Frau Elfriede Buchta, 79, lag im Krankenhaus. Es war abzusehen, dass es zu Ende ging. Ihr tapferes Herz würde wohl nicht mehr lange durchhalten, meinte der behandelnde Arzt nach der ersten Untersuchung, und zu seinem Erstaunen breitete sich auf ihrem Gesicht ein befreites Lächeln aus: „Gott sei Dank“, sagte sie, „jetzt muss ich mich nicht mehr vor jahrelangem Siechtum und totaler Hilflosigkeit fürchten. Ja, das ist gut so.“
In der ersten Woche hatte Frau Buchta das Glück, mit der Bettnachbarin, einer Altbäuerin aus dem Marchfeld, eine verständige und angenehme Gesprächspartnerin über den Spitalsalltag und später auch über „ernstere“ Belange gefunden zu haben. Und in stillen Stunden – vorwiegend nachts, denn in einem Spital durchzuschlafen ist kaum möglich – überdachte sie die Stationen ihres Lebens:
Die Kindheit im Wiener Gemeindebau Schlingerhof, wo sie mit Schulfreundinnen im Hof gespielt hatte, mit der Mutter jeden Samstag den Markt besucht und von der Frau Stipic oft ein Stück Obst bekommen hatte. In einem Tümpel des Überschwemmungsgebietes hatte sie Schwimmen und im Winter Eislaufen gelernt. Als Lehrmädchen hatte sie im nächtlichen Haustor den ersten Kuss von einem jungen Arbeitskollegen bekommen. Die süßen Irrungen und Abenteuer der Liebe zogen in der Erinnerung vorbei, Gott, war sie jung, naiv und selig gewesen. Und wie sie bei einem Ball ihren späteren Mann kennengelernt und bald nach der bescheidenen Hochzeit ihr Mädchen zur Welt gebracht hatte. Nun war dieses auch schon Großmutter eines kleinen Buben, drüben in Australien. Weit, weit weg, viel zu weit.
Nach ein paar Tagen wurde sie in ein kleines Einzelzimmer verlegt, intern das „Sterbezimmer“ genannt. Dort wurde sie von der jungen Schwester Mira aufmerksam umsorgt. Als Mira einmal anzusehen war, dass sie Kummer hatte, sagte Frau Buchta zu ihr: „Kommen Sie, erzählen Sie mir was Sie bedrückt, bei mir brauchen Sie wohl keine Angst mehr haben, dass ich es weitersage.“ Es war Mira eine große Erleichterung, ihre Sorgen und Unsicherheiten der erfahrenen Frau am Rand des Lebens mitzuteilen, manchen guten Rat und tröstliche Einsicht bekam sie da mit nach Hause. Auch der junge Stationsarzt Dr. Nemec besuchte sie täglich, mehr aus ärztlicher Neugier, weil der Organismus dieser Patientin eigentlich schon seit Tagen nicht mehr funktionieren konnte – aber eine unbewusste leise Unruhe hielt sie ganz einfach noch in dieser Welt fest.
Als sie einmal den Wunsch nach einem Schluck Wein äußerte, schmuggelte Schwester Mira ein Stifterl gekühlten Weißwein ins Zimmer, Frau Buchta trank ein Glas davon und drehte sich dann behaglich auf die Einschlaf-Seite. In dieser Nacht träumte sie von ihrem verstorbenen Mann, und wie sie später von der Caritas seine Sachen abholen ließ. Beim Aufwachen erinnerte sie sich, dass sie danach ihre goldene Halskette mit Amethysten, ein Geschenk von ihrem Karl zur Silberhochzeit, vermisste. Es musste sie wohl einer der Caritas-Arbeiter „mitgehen“ lassen haben, vermutlich der größere der beiden, Bogdan genannt, weil er die Kleidung aus dem Schlafzimmer getragen hatte. Sie hatte damals geweint, aber keine Anzeige gemacht. Den ganzen Tag und auch am nächsten kamen ihr diese Bilder in den Sinn, und was sie mit den Männern gesprochen hatte, dass sie ihnen einen Kaffee serviert und ein schönes Trinkgeld gegeben hatte. Hatte da dieser Bogdan nicht ein wenig verlegen gewirkt? Immer wieder musste sie daran denken, und dass sie trotz ihrer Anständigkeit bestohlen worden war.
