Irgendwann kommt der Moment, wo man nicht mehr zu den Männern gehört, die Häuser bauen, im Wald Holz machen oder sonstige mit Schwerarbeit verbundene und damit prestigeträchtige Projekte bewältigen. Man ist eben älter geworden.
Vor einigen Wochen kuppelte der Pensionist Anton Kurz den kleinen Anhänger an sein Auto und fuhr zum nahe gelegenen Kieswerk, um einen viertel Kubikmeter Schotter für seinen Gartenweg zu holen.
Es versprach ein schöner Septembertag zu werden, als er frühmorgens gegen sieben Uhr über die Feldwege fuhr; die Vögel sangen in den Hecken und die Sonne hing als orangener Feuerball noch tief am Himmel. Herr Kurz erinnerte sich der vielen Male, die er – damals als Mittfünfziger – meistens um diese Tageszeit zu seiner Baustelle unterwegs gewesen war.
Ach Gott, war das eine schöne Zeit gewesen, trotz oder – so denkt er heute darüber – gerade wegen der schweren Arbeit beim Aufmauern seines Hauses im Grüngürtel außerhalb Wiens. Ja, es war eine Schinderei, den ganzen Tag bei Wind und Kälte (er baute größtenteils im Winter, wenn die bereits abgemeldeten Herren Maurer gerne einen Wochenend-Pfusch annahmen) Mörtel mischen, Ziegel schleppen, Wasser holen, Gerüst bauen etc. Aber am Abend, wenn er sich vor dem Heimfahren noch einmal müde umdrehte, sah er die Arbeitsleistung des Tages im nunmehr wieder höher gewordenen Mauerwerk, in den ausgesparten Fenstern und Türöffnungen. „Heute ist ganz schön etwas weitergegangen“, dachte er da befriedigt und vergaß das Kreuzweh und die zerschundenen Hände. Er hatte etwas geleistet, was nicht jeder konnte, er hatte schwere Arbeit getan und war in Gesellschaft von Männern, die als „Hand-Werker“ (Maurer, Zimmerleute, Elektriker, Installateure oder Dachdecker) Häuser entstehen ließen, Grundstücke planierten, Gärten anlegten, mit Krampen und Schaufel Wege bauten – mit einem Wort: Heimstätten schufen, aus dem nackten Boden Häuser bauten für ihre Familien und Freunde.
Jeden Sonntag, wenn er nachmittags müde und abgerackert in schmutziger Arbeitskleidung vor seinem Wiener Wohnblock aus seinem uralten Auto stieg, standen einige Bewohner in teurer Freizeitkleidung am Parkplatz herum, besprachen ihre Ausflüge und die Lokale, in die sie mit ihren Frauen eingekehrt waren, und sahen mitleidig lächelnd zu ihm herüber. Jedoch Anton Kurz grinste nur überlegen und winkte ihnen zu, bevor er zu seiner Wohnung hinaufstieg. Die Nachbarn waren zumeist Angestellte oder Beamte in seiner Einkommensklasse, sie gaben ihr Geld für die Annehmlichkeiten des Lebens aus und hatten vielleicht ein kleines Bankkonto, aber kaum einer von ihnen hatte jemals einen Ziegel auf den anderen gelegt – es waren eben Leute und keine Männer. Und offensichtlich schätzten diese Nachbarn ihre Mitbewohner nach Urlaubsreisen, Auto, Tennisklub und dem Outfit ihrer Frauen ein; somit gehörte Anton nicht zu den „Schönen und Reichen“ seines Wohnblocks.
Aber als ihn – gegen Ende der Rohbauphase – ein Nachbar zufällig beim Heurigen traf, wo Anton mit seinem Maurer und einem Helfer zu Mittag aß, ergab sich bei der Theke doch ein kurzes Gespräch, bei dem der erstaunte Mitbewohner erfuhr, dass Anton in dieser prominenten Heurigengegend einen Garten hatte und nun ein Haus baute. Was sich in seinem Wohnblock rasch herumsprach und zur Folge hatte, dass Anton nun von seinen Nachbarn freundlicher gegrüßt wurde und auch in deren Achtung deutlich gestiegen war. Man bedenke, ein Haus in diesem schönen Vorort Wiens! Aber er kümmerte sich nicht viel darum – wer vorher mit ihm auf gutem Fuß gestanden hatte, blieb es weiterhin, und die „Neu-Freundlichen“ begrüßte er genauso reserviert wie sie vorher ihn. Nur die Neid erregende Bemerkung, dass er gänzlich ohne Kredit baute, hatte er sich doch nicht verkneifen können.
Aber das war nun Vergangenheit, Anton hatte sein Werk getan: ein Haus gebaut, ein Kind aufgezogen, einen Garten angelegt, und nun war er auch schon aus den Erfordernissen des Berufslebens heraus, wo er 45 Jahre lang fleißig gearbeitet und manchen Erfolg verbucht hatte. Auch das fehlte ihm, das Bewältigen schwieriger Aufgaben und der Zeitdruck. So manches Mal war er mit einem ungelösten Problem zu Bett gegangen und hatte doch kaum Schlaf gefunden, weil er nicht wusste, wie der nächste Tag laufen sollte. Manchmal war ihm dann im Morgengrauen eine Lösung eingefallen, weil er sich bemüht hatte, die Sachlage alternativ zu sehen, das Problem von anderer Seite zu beleuchten. Oder er hatte seiner Frau auf ihre besorgte Rückfrage die schwierige Situation möglichst verständlich zu erklären versucht, was ihm manchmal einen verblüffend einfachen Lösungsansatz bescherte.
