Petra stand alleine am Gleis, keine Seele war in ihrer Nähe.
Sie wollte den letzten Zug des Jahres nehmen, egal zu welchem Fahrtziel.
Einfach weg, irgendwohin und ein neues Jahr beginnen.
Sie kam um 23 Uhr zum Bahnhof, um sich die Abfahrten anzuschauen und ein Ticket zu kaufen.
Die letzte Fahrt war ein Nachtzug nach Wien mit Busverbindung nach Sofia, abenteuerlich. Sie sprach kein Wort Bulgarisch, kannte niemand dort und hatte keine Unterkunft gebucht. Sie hätte das Ticket nach Sofia eventuell in Wien weiter verkaufen können. Sie spürte jetzt einen tiefen Schmerz im Magen und hatte plötzlich Angst vor dieser Reise ins Unbekannte.
Das Display zeigte 250 Euro, sie steckte ihre Karte leicht zitternd und drückte die Zahlen ihres Geheimcodes auf der Tastatur. Sie hatte für einen Augenblick gehofft, den Code vergessen zu haben und dreimal falsch zu tippen, damit die Karte nicht mehr funktionierte. Es war ihr schon mal passiert, aber heute war es nicht der Fall. Es war, als ob ihr Körper unabhängig von ihrem Geist handelte, als ob er besser Bescheid wüsste.
Ein Sitzplatz, was sonst zu dem Preis. Wann hatte sie das letzte Mal einen Nachtzug genommen? Sie studierte noch, sie fuhr nach Paris mit ihrem ehemaligen Freund. Sie hatten sich vor kurzem kennengelernt und waren so verknallt ineinander, dass sie sofort ein romantisches Wochenende zusammen verbringen wollten. Sie konnten sich keine längere Reise leisten mit ihren Studentenjobs als Kellnerin und Pizza-Kurier. Sie hatten in einer lauten und schmutzigen Jugendherberge beim Bahnhof übernachtet, aber die Stimmung war so toll, dass ihr alles wunderbar vorgekommen war.
“Der ICE 3457 nach Wien mit Busverbindung nach Sofia fährt ab, bitte steigen Sie ein.”
Der Lautsprecher weckte Petra aus ihrer verträumten Reise in die Vergangenheit. Sie stieg schnell in den ersten Wagen ein, als ob ihr eine Hand von hinten einen kleinen Schub gäbe. Sie blieb einen Augenblick neben der Tür stehen und studierte ihre Fahrkarte: Wagen 7, Sitzplatz 89 Fenster.
Na, zumindest konnte sie nach außen gucken, selbst wenn die ganze Reise in der Dunkelheit stattfand, gab das ihr zumindest das Gefühl, einen Ausweg zu haben. Immer wieder wurde sie von der Angst verfolgt, gefangen zu sein, irgendwo stecken zu bleiben. Sogar jetzt, nachdem sie sich mutig (oder verzweifelt?) entschieden hatte, einfach ab ins Neue! Sie seufzte, um tiefer einzuatmen. Sie und ihre Angst, wie Bahngleise, die in derselben Richtung fahren, ohne sich zu begegnen.
Plötzlich spürte sie etwas Flauschiges unter ihrer linken Handfläche: eine schwarze Katze! Sie drehte ihren Kopf auf Petras Hand, weil sie gestreichelt werden wollte. Petra vergaß auf einmal ihre Grübelei, berührte das weiche Fell und ihre Glieder entspannten sich langsam. Wie es möglich war, dass eine Katze im Zug frei lief, wollte sie gerade nicht nachforschen. Es war so gemütlich, die schnurrende Katze zu streicheln, und das Tier schien Petra gern zu haben. Sie machte es sich auf Petras Schoß bequem, während ihre Lider, wie samtene Vorhänge, langsam ihre zimtfarbigen Augen in Trägheit hüllten. Petra, bezaubert von diesen unerwarteten und angenehmen Gefühlen, sank selbst in eine kuschelige Schlafwolke.
“Ihre Fahrkarte bitte.” Eine tiefe Männerstimme weckte Petra aus dem Dösen. Der Schaffner war noch nicht bei ihrem Sitzplatz angekommen, er war noch eine Reihe weit weg. Die schwarze Katze war nicht mehr auf ihrem Schoß. Hatte sie davon geträumt? Sie suchte über und unter ihrem Sitzplatz, aber es gab keine Spur des bezaubernden Tieres. Es war sehr wahrscheinlich eine Begegnung im Halbschlaf. Schade, die Katze war so kuschelig, dass Petra gerne noch eine Weile mit ihr verbracht hätte.
