Das Museum der Brentanos: Abfahrt

Um sieben läutete der Wecker. Ich zog immer noch meinen alten analogen Wecker, den ich manuell einstellen musste, meinem Handy vor, obwohl er einen unerträglichen Ton von sich gab, der rasendes Herzklopfen verursachte. Die Körperreinigung erledigte ich auf sparsame Weise, notgedrungen. Solange es noch kühl war, wollte ich zum Hilton Molino Stucky Ve­nice gehen. Ich ging nicht ent­lang der Fondamenta, sondern südlich davon, an der Rückseite des Fortuny-Gebäudes. An der östlichen Außenwand des Hilton näherte ich mich dem Haupteingang, vor dem die Boote an der Vaporetto-Station anlegten und die Gäste auf die Abfahrt warteten und die neuen anleg­ten. Dann wandte ich mich dem Campo Junghans zu, der wegen der früher dort angesie­delten Fabrik Arturo Junghans so heißt. Es handelte sich tatsächlich um die berühmte Uhren­fabrik.

In der Bar nahm ich wie gestern einen Espresso und zwei Brioche, setzte mich nach draußen, ver­folgte das morgendliche Geschehen. Die engen Gässchen, in denen am Morgen die Müllsäcke abgeholt wurden – die Müllentsorgung schien auf Giudecca zu funktionieren, ganz anders hingegen in Rom, wo die Müllberge wuchsen –, ein Winkelwerk, brachten mich zur Vaporetto-Station Pa­lanca, es ging hin­über nach Zattere. Eine Tafel machte auf den russischen Lyriker Joseph Brodsky aufmerksam, der in der Villa hinter der Mauer gelebt hatte. Achtzehn Jahre hatte er in Venedig verbracht. Wer blieb vor dieser Tafel stehen? Wem fiel sie auf? Brodsky starb zwar in New York, den­noch liegt sein Grab auf der Friedhofsinsel San Michele. Mir fiel ein, dass Franz Kafka in Venedig an Felice Bauer schrieb. Wo stand das Haus, in dem er abgestie­gen war?

Bevor ich das Kunstmuseum Punta della Dogana besuchte, besichtigte ich die sich wie ein übergewichtiger Körper präsentie­rende Kathedrale Santa Maria della Salute, deren Inneres mich nicht sonderlich be­eindruckte. Alles war übertrieben groß und nach meinem Geschmack überladen, ein Ausdruck barocker Gottesfurcht. Im Kunstmu­seum, einer Dependance des Pa­lazzo Grassi, stellte man unter dem Titel Accrochage Objekte, Plastiken, Collagen aus, da­run-ter Objekte des österrei­chischen Künstlers Franz West. Ich durchschritt die großen Hallen, die das Gefühl der Verlo­renheit und Unbedeutendheit ange­sichts der teilweise riesengroßen Aus-stellungsobjekte her­vorrufen soll­ten, und empfand ein distanziertes Interesse an den Kunst-werken, nicht wirklich Begeiste­rung, geschweige Ergrif­fenheit oder gar Identifikation. Die Objekte schienen mir abstrakte, ohne Beteiligung von Emotionen entworfene Gebilde zu sein, Konstrukte, bei deren Entste­hen CAD oder Maschi­nen oder Roboter im Spiel hätten sein können.

Ist der Mensch bereits abgelöst worden als alleiniger Schöpfer, als Hervorbringer künstlerischer, auch intellektueller Leistungen? Selbst­verständlich, lange schon. Man denke nur an Schachcom­puter. Die Besucher gingen still durch die Aus­stellung, hin und wieder hörte man ein Räus­pern, die geflüsterte Unterhaltung von Paaren zur gegenseitigen Erklärung des Gese­henen, die Schritte der Aufseher und der Besucher. Obwohl nicht religiös bedingt, ähnelte die Atmo­sphäre in der Tat jener in der nahen Santa Maria della Salute, abgesehen von der dorti­gen Dunkelheit und der geringeren Zahl an Besuchern hier. Stille, Schweigen, stumme Fra­gen. Informativ war der Besuch der Ausstel­lung allemal. Es zog mich – die Aus­stellung hatte mich überfordert, vor allem hinsichtlich meiner Haltung zu gegenwärtigen künstlerischen Strö­mungen – nach Giudecca zurück.

