Er stand am Bug des Schiffes und hielt sich mit einer Hand am Tau der Takelage fest. Der Wind peitschte ihm erbarmungslos die Gischt ins Gesicht, seine dunklen Locken klebten auf der Haut. Seinen Kopf gegen den Himmel gerichtet, flehte er die Götter an, die Meeresbewohner zu beruhigen.
Die Ruderer an Bord kamen schwer voran, manche riefen ihm zu:
„Orpheus, hilf uns doch! Musiziere und beruhige die Götter!“ Mit Mühe kletterte er auf den rutschigen Dielen zu seiner Lyra und begann zu musizieren. Im Rhythmus gab er den Seemännern den Takt vor, besänftigte das wütend gewordene Meer und endlich konnten sie bei ruhiger See durch die Ägäis segeln.
„Das war knapp“, meinte ein Ruderer später und klopfte Orpheus freundschaftlich auf die Schulter. Die Sonne erhellte wieder das Firmament und trocknete die Kleidung der Seefahrer, die bis auf die Haut nass geworden waren. Zum Dank spielte er weiter auf seiner Lyra und bald erreichten sie die Insel Lesbos.
Reges Treiben herrschte im Hafen und nach einem kurzen Marsch kamen sie in eine kleine Stadt. Sie wollten sich stärken nach der anstrengenden Fahrt, und entlang der Stadtmauer wurden die ersten Waren feilgeboten.
Orpheus fiel eine bedrückte Stimmung auf, ganz anders als auf den anderen Inseln, die sie bisher erreicht hatten. Die Landwirte mit ihren Eselskarren, Töpfer und Schmiede, die Frauen an den Ständen, in kümmerliche Kleider gehüllt, hatten alle einen abweisenden Gesichtsausdruck. Oder war es gar Trauer, die Orpheus in ihren Augen sah?
„Was ist den Menschen hier widerfahren?“, wandte er sich fragend an einen Mannschaftskollegen.
„Lesbos ist bekannt dafür, dass die Menschen hier sehr arm und unglücklich sind. Es fehlt ihnen an den schönen Dingen des Lebens. An Musik, Kunst, Vergnügen.“
Sie saßen an einem kleinen, wackeligen Holztisch, verspeisten Oliven und Schafskäse und tranken jeder einen Becher Wein. Die gedämpften Stimmen der Händler im Hintergrund boten Waren feil und wurden nur wenig von den Vorbeimarschierenden beachtet, die alle mit gesenkten Köpfen ihren Blick auf die staubige Straße richteten.
„Meiner Frau Eurydike, die Götter mögen sie selig ins Reich aufgenommen haben, versprach ich am Sterbebett, meine Musik weiterzuführen und Gutes zu tun. Meint ihr, ich könnte hier auf der Insel mit meiner Lyra die Leute wieder fröhlicher stimmen?“
Die Seeleute erhoben ihre Weinbecher und prosteten ihm zu:
„Ja, Orpheus! Wunderbar!“ Ein junger Matrose sprang auf eine kleine Steinmauer und rief den Menschen zu:
„So kommt und hört! Orpheus ist auf eurer Insel und wird euch mit seinem Gesang den Tag erhellen und erträglicher machen. Kommt herbei!“ Euphorisch die Hände schwingend, bedeutete er den Bewohnern, näherzutreten. Orpheus nahm seine neunsaitige Harfe und begann zu musizieren.
Bald drängten Männer, Frauen und Kinder mitsamt Eseln und Ochsen um den kleinen Platz und lauschten seiner Stimme. Manche hatten Tränen in den Augen, andere tanzten zur Musik, wieder andere nahmen ihre Mitbürger bei der Hand oder fielen einander in die Arme. Den ganzen Nachmittag erfreuten sich die Bewohner der Stadt an der Darbietung von Orpheus.
Auch nächsten Tag und übernächsten Tag konnten es die Menschen kaum erwarten, ihn zu hören. Er hatte große Freude daran, die Einwohner glücklich zu sehen, und in Gedanken war er bei seiner verstorbenen Frau Eurydike.
Die Bewohner sprachen mit leiser Stimme:
„Mit seinem Gesang und der Dichtkunst kann er Götter betören, auch Menschen und sogar Tiere, Pflanzen und Steine. Bäume neigen ihm sich zu, wenn er spielt, und die wilden Tiere scharen sich friedlich um ihn.“
Nach einer Woche stand Orpheus im Hafen und verabschiedete sich von seinen Seefahrern.
„Dies war meine letzte Fahrt. Ich werde hier bleiben, es ist wohl meine Bestimmung.“
„Wir werden wiederkommen, Orpheus. Dann lass uns die Weinbecher erheben und uns deiner Gesangskunst lauschen.“ Die Mannschaft bestieg das große Schiff, nahm an den Rudern Platz und verließ den Hafen.
Bei seinem nächsten Auftritt bemerkte Orpheus unter den Zuhörern eine Frau, sie verweilte in der hintersten Reihe und beobachtete das Treiben. In einem ultramarinblauen seidenen Kleid mit aufgestickten fünfzackigen Sternen aus feinsten Goldfäden stand sie reglos in der Menge, mit versteinerter Miene. Ihr blondes langes Haar wehte im Wind und sie wirkte erhaben und elegant. Sie tanzte nicht, lachte nicht und sie sprach auch nicht mit den anderen. Manchmal blickte sie Orpheus tief in die Augen, als wolle sie ihn verführen. Entgegnete er mit einem Lächeln diesen Blick, wandte sie den Kopf ab und verschwand.
Jeden Tag kam sie auf den Vorplatz an der Stadtmauer, und während einer Mittagspause, als es unerträglich heiß wurde, drängte er sich durch die Menge auf die betörend schöne Frau zu. Mit einer leichten Verbeugung stellte er sich vor und fragte nach ihrem Namen.
„Ich heiße Europē“, entgegnete sie mit kräftiger Stimme.
„Nun, Europē, wie kommt es, dass du täglich meiner Darbietung lauschst, obwohl sie dir augenscheinlich nicht gefallen mag?“, fragte er gutmütig. Sie verzog ihren Mund zu einem abscheulichen Lächeln. Schlagartig war ihr Gesichtsausdruck nicht mehr feminin und zart, er glich eher einer Fratze. Mit spitzer Zunge und bebender Stimme antwortete sie:
„Ich bin lediglich hier um zu beobachten. Es interessiert mich nicht, wie du Menschen betörst und ihnen den Kopf verdrehst. Auf mich wirkt das nicht, es ist geheuchelt und ich harre der Dinge, die da kommen mögen!“, fauchte sie ihn an. Bei ihren Worten wich Orpheus jäh zurück und er konnte nicht fassen, was er gehört hatte.
„Aber ist es denn so schlimm, Gutes zu tun? Den Menschen wieder Zuversicht, Freude und Glück zukommen zu lassen? Viele Bewohner hier leiden Hunger und sind von Kriegsfahrten heimgekehrt, haben schreckliches Elend gesehen. Was ist verkehrt daran, ihnen mit ein wenig Gesang, Musik und Dichtkunst den Weg zu ebnen nach den reinen, feingeistigen Freuden und nach der Liebe?“
Lange Zeit starrte sie ihm in die Augen. Der Wind schien stillzustehen und es war, trotz der Mittagshitze, eine frostige Kälte zu spüren. Die Menschen, die vorher den Platz gesäumt hatten, hatten die Worte von Europē gehört und liefen eilig weg aus Angst.
„Liebe, Mitgefühl, Empathie kann man nicht erzwingen, du Narr!“, entgegnete sie giftig und verließ den Platz.
Manuela Murauer
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