Als Doktor Nemec zu Beginn der Nachtschicht beim Pulsmessen ungläubig lächelnd fragte, was sie denn noch am Leben hielte, kam die leise Antwort: „Wissen Sie, ich habe da noch eine Rechnung offen, dann erst kann ich die Augen zumachen.“ Da schüttelte der junge Arzt den Kopf: „Liebe Frau Buchta, was wollen, ja was können Sie in Ihrer Lage denn noch unternehmen?“ Da atmete sie tief ein und sagte: „WissenS’, vielleicht kommt doch der Berg zum Propheten. Es gehören ja immer zwei dazu.“ Der Doktor ging kopfschüttelnd.
Gegen 21 Uhr gab es beim Spitalseingang Streit, denn ein Besucher beharrte darauf, jetzt noch einen Besuch zu machen. Der Nachtportier rief den diensthabenden Arzt, weil der Mann beteuerte, es wäre sehr dringend und er würde danach auch gleich wieder gehen. Als Doktor Nemec um den Namen des Patienten fragte, stammelte der Gastarbeiter den Namen „Frau Ruchter“ oder „Buchter.“ Sinnend blickte der Arzt in die Höhe: „Vielleicht kommt doch der Berg zum Propheten“, hatte Frau Buchta gesagt. Er beruhigte den Portier und nahm den Mann mit ins Krankenzimmer.
Frau Buchta war hellwach, als hätte sie den Besuch erwartet. Der Mann stürzte zum Bett, fiel in die Knie und reichte ihr ein Stoffsackerl, dabei unter Tränen beteuernd: „Bitte, Frau, bitte nicht böse sein, hab ich damals kein Geld, nix gehabt, wollte auch einmal Geld in Tasche haben und lustig sein, nicht nur arbeiten und schlafen. Hab ich das nicht mehr gefunden in Zimmer, bin wieder nach Zagreb heimgefahren. Erst heute habe ich alten Rock mit Loch in Tasche wieder angezogen und ist Kette rausgefallen. Nachbarin hat gesagt, Sie im Spital. Bitte nicht mehr böse sein, tut mir leid, hat mir das kein Glück gebracht. Bitte wieder nehmen und alles wieder in Ordnung, ja?“ Frau Buchta nahm ihre goldene Halskette mit den lila Steinen heraus und hielt sie in die Höhe: „Ja, Bogdan, jetzt ist alles in Ordnung, du hast mir das zurückgebracht. Wenn man etwas gutmacht, hat man wieder Glück im Leben, ich trage dir nichts nach. Lass es gut sein und fahr nach Hause.“ Sie legte die Kette aufs Nachtkasterl und strich ihm tröstend mit der Hand über den Kopf wie einem Kleinkind. Der Mann stand auf, verbeugte sich mit nassen Augen noch einmal und ging.
Als Doktor Nemec, der diese Szene im Türrahmen staunend beobachtet hatte, wieder gehen wollte, bat ihn Frau Buchta, noch kurz dazubleiben und Schwester Mira zu rufen. Als diese eintrat, winkte die Patientin sie ans Bett und legte ihr die Kette in die Hand: „Liebe Mira, du hast mich so liebevoll gepflegt, bitte behalt das als Dank und Andenken an mich.“ Die junge Schwester wollte verlegen ablehnen, das hätte sie nicht verdient und könne sie nicht annehmen, aber Frau Buchta erwiderte: „Dort wo ich jetzt hingehe, brauche ich sie nicht mehr, und wem sonst sollte ich sie geben? Nimm sie nur und freue dich daran. Der Herr Doktor hat ja gesehen, dass ich sie dir geschenkt habe.“ Verlegen errötend bedankte sich Mira und verließ mit dem Arzt das Zimmer.
Als sie um Mitternacht noch einmal zu Frau Buchta ins Zimmer kam, atmete diese nicht mehr. Aber auf ihrem Gesicht lag ein friedliches Lächeln.
Epilog:
Das echt Mystische an dieser Geschichte ist aber, dass der Autor am Ende in Wikipedia nachsah, ob man Amethyst wirklich mit „th“ schreibt, und dort las, dass diesem Stein eine (apotropäische) Negativwirkung auf den Dieb nachgesagt wird.
Robert Müller
www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 20115