“Dankeschön”, ein offenes Lächeln wendete sich an Petra. Sie beobachteten sich einen Augenblick überrascht. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, aber sie konnte nicht erkennen, was genau so vertraut war. Der Schaffner ging zum nächsten Passagier, und Petra versuchte seine Gesichtszüge zu rekonstruieren.
Georg? Konnte er wirklich Georg sein? Rasiert und mit sehr kurzem Haar? Sie spürte ihr Herz sich gegen ihren Brustkorb stürzen, wie ein Spielball gegen das Fußballtor. Sie wollte aufstehen und zum Schaffner gehen, um nachzufragen, ob er tatsächlich Georg war. Ihre Beine waren so schwer wie zwei Marmorsäulen. Sie versank auf dem Sitzplatz und versuchte tiefer zu atmen, um wieder in der Gegenwart zu landen.
Die Lichter wurden im Wagen ausgeschaltet, sie saß in der Dunkelheit und guckte aus dem Fenster. Ihr wurde bange. Sie stand auf und suchte eine Toilette. Beim Gehen hatte sie das Gefühl, die Angst besser kontrollieren zu können. Sie und ihre Angst waren wie Bahngleise: Petra versuchte dem Gefühl zu entgehen, aber es begleitete sie, es fuhr immer an ihrer Seite.
Ein Schaffner lief an ihr vorbei.
“Georg?” Die Stimme kam wie ein leises Quietschen aus ihrem Mund, aber konnte in der Stille des Zuges wahrgenommen werden.
Ihre Blicke begegneten sich einen langen Augenblick im Flur.
“Petra!” sagte der Schaffner und lächelte.“
Ich war mir nicht sicher bei der Fahrkartenkontrolle, du hast dich so verändert.”
“Tja. Wir haben uns allerdings seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen! Ich hätte dich gar nicht erkannt, wenn du mich nicht angesprochen hättest. Du hattest lange Rastalocken, nun läufst du herum mit einem Long Bob mit Pony und trägst eine Brille.”
Georg beobachtete ihr Gesicht und lächelte wieder.
“Gefällt es dir nicht?”
“Doch! Du siehst super aus, einfach ganz anders als früher.”
“Ich bin eine andere Person geworden, ich bin nicht mehr die Petra, die du kanntest.”
“Freust du dich darüber?”
“Ich weiß es nicht. Die Veränderung war nicht von mir gewollt oder vielleicht doch schon. Ich habe mich verändern lassen, weil ich selbst nicht die Kraft dazu hatte.”
“Das stimmt aber nicht! Du warst so tapfer und einfallsreich, da hattest du schon die Fähigkeit dazu. Du Petra, wollen wir uns nicht im Wagenrestaurant hinsetzen und dort in Ruhe plaudern? Zu dieser Zeit ist niemand da und wir können unsere Ruhe haben. Es ist komisch hier im Flur über unsere Leben zu sprechen.”
Petra spürte Wärme in ihren Gliedern, Angst und Dunkelheit waren weg. Es war wirklich ein Glücksfall, Georg begegnet zu sein.
“Ja gerne, setzen wir uns ins Restaurant.”
Eine kleine Tischlampe beleuchtete ihre Gesichtszüge und ihre Hände in der Nacht.
“Was hast du denn in den letzten zehn Jahren gemacht, Georg?”
“Ich hatte mein Studium abgebrochen, ich war einfach nicht mehr motiviert. Ich war zwei Jahre rund um die Welt mit dem Fahrrad unterwegs. Es war eine tolle Zeit! Mein Vater wurde leider krank und ich wollte ihm zur Seite stehen und so kam ich zurück. Er konnte noch drei Jahre leben, aber es wurde für ihn immer anstrengender und so habe ich mir am Ende gewünscht, dass er endlich Ruhe findet. Sein Tod war ein herber Schlag. Plötzlich spürte ich die Leere um mich und wollte einfach pausenlos beschäftigt sein. Ich begann als Schaffner in Nachtzügen zu arbeiten, so konnte ich noch ein bisschen reisen und das Gefühl haben, dynamisch zu sein. Tagsüber schlief ich einige Stunden und spät am Nachmittag besichtigte ich einfach etwas von der Stadt, wo ich war. Es fahren einige Nachtzüge ab Berlin und so ist mein Berufsleben abwechslungsreich.”
“Was ist mit deinem Privatleben?”
