Jakob musste zur Bibliothek an der Uni. Er brauchte das Werk „L’ordre du discours“ von Foucault, um ein Einführungsseminar zur Semiotik für die Studierenden des ersten Jahres vorzubereiten.
Jakob liebte seine Stelle als Assistent der Professorin Dubois und träumte immer wieder von dem Tag, an dem er als Professor seine erste Lektion halten würde. Die Universität war seine Welt, er konnte sich keine andere vorstellen. Er lebte in einer Einzimmerwohnung neben der Bibliothek, wo er praktisch nur schlief. Er verbrachte sonst den ganzen Tag an der Uni: Er frühstückte immer um 07:30 mit Madame Dubois in der Cafeteria, aß mit Thomas und Britta, die ebenfalls als Assistenten arbeiteten, in der Mensa zu Mittag und Abends nahm er eine Kleinigkeit allein an der Studentenbar in der Eingangshalle zu sich.
Dort begegnete er dem einen oder anderen Studierenden, die sich gerne mit ihm unterhielten. Er war sehr beliebt mit seiner zurückhaltenden und humorvollen Art, und seine Seminare waren immer spannend, da ihm die Liebe für die Wissenschaft anzusehen war.
Jakob war selbstsicher, ohne überheblich zu sein, sein Humor bewahrte ihn vor jeglicher Hochmütigkeit.
Es war ein verregneter Tag, die Regentropfen klopften an die großen Fenster der Lesesäle, wie unzählige winzige Finger, die die Schwelle zu einer neuen Welt öffnen wollten. Jakob bewegte sich wie ein Kater zwischen den Regalen, er schmiegte sich an die Werke, roch die Blätter und konnte fast aufgrund der Art des Papiers das Alter des Buches erraten.
„L’ordre du discours“ war noch weit weg, Jakob irrte zwischen den Romanen umher und plötzlich wurde er von einer eleganten Frau gelockt. Die Haut war hell und leuchtete, in ihrem Gesicht glühten dunkle und asymmetrische Augen, während die Ohrringe einen geschmeidigen Hals betonten.
Jakob streichelte das Gesicht, das auf dem Buchdeckel des Werkes „Die Glut“ von Sándor Márai die Leser lockte. Es war eine neue Ausgabe, das Papier des Buchdeckels war glatt wie Seide. Jakob öffnete langsam und vorsichtig das Buch, er wollte es nicht zu weit aufklappen. Er steckte die Nase in die Mitte und roch einen zeitlosen Duft. Die Seiten waren Flügel eines Kolibris, er berührte sie entzückt.
Ein leises, fast unhörbares Geräusch von Papier, das auf den Boden fällt. Jakob schaute nach unten uns sah einen roten Zettel. Er sah wie ein Blutstropfen auf einer Leinwand aus. Ein Tropfen, der immer größer und flüssiger werden konnte. Jakob war von seinen Assoziationen überrascht und spürte gleichzeitig Anziehung und Furcht vor diesem Zettel. Er barg vorsichtig das rote Stück Papier. Er hatte das Gefühl, eine Blume mit einer Wespe in den Händen zu halten.
Jakob öffnete es und las: „Und wären wir keine Freunde gewesen, wäre ich nicht anderntags in deine Wohnung gegangen, in die du mich nie eingeladen hattest, wo du das Geheimnis wahrtest, das Böse, unverständliche Geheimnis, das unsere Freundschaft vergiftete.“
Jakob hörte fast die tiefe und vorwurfsvolle männliche Stimme, die diese Worte aussprach. Er sah sich plötzlich in einem großen mit Kerzen beleuchteten Saal, auf einem Sessel vor einem Kamin, in dem ein unruhiges Feuer brannte.
Ganz unten auf dem Zettel war eine Adresse aufgeschrieben: Sackgasse 5, 8008 Zürich.
Jakob schmunzelte und mochte den Geistesblitz sehr. Dann wurde er plötzlich neugierig und wollte nachforschen, ob eine Sackgasse in Zürich tatsächlich existierte.
Er nahm sein Smartphone aus der Tasche und ging online: Ja, eine Sackgasse mit Hausnummern war tatsächlich auf der Karte angegeben!
Er wollte unbedingt hin, ein unerwarteter Drang katapultierte ihn zuerst aus der Bibliothek und dann aus dem Uni-Gebäude. Er stand mitten im Regen und hatte den Regenschirm im Schließfach der Bibliothek vergessen, aber er hatte deutlich das Gefühl, dass er keine Sekunde verschwenden durfte, und stieg flugs in die erste Tram, die vorbeifuhr.
Die Sackgasse war eine Querstraße der Seestraße, ein Zufluss. An dem verregneten Tag fühlte sich Jakob wie ein Papierschiffchen auf einem dunklen und tiefen Wasserspiegel.
