Apokalypse reloaded III: Angewandte Geographie

Noch einmal der selbe Ort und fast die selbe Personage. Wir spielten einmal wie so oft im Hof Weltreisen, Hedi, Franzi und ich. Dazu gruben wir mit Stöckchen Kanäle, Gänge und Gruben in die Erde, durch die wir dann unsere Murmeln laufen ließen. Sie waren gewunden und die Löcher so tief, wie wir nur graben konnten.
Was war der Wettbewerb? So viele Ziele wie möglich aufzusagen, wohin die Murmeln rollen sollten.

Als Älteste von uns Dreien war ich im Vorteil. Ich denke, ich werde etwa neun gewesen sein, Hedi zwei Jahre jünger, Franzi noch vor der Einschulung.
Es war wahrscheinlich der neunte Geburtstag, als ich ein Buch geschenkt bekommen habe, damals sehr aktuell, Thor Heyerdahls „Aku-Aku“. Später kam „Kontiki“ dazu. Als frühe Vielleserin waren das meine Lieblinge. Später folgten die Reisebeschreibungen von Sven Hedin und Amundsen.
Aber da meine Eltern eine Art von verallgemeinernd-verwirtschaftender Kulturerziehung betrieben, bekamen alle Geschwister einmal ihren Moment: Es wurde von meinem Vater in dramatisierter Art das jeweilige Lieblingsbuch vorgelesen, am großen Familientisch nach dem Abendessen und dem Rosenkranz. Bei den älteren Geschwistern werden es damals die diversen Karl Mays gewesen sein, für die ich mich nicht interessierte. Endlich kam mein Lieblingsbuch Aku-Aku an die Reihe. Mein Vater hatte ein dramatisches Talent, beim Lesen alles zu rhythmisieren und musikalisieren. Er vertonte Kinderbücher genauso wie klassische Balladen. Er versetzte mit Aku-Aku alle in Begeisterung, und von nun an sprachen wir über nichts mehr anderes als über Ozeanien und die Osterinseln. Das hatte gravierende Folgen.

Wie die älteren Geschwister das verarbeitet haben, weiß ich natürlich nicht mehr. Aber unter uns Jüngeren war das lange ein Thema. Wie kommen wir von Tulln, Königstetterstraße 13, nach Ozeanien, Tahiti, Fidschi, auf die Osterinsel, nach Australien, in die Karibik, nach Tasmanien und Japan? Wir berauschten uns an komplizierten Namen wie Kilimandscharo und Fudschijama, Popokatepetl und Taklamakan, Atakama, Kysyl-Kum und Amur-Darja, Samarkand und Buchara, Ratanui,Tschuktschen, Sulawesi und Sambesi. Wir gruben Gänge in den Gartenhof, bauten Gruben, so tief wir konnten und träumten vom Durchstich auf die andere Seite der Erdkugel.

Wir hatten unser Vergnügen daran, Buchstaben oder Wortteile umzustellen und konnten davon nicht genug kriegen: Fudschi-Kili, Kumm-Kiesel-kumm, Lula-Wasi, Bem-Sasi. Bei den Tschuktschen – Tschek-tschucktschuck … wäre Franzi einmal fast erstickt, weil er seine Zunge verschluckte. Mein Lieblingswort war der Popokatepetl, bei Hedi war es Dshallalabad. Uns konnte man nicht Schuld geben für unsere ungewöhnlichen Spiele.
Wie alle Kinder waren wir nur die Papageien der Eltern. Papa mit seinem dramatischen Vortrag von „Walle walle, manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe ...“
Er selbst schien Spaß an Wortverdrehungen zu haben und hat uns zur Nachahmung angeregt. Bei uns ging damals eine Hausschneiderin aus und ein, die kleine Ausbesserungs- und Strickarbeiten übernahm, eine Frau Muck aus Muckendorf-Wipfing, das Dorf nach Langenlebebarn und vor Zeiselmauer. Er konnte sich köstlich darüber amüsieren, wie wir uns ärgerten, wenn er die Anfangsbuchstaben verdrehte zu Frau Wick aus Mickendorf-Wupfing. Nein, Papa, protestierten wir, so heißt sie nicht, sie heißt Frau Muck aus Muckendorf-Wipfing, und immer wieder andersrum. Aha, die Frau Mick aus Wupfendorf-Mipfing. Ein frühzeitiges, kindliches Rappen.

Den Hauptmurmeln, also jenen, die den Anfang machten, gaben wir die Namen unserer Lieblingshelden. Sie waren etwas größer als die „Arbeiter“ und bunter. Die Anführer wurden in die Gänge geschossen, die Mannschaften folgten ihnen nach, so drangen wir immer weiter zum Erdmittelpunkt vor.
Bei mir war es eindeutig Darwin, beim kleinen Franzi einfachheitshalber Thor, Hedi hat sich nie entscheiden können und sich in Amundsen, Colombo und Cook gleichzeitig verliebt. Bevor wir die Murmeln in die Gänge setzten, spuckten wir auf den großen Darwin, Thor und Cook und ließen sie los auf ihre Erkundungsfahrten. Wir besaßen damals als nicht wohlhabende, kinderreiche Familie noch nicht den Luxus eines Globus und daher nur ungefähre Vorstellungen von der Weltkugel. Ich war mit Darwin eher auf den Süden gerichtet, Thor nach Ozeanien, und Cook schiffte dazwischen herum.

In unser Spiel vertieft, bemerkten wir nicht, dass sich unser Vater einmal über uns beugte.
Was spielt ihr denn da?
Wir spielen nicht. Wir entdecken die Welt und erobern sie.
Wo wollt ihr denn hin?
Zum Kilimandscharo und zum Fudschijama. Ich als die Älteste.
Wie kommt ihr denn da hin?
Durch die Erdkugel einfach durch und durch.
Und was ist, wenn ihr dort am anderen Ende rauskommt?
Das wissen wir nicht, wir sind noch nicht so weit. Weißt du es?
Vater war für uns ein Gott und wusste alles.
Also, wenn ihr in Afrika beim Kilimandscharo herauskommt, hängt ihr in den Höhlen und Bäumen kopfüber wie die Fledermäuse. Das sind die Antipoden, die Kopffüßler. Sie gehen am Kopf und das nur rückwärts. Aber passt auf, gejagt und gefuttert wird nur nachts.
Wenn ihr beim Fudschijama herauskommt, müsst ihr abwechselnd auf den Händen und dem Popo gehen. Es gibt dort nur Reis zu essen, manchmal auch Nudeln und Algen.
Wir kannten damals weder Reis noch Nudeln noch Algen, nur Erdäpfel, Grießschmarrn und Sterz. Trotzdem wurden wir groß und stark.

Das Murmelspiel stellten wir bald ein. Dafür übten wir unermüdlich, ohne unsere Kapitäne Darwin, Thor und Cook, in unserem heimischen Garten, vom dicksten Ast des Kirschbaumes kopfüber herunterzuhängen, herunterzufallen, auf den Händen zu gehen und auf dem Hintern im Gras herumzurutschen. Eine kleine Affenhorde. Mir war am wichtigsten, nachts möglichst nicht zu schlafen, um die Jagd nicht zu verpassen.
Als Franzi im nächsten September eingeschult wurde und ihn die Lehrerin fragte, was denn sein Vater so arbeite, antwortete er: Mein Vater ist ein Prophet.
(Er war Mittelschullehrer und wurde als solcher mit Professor angeredet.)
Gut. Und was arbeitet deine Mutter?
Die macht gar nichts, die ist immer nur zu Hause.

12.6. 20

Veronika Seyr
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