“Ich hatte mich von Anna getrennt, als ich mein Studium abbrach. Ich hatte keine Lust mehr, an der Uni zu sein, und war sehr stur in meinem Vorhaben. Sie hatte sich so vehement durchgesetzt, damit ich die letzten Prüfungen machte, dass wir uns am Ende nicht mehr ausstehen konnten. Wir waren beide sehr hartnäckig und unsere Beziehung war immer sehr stürmisch gewesen. Sie doziert jetzt an der Uni, das Studium hatte für sie eine ganz andere Bedeutung als für mich. Ich war dann zwei Jahre rund um die Welt unterwegs und hatte keine Lust auf eine feste Beziehung. Anna und das Studium waren schon eine starke Bindung für einige Jahre und ich wollte mich einfach mal endlich wieder frei fühlen. Mein Vater wurde dann krank und ich war damit emotional überfordert, so dass es keinen Platz für eine neue Person in meinem Leben gab, und bis heute habe ich noch nicht das Bedürfnis gehabt, eine Lebenspartnerin zu finden. Was ist denn mit dir und … ich weiß seinen Namen nicht mehr, geworden?”
“Uwe hieß er. Du konntest ihn nicht ausstehen und hast seinen Namen einfach aus deinem Gedächtnis gelöscht. Zum Glück sind wir nicht mehr zusammen, es hat aber zu lange gedauert und die Beziehung hat mich kaputt gemacht. Am Anfang schien er so verliebt in mich, er war für alles bereit und hat mich immer wieder mit tollen Erfindungen überrascht. Als wir als Paar eine Routine hatten, hatte er immer mehr meine Freiheit mit seiner Persönlichkeit überschwemmt.”
Petra hörte zu reden auf, als ob sie keine Kraft mehr dazu hätte. Ihr wurde plötzlich bange und sie hatte das Gefühl, von ihrer Angst verfolgt zu werden. Aber je schneller sie davonlief, desto bedrohlicher wurde das Gefühl. Sie und ihre Angst rasten in die gleiche Richtung.
Georg berührte sanft ihre kalte Hand und sagte: “Es ist vorbei, du hast wieder deine Persönlichkeit zurück und vor allem du bist frei! Außerdem haben wir uns jetzt wiedergefunden und du hast einen alten Freund wieder auf deiner Seite. Du bist nicht alleine.”
“Wärst du mir damals zur Seite gestanden, hätte mir das geholfen”, antwortete Petra bitter. Sie spürte auf einmal Wut. Ihr Körper wurde schnell wieder warm, unter ihrer Haut brannte ein südländischer August.
“Petra, es war nicht möglich, die Freundschaft mit dir zu pflegen. Uwe war stinkeifersüchtig auf mich und du wolltest ihn nicht enttäuschen. Es ist jetzt kein Urteil, ich war selbst mit Anna in einer ähnlichen Situation und das habe ich erst im Nachhinein verstanden. Sie war nicht auf andere Frauen eifersüchtig, aber sie war sehr karriereorientiert an der Uni und ihr gegenüber hatte ich intellektuell ein Minderwertigkeitsgefühl, das mich an sie band. Ich war genauso gefesselt wie du, einfach in einem anderen Bereich, und es braucht eine Weile, um es loszulassen. Lass dir Zeit und verurteile Uwe, aber vor allem dich selbst nicht.”
Petra spürte eine kühle Brise im brennenden August und zum ersten Mal nach langer Zeit war nicht mehr die Angst, sondern eine Person an ihrer Seite, die in der gleichen Richtung wie sie ging, ohne ihren Weg zu durchkreuzen.
Sie lächelte Georg an.
Petra stand an der Bushaltestelle in Wien und wartete auf ihre Verbindung nach Sofia.
Eine schwarze Katze schnurrte an ihrer Seite und wurde immer wieder von Petra gestreichelt. Die großen zimtfarbigen Augen des Tieres schimmerten in der Morgendämmerung.
Petra hielt ein Billet in ihrer Tasche, das sie immer wieder – lächelnd – las.
Liebe Petra,
hier meine Telefonnummer. Unsere Lebenswege haben sich wieder gekreuzt, jetzt sind wir wie zwei Züge, die gleich schnell fahren. Unsere Reise zusammen ist neu gestartet, lass uns die Welt erkunden.
Auf bald!
Georg
Die Zikaden zirpten unter Petras Haut und tauten das Eis vom ersten Januar ab.
Annamaria Bortoletto
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