Mein Bru­der würde mich wohl einen hoff­nungslos Konservativen nennen, wenn nicht einen Banausen, einen, der in seiner Kunstbe­trachtung hilflos auf seinem Stand von vor dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahren verharrt. Die Impressionisten, Gauguin und die klassische Moderne, das war’s, dann bist du stehen geblieben, würde er sagen. Ich stieg ins nächste Vapo­retto  nach Palanca, und da es erst später Vormittag war, fand ich sogar Platz in einem der Restaurants an den Fondamenta, aß eine Portion Spaghetti Carbonara und schämte mich nicht mehr. Ein Mittags­schläfchen im alten Bett der Brentanos mit dem hohen Kopfteil aus dunk­lem Holz, mit dem ebensolchen Fußteil, im kühlen, verdunkelten Zimmer. Vorher gegen Insekten eincremen. Einige Gedichte Rilkes schob ich ein, bevor ich nachmittags wieder losziehen wollte.

Ein Steg verbindet Giudecca südwestlich des Hilton mit der kleinen Insel Sacca Fisola. Man hatte dort uniforme Sozialwohnungen gebaut. Wohnblöcke in eher dunklen Farben, moos­grün, die zum Teil aussahen, als wären sie vom Schimmel oder von Flechten, von Algen und von Feuch­tigkeit be­fallen. Ich sah kaum Menschen. Alleine ging ich zwischen den monotonen Quadern, und ich fühlte mich unwohl dabei, genierte mich, die vom lebendigen Giudecca getrennte Ghetto­siedlung neugierig, mit dem Fotoapparat in der Hand, den ich fleißig be­nützte, zu durchwan­dern. Ich kam mir vor wie in einem postkommunistischen Land, inmitten einer rasch heraus­gestampften Siedlung aus Plattenbauten, die man wie Neuland, wie ein exotisches Territorium besichtigte, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war. Die Häuser hier ähnelten jenen in ihrem großenteils  vernachlässigten Zustand sehr.

Nur selten begegnete ich einem Bewohner, der eine oder die andere Jugendliche streunte aus Langeweile herum, eine Ziga­rette in der einen, eine Dose Bier oder einen Energydrink in der anderen Hand, das Handy in der Gesäßtasche. Von der Vapo­retto-Anle­gestelle kam manchmal eine Person und strebte ihrer Wohnung zu. Ein Einkaufs­zentrum fiel mir nicht auf, dafür ein, zwei kleinere Geschäfte, eine Trafik. Vom Canale della Giudecca drangen Signale der Schiffe in allen möglichen Tonlagen und Laut­stärken her, laut, wie es mir bisher noch gar nicht aufgefallen war. Möglicherweise trug der Wind zu einer akustischen Verstärkung bei. Die Siedlung deprimierte mich. So interessant sie in sozialer Hinsicht war, als deutlicher Gegenentwurf zum historischen, klerikalen, imperialen Venedig, stellte sie einen realisti­schen Ausschnitt eines Areals dar, das der offenbar ärmeren Bevölke­rung zuge­dacht war. Sie war gewissermaßen ein Kontrapunkt zur prunkvollen Welt der Kunst, der Kir­chen, zu histori­schen Orten, Museen, Palästen, überfüllten Lokalen, Restaurants und staunen­den, oft wohlha­benden Besuchermassen.

Zurück auf den Fondamenta hoffte ich, dass eine Pizza, dass ein Glas Rotwein meine Melancholie vertreiben und nicht ver­stärken würden. Einen Ver­such war es wert. Vor Il Redentore fand ich einen angenehmen Platz, etwas zurück­gesetzt von den Fondamenta. Es gab dort gerade keine Pizzas, weil der Ofen de­fekt war. Ich nahm Frutti di Mare, köstlich. Keine Spaghetti diesmal, obwohl ich das Stadium des Schämens überwunden hatte. Es dauerte etwas, dann fühlte ich mich wohler, und der rote Wein schmeckte fruchtig und warm. Ich spürte die wunderbar befreiende Wirkung des Alko­hols und Zuversicht in mir aufsteigen. Im Wes­ten, wie ein Fanal, zogen dunkle Wolken auf. Zunächst beachteten wir alle sie kaum, aber dann ging es schnell: Eine schwarze Wol­ken­wand baute sich in rasendem Tempo auf, der Wind wurde innerhalb von Augenblicken stär­ker, schwoll ebenso rasch zum Sturm an, erste Regentropfen wandelten sich in Sekunden zum Regen­guss, zum Wolkenbruch.