Je nun, vorbei ist vorbei – jetzt sollte er sich besser seiner noch passablen Gesundheit und der wohlverdienten Pension erfreuen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Und an einem so schönen Morgen mit dem Auto unterwegs sein, ein paar Scheibtruhen Schotter holen und anschließend mit der Frau auf der selbst gemauerten Terrasse frühstücken – gab es was Schöneres? Schon war er auf der staubigen Brückenwaage, kletterte die Eisenstiege zum Vorarbeiter hinauf, sagte seinen Wunsch und fuhr dann hinunter ins Kieswerk, wo ihm der Baggerfahrer eine viertel Schaufel Kies in den Anhänger kippte. Nun wieder zurück auf die Brückenwaage und ins „Büro“ zum Zahlen. Hier musste er warten, bis die drei Fahrer der riesigen Betonmischer und zwei „Häuslbauer“ abgefertigt waren.
Anton hörte sie über ihre Arbeit reden, die Zeit- und Materialprobleme, und was sie alles noch vor bzw. bereits geleistet hatten. Als bauerfahrener „Hackler“ beteiligte er sich an einem Gespräch und riet einem „Leidensgenossen“, der gerade seinen Rohbau fertig hatte und schon einen Weg betonieren wollte, davon ab. Es wäre – so Anton – praktischer, den Zugang zwischen Gartentor und Haus provisorisch mit im Rasen liegenden Trittsteinen anzulegen, bis auch die Fassade fertig sei. Denn es passiert oft genug, dass der „Trampelpfad“, wo die Menschen wirklich zum Haus gehen, nicht immer eine gerade Linie ist. Einer der LKW-Fahrer stimmte zu, er hätte auch seinen befestigten, rechteckig angelegten Weg nach einem Jahr wieder mühsam herausreißen müssen, weil Frau, Kinder und Gäste daneben im Gras eine Kurve eingetreten hätten. Außerdem wäre das viel hübscher geworden als die harte gerade Linie. Was den betreffenden „Häuslbauer“ dann nachdenklich stimmte.
Da rief ihn der Vorarbeiter zur Kassa, Anton legte den kleinen Geldschein hin und warf die Wechselgeld-Münzen in die „Kaffee-Kasse“, ein abgestoßenes Keramik-Sparschwein neben dem Bildschirm. Mit „Alsdann pfüat euch“ kletterte er dann die Gitterstufen zum Auto hinunter und fuhr langsam nach Hause. Es rumorte noch immer leise in ihm, dass er jetzt nicht mehr zu den „produktiven, Schwerarbeit leistenden“ Männern gehörte, sondern ein „nicht mehr viel nützer“ und daher, wie er es empfand, auch weniger geachteter Pensionist war. Natürlich sagte er sich beim Heimfahren selbst mehrmals, dass er doch das Seine geleistet und viel geschafft hatte, mit Arbeit Tag und Nacht und allen dazugehörigen „Randerscheinungen“ wie Kreuzweh, Sorgen, Stress, eiserner Sparsamkeit und kaum „Freizeitvergnügen“. Ja, alles in Ordnung, er war stolz auf das Erreichte, auch Familie und Freunde anerkannten das.
Warum dann diese wehmütige Stimmung, wenn er andere dem Ziel zustreben sah, das er schon erreicht hatte? Traf für ihn die Redewendung „Der Weg ist das Ziel“ zu? Nein, Herrgott nochmal, sicher nicht! Er hatte geackert, um etwas zu erreichen und nicht, um ewig weiter ackern zu müssen! Ja, das war’s, er hatte seine Ziele erreicht und war damit zufrieden. Also warum zum Kuckuck beneidete er die noch aktiven Häuslbauer? Vielleicht, weil sie ein Ziel hatten, das ihm nun fehlte? Ja, das auch, gestand er sich ein. Aber da war noch was, etwas nicht so leicht zu Greifendes, das ihm keine Ruhe ließ.
Wieder zu Hause stellte er den Wagen in die Garage und den Anhänger zum Gartenweg, dann rief die Gattin schon: „Kaffee ist fertig!“ Anton liebte diese wichtigste Mahlzeit des Tages, in einem sonnigen schönen Garten am liebevoll gedeckten Tisch Platz zu nehmen und den ersten Schluck Kaffee zu genießen. „Was ist mit dir – du siehst irgendwie bedrückt aus?“, ermunterte ihn die Frau zum Sprechen.
Als Anton ihr von seinen Gefühlen erzählte, wie er die noch aktiven „Häuslbauer“ beneidet hätte und eigentlich nicht wusste warum, blickte sie eine Weile sinnend in die Luft und meinte dann: „Ich glaube, du beneidest sie nicht um die Arbeit, nein, du beneidest sie um das Können, dass sie dazu noch körperlich imstande sind. Ja, mein Lieber, wir sind älter geworden und das müssen wir akzeptieren! Heimweh ist ja auch nicht die Sehnsucht nach dem Ort, sondern nach der Zeit, als wir dort waren. Diese schwer arbeitenden „Häuslbauer“ würden dich beneiden, wenn sie dein Haus und den Garten sehen könnten, sie würden gerne mit dir tauschen und sich viel lieber an den gedeckten Tisch setzen, als schon wieder die Schaufel und die Scheibtruhe in die Hand zu nehmen, glaubst du nicht auch?“
Da stand Anton von seinem Platz auf, ging um den Tisch herum und gab ihr einen Kuss: „Ja, du hast recht, ich sollte das jetzt genießen und nach vorne schauen. Ich werde dann die Nachbarn fragen, ob sie nachmittags Zeit für eine Tarockpartie hätten, was meinst du?“
Robert Müller
www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 20093