Sackgasse 1, Sackgasse 2, Sackgasse 3, Sackgasse 4, und wo war denn die Hausnummer 5? Er schaute sich um, sah die Sackgasse 6, 7, 8 und so fort, aber die Nummer 5 schien im Wasser versunken zu sein. Die Kapuze seiner Jacke war inzwischen durchnässt und seine Geduld fing an zu wackeln. Er musste aber durchhalten, er durfte nicht mehr zurück.
Plötzlich eine Stimme: „Was sucht der junge Herr?“ Jakob sah ein runzeliges Gesicht vor sich, das graumelierte Haar leuchtete fast unter dem roten Regenschirm.
„Wo ist denn die Hausnummer 5?“, fragte Jakob.
„Bei mir zuhause“, schmunzelten die schrumpeligen Lippen.
„Ach so!“, sagte Jakob sprachlos, ohne zu wissen, wie er das Gespräch fortsetzen konnte, und vor allem wusste er jetzt nicht mehr, ob ihn die Sackgasse 5 noch interessierte.
„Haben Sie meine Adresse von Herrn Lehmann bekommen?“, fragte die Stimme.
„Nein, nein, es ist eine lange Geschichte. Ich wusste nicht, dass es in Zürich eine Sackgasse gibt, und ich habe mit einem Freund gewettet, die Nummer 5 zu finden, einfach so“, antwortete Jakob verlegen.
„Einfach so, interessant“, kommentierten die schrumpeligen Lippen.
Jakob zitterte jetzt, er war durchnässt und ihm war kalt. Außerdem fand er diese Begegnung beunruhigend und fühlte sich gefesselt, als ob er jetzt nicht mehr zurück dürfte.
„Kommen Sie doch zu mir auf einer Tasse Tee, Ihnen ist kalt und Sie haben keinen Regenschirm. Bleiben wir nicht länger da.“
„Ich muss zurück zur Uni, ich muss mich für einen Vortrag vorbereiten.“ Jakob versuchte seinen Weg zurückzufinden, als er einen festen Griff am Oberarm spürte.
„Sie kommen jetzt zu mir, ich habe Sie eingeladen, das mache ich nicht mit allen fremden Leuten, das soll eine Ehre für Sie sein!“ Die Stimme war leiser geworden, aber sehr bedrohlich. Zwei kleine dunkle Augen fesselten Jakobs Blick, nun hatte er keine Kraft mehr sich zu wehren.
Die Sackgasse Nummer 5 war hinter einem Wohngebäude versteckt, es sah wie ein heruntergekommenes Häuschen aus, aber die inneren Räume waren sehr gepflegt.
Jakob wurde aufgefordert, am Couchtisch im Wohnzimmer zu sitzen. An den Wänden waren ausschließlich Porträts aufgehängt, sie waren in verschiedenen Größen und in verschiedenen Stilen gemalt oder einfach nur schwarzweiß gezeichnet worden.
„Sind es Freunde von Ihnen, die Bilder an den Wänden?“, fragte Jakob.
„Tja, sie waren Freunde von mir“, seufzte die Stimme.
Jakob wurde bange und spürte die Wände des Zimmers dicht an seine Haut drängen. Er suchte eine Tür, aber im Wohnzimmer gab es keine Fenster und die einzige Tür führte in die Küche, wo das graumelierte Haar zu sehen war. Es leuchtete wie ein Gespenst in der Dunkelheit.
„Ihr Tee, junger Mann“, die Stimme war jetzt warm und beruhigend.
Das Getränk hatte einen seltsamen Geruch und Jakob trank es nicht.
„Schmeckt es Ihnen nicht? Es ist Pfefferminztee!“, sagte der Mann, als ob er überrascht wäre.
„Es riecht nicht nach Pfefferminze, es riecht nach Chemie. Was haben Sie mit dem Tee gemischt?“ Jakob hatte jetzt keine Angst mehr, er spürte Wut in seinen Adern brodeln und es war ein Gefühl, an das er nicht gewohnt war.
„Sie dürfen nicht aus diesem Haus gehen, ohne den Tee getrunken zu haben“, die Stimme war jetzt scharf und zischend, die Hand griff nach einem Messer.
Jakob stand auf und sagte: „Ich habe keine Angst vor Ihnen und will auch nicht Teil ihrer Gemäldegalerie werden. Lassen Sie mich bitte gehen.“
Das runzelige Gesicht war nun einen Millimeter vom Jakobs Gesicht entfernt und die Klinge drückte an seinem Hals. Jakob spürte eine unbekannte Kraft in sich und trat entschieden gegen das Bein vor ihm. Die Stimme wurde ein Schrei, das Geheul eines verletzten Wolfes, während Jakob weiter und weiter nach dem Mann trat, bis die Kraft seinen Körper verließ.
Das runzelige Gesicht lag am Boden, mit weit aufgerissenen Augen, der Mund leicht offen und das graumelierte Haar auf den Fliesen ausgebreitet.
Es war ein sonderbares Porträt der Göttin Medusa, ein Bild, das Jakob immer wieder begleitete.
Annamaria Bortoletto
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