Wir, die Gäste, das Personal und Leute von der Straße, stürzten ins Res­taurant. Ich bezahlte, wartete lange Minuten, dann fasste ich mir ein Herz und rannte unter Blitz und Donner zum Museum der Brentanos. Nach mehreren zitternden Versuchen konnte ich endlich die Haustür aufsper­ren. Ich war völlig durchnässt. In der Wohnung brach mir der Schweiß aus, mein Herz schlug heftig, ich atmete stoßweise. Nachdem ich mich beruhigt hatte, nahm ich eine Rinnsaldusche, begleitet von hef­tigem Donnern und Blitzen draußen. Die Fensterläden schloss ich immer, bevor ich die Woh­nung verließ, deshalb hatte der Wind, hatte der Wolken­bruch nichts an­richten können. In der Wohnung entstand ein Gefühl der Heime­ligkeit und des Geschützt­seins, und die schummrige Beleuchtung, die trotz des Unwetters durchhielt, verstärkte es sogar. Einige Rilke-Gedichte, dennoch schlechter Schlaf.

Ich schreckte auf. Der unsanfte Wecker! Der Tag des Abschieds war gekommen, ich musste nach Hause zurück. Nach einer Katzenwäsche verstaute ich die letzten Dinge im Trolley, ließ ihn in der Wohnung, um ein Abschiedsfrühstück am Campo Junghans einzunehmen. Der be­hinderte Mann hinter dem Tresen und einige Männer parlierten lautstark vor dem großformatigen Fernseher, in dem ein Fußballspiel lief, und das am frühen Morgen, offenbar eine Auf­zeich­nung. Zwischendurch sangen die Männer, wahrscheinlich so etwas wie Schlachtgesänge oder Vereinshymnen. Ich mochte diese morgendliche Ruhe am Campo Junghans, die von den Fans drinnen kaum gestört wurde, in die sich die paar leisen Jogger, die Leute mit Hunden harmo­nisch einfügten. Die Reflexionen des Wassers eines schmalen Kanals bildeten sich auf der Unterseite einer nahen Brücke ab, tanzende helle Flecken auf Stein. Ein Mann fegte die Brü­cke und die Stiegen sauber, ging dann in die umliegenden Gassen und fegte weiter. Draußen auf der La­gune hörte ich Motoren­geräusche, von den ersten Fähren, von Fischerbooten auf morgendli­chem Fang.

Die Beschau­lichkeit des frühen Morgens wich mehr und mehr Geschäftigkeit, Leute gingen zur Arbeit, Touristen kamen und gingen mit rollenden Trolleys. Jogger mischten sich darunter, immer wieder Menschen mit ihren Hunden. Aus dem Lokal drangen nach wie vor der über­laute Kommentar des Reporters und die Stimmen jener Männer, die dem Fußball­spiel folgten und diskutierten und sangen. Ich ging vor zum südlichen Rand der Insel und schaute auf die Lagune, vor mir eine im Dunst liegende kleinere Insel. „Wo liegt Punta Sab­bioni?“, fragte ich mich und war mir der Richtung einigermaßen sicher. Von dort hatte mein erster Besuch Venedigs seinen Ausgang genommen, da mochte ich vielleicht zehn, elf Jahre alt gewesen sein. Wir standen damals auf der Fähre und sa­hen bald den Campanile als markantes Wahrzeichen, zunächst schemenhaft, dann größer und größer und klarer werdend.
Das damalige Bild hatte ich noch vor mir: Venedig, das ich bis dahin nur von Bildbän­den, Fotos und Gemäldereproduktionen gekannt hatte, lag zunächst in der Ferne, der Cam­panile dann deutlich erkennbar, je mehr wir uns näherten, schließlich kamen der Dogenpalast, die Markuskirche, Santa Maria della Salute ins Blickfeld. Und dann war ich das erste Mal in Venedig, und alles an und in dieser Stadt war und ist im­mer wieder wunderbar und zum Staunen und über­wälti­gend. Eine Stadt der Sehnsucht nach ihr.

Es wurde Zeit aufzubrechen. Ich ging zurück zu den Fondamenta, holte mein Gepäck aus dem Museum der Brentanos, gab die Schlüssel in der Bar zurück und fuhr mit dem Vaporetto zum Parkhaus. Ich wandte mich Giudecca zu und hatte das ganze Panorama vor mir. Es lag zum Abschied malerisch im hellen Sommerlicht. Keine Spur mehr vom gestrigen Unwetter.

Unversehrt stand mein Auto auf seinem Platz. Kein Kratzer, nichts, sogar die Tauben hatten sich zurückgehalten. Das Bezahlen am Automaten, das Verstauen des Gepäcks, das Einsteigen, das Starten und schließlich die Ausfahrt und das Ent­fernen von Venedig auf der Straße nach Mestre war stetig begleitet vom Bedauern, dieser so nahen und doch so exotischen, dieser vertrauten und doch fremden Stadt und dem Museum der Brentanos den Rücken kehren zu müssen.

Günther Androsch
Auszug aus der Erzählung: Das Museum der Brentanos, Verlag Bucher, Hohenems, 2020

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 20105

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert