise vergleichbar, aber auch diese Datenmenge ist verschmerzbar. Irgendwo wird sie ja auch noch da sein, irgendwo im Space, wenn wir auch keinen Zugriff mehr darauf haben.
Oma verliert die Erinnerung. Menschen, Orte, Räume, Sicherheiten werden undeutlich, vage und verschwinden. Nur die Hitler-Verserl aus der Lesefibel von 1934 und das „Lied an die Glocke“ bleiben noch eine Weile.
Ich habe nicht nur die Eltern, sondern auch mein Elternhaus verloren. Manche Beziehung zu einem einst nahestehenden Menschen hat sich aufgelöst. Nur diffuse Spinnweben bleiben.
Aber andere verlieren ihren Namen und ihre Identität, wie wir aus Krimis wissen.
Khushal hat seine Heimat verloren, wer weiß für wie lange.
Tina hat die Meerschweinchen, die ihr ans Herz gewachsen waren, schon vor langer Zeit verloren. Schuld war die Mordlust des Fuchses.
Auch die Oma hat sie verloren.
Jakob hat den Anschluss im Studium verloren und die Freundin.
Jonas hat das Rennrad verloren, die Rain und sein bescheidenes Platzerl in der Weltmetropole Berlin. – Neuerdings hat er sein Herz verloren in Arresting.
Josef hat schon mehrere Handys verloren, aber Gott sei Dank nicht den Arbeitsplatz und auch nicht Mona. Die Zigarettensucht verliert er hoffentlich noch ganz.
Sebastian hat eigentlich noch gar nichts verloren, außer seine Unschuld. – Ja, so geht’s den Menschen, die mit einer Glückshaut und an einem Sonntag geboren sind.
Sepp hat auch noch nichts Nennenswertes verloren, nur den orangefarbenen Capri, der nach Sommer und Süden und mehr roch, und den imposanten Schlüsselanhänger aus Fuchsfell, der einst elegant aus der Hosentasche baumelte. Alles andere war nur um Haaresbreite verloren. Nicht einmal die Sterndldecke aus Polyäthylen ist verloren gegangen in den Wirren der Zeit. Dabei wäre ihr Verlust in meinen Augen leichter zu ertragen gewesen, als der der kostbaren Kamelhaardecke. Aber daran sehen wir, dass wir unser Herz manchmal ungerechtfertigt an Dinge heften. Wir müssen manches verlieren, um es im Herzen bewahren zu können. Und im Space wartet ja ohnehin alles auf uns. Das wird eine Wiedersehensfreude geben.
So verlieren wir unablässig etwas und leben trotzdem weiter. Und selbst wenn wir das Leben verlieren, wird es irgendwo weitergehen, dort, wo all die verlorenen Sachen auch aufgehoben sein müssen. – Das Haus verliert bekanntermaßen nichts und das Weltall schon gar nicht. Lost in Space, verloren im Nirgendwo, verloren in der Unendlichkeit des Universums braucht also keinem von uns Angst machen.
So können wir uns geborgen fühlen im Bündel des Lebens. Lost in Space ist ein anderes Wort für die Ewigkeit. Bestimmt ist dort meine Jeansjacke aufgehoben und Tinas Handy und alles andere auch, an das wir schon gar keine Erinnerung mehr haben. Und ich glaube, dieser ferne Ort geht keinem von uns verloren.
Vor zwei Wochen habe ich mir einen Teppich gekauft, von dem greisen Herrn Reza Gohari, der vor mehr als siebzig Jahren seine Heimat Teheran verloren hat, mitsamt dem Schah Reza Pahlevi und dem Persien seiner großen Familiendynastie. Seither lebt er mit all seinen geretteten Kostbarkeiten in München, in einem Ein-Zimmer-Appartement. Es ist kein fliegender Teppich, aber vielleicht bekommt er diese verlorene Fähigkeit zurück. Ich glaube daran. In Isfahan ist er vor mehr als siebzig Jahren kunstfertig geknüpft worden. Geschickte Frauenhände haben ein Tor zum Paradies aus Seiden- und Wollfäden geknotet, das mit Blumen geschmückt und von lebensfrohen Vögelchen umrahmt ist. Das Paradies lädt dich und mich und uns alle ein, mit den Augen durchzuschreiten und dorthin zu gelangen, wo all unser Verloren-Geglaubtes sicher verwahrt ist. Alles Böse wird von den kampflustigen Hähnen, die über dem Torbogen Wache halten, sofort verschlungen. So gelangt nur das Geläuterte, Reine, Schöne und Gute hinein. In den Space, wie Tina sagt, ins Paradies, oder wie auch immer wir diese himmlischen Sphären nennen. Aber lost ist dort nichts, gar nichts, nicht einmal die Stricknadeln der Oma und auch nicht ihr Kramerladen. Im Space ist Platz für alles.
Weihnachten 2019
Claudia Kellnhofer
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20012