Hale-Bopp oder: Die Chance seines Lebens

Es war die Zeit, als ich mich in der Schule für Katharina interessierte. Ich war damals in der neunten Klasse, die Mädchen waren verrückt nach Boygroups wie den Backstreet Boys, die Tamagotchis eroberten die Pausenhöfe, die ersten Handys kamen auf den Markt (vom Smartphone konnte man noch nicht einmal träumen), man bezahlte noch mit Schilling und es bahnte sich mit dem Internet eine Revolution an, die wir zunächst skeptisch sahen. Vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, war damals noch nicht so. Wir schreiben, der geneigte Leser mag es schon geahnt haben, das Jahr 1997. Da sich Erinnerungen im Nachhinein immer stärker von der erlebten Wirklichkeit unterscheiden, möchte ich hier doch versuchen, zumindest das Gröbste der Wahrheit getreu zu erzählen und hin und wieder etwas zu erfinden, um die Geschichte ein wenig spannender zu machen.

  1. Die Aufbruchstimmung.

Wenn es eine Zeit gab, die einen gewissen Vorgeschmack auf die Zukunft geben sollte, dann diese. Ich fieberte dem neuen Jahrtausend entgegen und dachte noch, dass wir 2001 eine Odyssee im Weltall erleben und 2010 Kontakt aufnehmen würden. Von dem Kometen erhoffte ich mir einen Auftakt gewissermaßen für die Zukunft und irgendwann würden ja die Ufos landen. Aber warum war ich damals so darauf erpicht, in Kontakt mit Außerirdischen zu kommen? Na ja, das Leben schien mit fünfzehn sich doch allmählich in seinem Alltagstrott einzupendeln. Sah man von den ersten Discobesuchen und Tanzkursen ab. Und wie gesagt, dass Jahr 2000 war zum Greifen nahe, aber dennoch eine jahrzehntealte Utopie. Ich kann mich noch gut an die alten Fernsehdokus und Zeitschriftenbeiträge erinnern, die fliegende, atombetriebene Autos, schwimmende Städte oder ganze unterirdische Zivilisationen auf dem Mars voraussahen.

  1. Die Sache mit Katharina.

Wie bereits erwähnt, begann damals mein Interesse für Katharina. Wie es zunächst in diesem Alter ist, eher beiläufig, aber dann spürte ich, dass, jedes Mal wenn ich sie auf dem Pausenhof oder dem Gang vor unserer Schule sah, mir das Herz zu klopfen anfing. Ich heimlich meinen Blick von ihr abwendete und ich bei Gott nicht gewagt hätte, sie anzusprechen. Und wie ich es damals aushielt, eine unerwiderte Liebe, die sich damals zweifelsohne anbahnte, zu überstehen, weiß ich nicht mehr. Ich versuchte jedenfalls Wege, dies zu kompensieren. Aber ich wollte ihr auf jeden Fall nicht imponieren, so viel weiß ich im Nachhinein. Vielmehr suchte ich mir Gebiete, in denen sie keine Rolle spielte und versuchte auch des Öfteren, sie zu vergessen oder die Liebe zu ihr zu leugnen.

  1. Was sonst noch wichtig war.

In der Schule fingen wir an, in Geschichte die Neuzeit durchzunehmen. Also Antike und Mittelalter hatten wir schon durch, Renaissance und Barock auch und wir waren bei der Aufklärung und der Französischen Revolution angelangt. Dies war das Zeitalter der Vernunft, auf der unsere ganze heutige Welt aufbaut, so erklärten es uns jedenfalls die Lehrer. Es gab die ersten Diskussionen und ich begann mich zu politisieren. Das Erwachsensein hatte schüchtern begonnen hervorzukriechen. Im Englischunterricht entdeckten wir die Songs der Beatles und der Doors und die Vorfreude auf die erste Französischstunde im nächsten Jahr überdeckte doch die Langeweile, die sich über den alltäglichen Schulbetrieb legte wie eine Staubschicht.

  1. Was das Ganze miteinander zu tun hatte (I).

Wie gesagt, wir haben jetzt drei Handlungsstränge. Aber wie wird daraus eine Geschichte. Klar, Katharina und ich trafen uns in der Schule, in der wir begannen, erwachsen zu werden. Jedenfalls bemerkte ich, wie Katharina heimlich rauchte und sich damenhafter kleidete. Über die Zukunft und die Raumfahrt fiel in der Schule kein Wort. Und doch war es mein Leib- und Magenthema. Ich hätte – da bin ich mir sicher – in einem Schulfach „Raumfahrt und Astronomie“ eine glatte Eins bekommen. Aber für die Lehrer, wie auch für die meisten Mitschüler schien es, dass das Leben am bequemsten sei, wenn es auch in hundert Jahren noch vor sich hinplätscherte.

  1. Die Aufbruchstimmung (II).

Meinen Wissensdurst konnte ich damals natürlich nicht angemessen stillen. In die Universitätsbibliothek traute ich mich nicht. Das Internet hat mich abgeschreckt, in der ersten Stunde in der Schule, als ich vor dem PC saß und nichts fand. Und der Computer zweimal abgestürzt ist, ob der langen Ladezeit. „Internet? Nein, danke! So was mach ich nie wieder“, blaffte ich zum Lehrer. Und dann blieb da nur das Fernsehen. Da sah ich ein paar interessante Dokus, jedoch nicht bis zum Schluss, denn die Schule war damals wichtiger. Aber ich wusste es, wenn ich Hale-Bopp nicht beobachten könnte, war es das letzte Mal für eine sehr, sehr lange Zeit. Mein Plan, den Kometen zu beobachten, war geboren.

  1. Was sonst noch wichtig war (II).

Ein anderes Hobby von mir war Geschichte. Klar, wird ja der ein oder andere sagen, ist ja auch sehr spannend. Aber mich interessierte auch, ob irgendwelche dunklen Mächte im Spiel waren. Ob das Mittelalter wirklich so finster war, wie es uns die Lehrer weismachen wollten und der Philosoph Seneca, immerhin der Erzieher Kaiser Neros, wirklich so weise. Und solche Dokus liefen ja sogar auf den Öffentlich-Rechtlichen. „Universum“, „Schliemanns Erben“ und wie sie alle hießen. Schließlich war ja damals alles, was auf ORF lief, höchstwissenschaftlich legitimiert, dachte ich jedenfalls.

  1. Die Sache mit Katharina (II).

Natürlich merkte ich, dass mir Katharina auch in meiner Zukunftsbegeisterung immer ähnlicher wurde. So kam sie einmal ganz in Schwarz und auch mit einem schwarzen Lippenstift in die Schule. Da langsam die Spannung mit Hale-Bopp begann, dachte ich, es könnte am Kometen liegen, dass sie sich so verändert hat. Und ich merkte, dass sich Katharina als Einzige in der Klasse ebenfalls für den Kometen interessierte – aber aus einem ganz anderen Grund. Wie immer, ich war zu schüchtern, um mit ihr zu sprechen, und hätte wahrscheinlich ihr Gelächter kaum ausgehalten, wäre rot angelaufen, beim Versuch, ein paar Worte zu finden. Aber ich fand Katharina wenigstens rätselhaft und dies war ein Rätsel, das ich bis in seine letzten Einzelheiten ergründen wollte.

  1. Die Aufbruchstimmung (III).

In diesen Wochen entwickelte ich mich immer mehr zu dem, was man später einen Nerd nennen sollte, jedenfalls von meinen Interessen. Ich dachte, dass die Zukunft besser werden wird, und hoffte auf die Technik, auf Computer und Roboter. Und aus irgendeinem Grund dachte ich, dass der Komet Hale-Bopp ein Fanal sein würde. Jedenfalls begann ich damit, in den Nächten, statt zu schlafen, mit kleineren Ausflügen im Haus. Ich bewaffnete mich mit einer Taschenlampe und hoffte, niemanden zu wecken. Wenn mir das gelingen würde, würde es mir vielleicht leichter fallen, mich für mehrere Stunden zu einem Platz, möglicherweise zu einer Lichtung im Wald zu begeben, um den Kometen ungestört zu beobachten. Jedenfalls musste ich mit den Übungen anfangen, um mich Schritt für Schritt vorzutasten.

  1. Erste Schwierigkeiten.

Wie gesagt, wenn man in seinem Zeitplan sein wollte, musste man es rechtzeitig schaffen, um unbemerkt an einen geschützten Ort zu kommen, um in aller Ruhe den Kometen zu beobachten. Und es geschah, dass es doch leichter wurde, als gedacht, eine Lichtung in der Nähe meines Hauses zu finden, auf der ich Hale-Bopp beobachten könnte. Dazu kam ich mehrmals vom Schulweg ab und nahm eine Standpauke meiner Eltern in Kauf, die von mir eine Erklärung wollten, warum ich so spät nach Hause kam. Ich erzählte, ich hätte den Bus verpasst, und war in diesem Moment so glaubhaft, meiner Willensstärke sei Dank, dass es mir die Eltern abkauften und mich in Ruhe ließen. Aber trotzdem bekam ich von jetzt an ein mulmiges Gefühl. Was war, wenn ich jemanden im Schlaf aufweckte? Oder meine Eltern in mein Zimmer mit dem leeren Bett kamen und die Polizei riefen? Ich war auf nichts vorbereitet und doch drängte mich die Zeit, denn ich hatte nur noch wenige Monate, um in den Genuss des Kometen zu kommen.

  1. Was sonst noch wichtig war (III).

Der Schultrott ging seinen Gang. Auf dem Pausenhof erzählte ich von Hale-Bopp, doch die anderen schien es nicht zu interessieren. Natürlich hoffte ich, wenn ich in Anwesenheit der Freundinnen Katharinas darüber sprach, dass sie es ihr in irgendeiner Form weitererzählten, aber es war lediglich eine Hypothese von mir, dass sie sich ebenfalls für den Kometen interessieren könnte. Aber es gab keine Zwischenfälle. Weder positive noch negative. Und das war für mich in irgendeiner Form gut, in irgendeiner Form auch schlecht: Ich war weit und breit der Einzige, der sich für Astronomie interessierte, und hatte keinen Gesprächspartner, mit dem ich mich austauschen, Wissen teilen oder Irrtümer bereinigen konnte.

  1. Was mich eigentlich antrieb.

Der geneigte Leser könnte es schon erahnt haben: Natürlich ging es mir nicht darum, eine romantische Nacht zu verbringen. Gott bewahre, das war das Letzte, woran ich denken konnte. Vielmehr wuchs in mir die Hoffnung, Hale-Bopp könnte ein Codewort für den Erstkontakt sein. Die unheimliche Begegnung der dritten Art. Zu der nur wenige Zugang hätten. Alles schien möglich in diesen Tagen. Und ich musste vorbereitet sein. Natürlich wusste ich nicht das Geringste von Außerirdischen, und die Bilder aus Science-Fiction-Filmen kamen mir zu reißerisch und zu verlogen vor. Ich wusste lediglich, dass, wer die Einstein’sche Zeitdilatation überwinden könnte, unserer Zivilisation mindestens um einige Tausend Jahre voraus sein musste. Und solch große Zahlen bereiteten mir immer einen gewissen Schwindel, der mich letztendlich auch davon abhielt, weiter den Gedanken zu verfolgen, denn der Schwindel riss mich ins Bodenlose.

  1. Was das Mittelalter damit zu tun hatte.

Immer interessanter wurde mir der Gedanke, dass es einige Jahrhunderte des Mittelalters nicht gegeben haben könnte. Man spricht auch vom „Erfundenen Mittelalter“. Die Gelehrten der Renaissance waren darin recht erfinderisch. Das Mittelalter sollte als Antithese zur vernunftorientierten Neuzeit werden und die Erinnerung daran sollte den Menschen Angst machen. Ich aber glaubte seit einiger Zeit nicht mehr daran. Wer weiß denn schon, dass die Hexenverbrennung keine Erfindung des Mittelalters, sondern erst der Neuzeit war und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts beendet wurde? „Der Schlaf der Vernunft produziert Ungeheuer“ wusste schon einst Goya zu sagen und ich glaubte, da war auch ein Kern Wahrheit dran. Hat nicht jedes Aufklärerisch-Rationale seine dunklen Nachtseiten? Und ist die scheinbare Unvernunft nicht im Grunde logischer, als sie auf den ersten Blick erscheint? Bei meiner Beschäftigung mit dem Mittelalter waren mir besonders die Leistungen der Mystiker aufgefallen. Gab es nicht ein geheimes Wissen, an das ich auf diese Weise gelangen könnte? Aber ich wusste nur keinen Weg, und wie gesagt, wir schreiben das Jahr 1997, die Wikipedia gab es noch nicht und ich hattest sonst keine Quellen für mein Wissen.

  1. Der Tag rückt näher.

Ich hatte den 15. März  als den Tag auserkoren, an dem ich Hale-Bopp beobachten wollte. Es waren das die sogenannten „Iden des März“, der Tag, an dem Cäsar ermordet wurde. Solche Zahlen hatten für mich etwas Heiliges: Die ganze Weltgeschichte hat sich an einem Tag entschieden, wo sonst vielleicht hundert Jahre lang Stillstand geherrscht hätte. Vielleicht wäre unsere Welt heute eine andere, hätte es solche Tage nicht gegeben. Aber was würde ich an diesem Tag sonst noch tun? Würde ich etwas Bestimmtes tragen, vielleicht einen selbstgebastelten Raumanzug? Ich hatte noch wenige Ideen, aber wusste: In ein paar Wochen würde der Tag anbrechen.

  1. Was andernorts geschah.

Sie langweilte sich im Unterricht. Obwohl es ihr leicht in der Schule fiel, sie gute Noten hatte und wegen ihres sozialen Engagements von den Lehrern gelobt wurde – es schien irgendwie ein trüber Schatten auf ihrer Seele zu liegen. Schon als sie einmal an einem Wandertag kollabierte, wussten die anderen Mitschüler, dass sie verletzlich war, in einer sonst so perfekten Verpackung. Anfang des Jahres 1997 begann sie, sich für Goth Rock und die Gruftie-Kultur zu interessieren. Ihre latente Angst vor dem Tod, die Beklemmung, obwohl sie ansonsten ihr Leben im Griff hatte. Und das Leben als Goth schien ihr in irgendeiner Form einen Sinn, einen Aufschrei ihres seelischen Leidens zu geben. Sicher, sie begann sich auch für Mystery zu interessieren. Verfolgte gebannt „Akte X“, die dunklen Fälle der CIA. Aber in erster Linie reizte sie die Ästhetik. Das Morbide, Zombiehafte. Sie begann sich in diesen Tagen den Tod lebhaft vorzustellen und erfuhr, dass der Komet Hale-Bopp, der in diesem Jahr zu sehen war, ihr die Chance auf Erlösung gab. Zumindest war es ein Zeichen. Ob es ein gutes oder schlechtes war, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Aber ebenfalls wie der Ich-Erzähler schmiedete sie einen Plan, was sie in der Nacht tun könnte, in der sie Hale-Bopp am Himmel sehen würde.

  1. Erste Schwierigkeiten (II).

Ich wusste, dass ein längeres Verschwinden geplant sein wollte. Mein Alptraum wäre es gewesen, wenn meine Eltern die Polizei gerufen hätten. Andererseits – wenn ich tatsächlich Kontakt aufnehmen würde, wäre mir das auch schon egal. Aber irgendein komisches Gefühl zwang mich dazu, auch einen Plan B zu entwerfen, falls Plan A nicht aufging. Es hätte ja eine Riesenenttäuschung werden können und dann wäre der Erstkontakt nicht eingetreten. Und für den Fall, dass mir die Aliens feindlich gesonnen sein würden, konnte ich nichts machen. Das war Risiko. Es gab keine Laserschwerter wie in Star Wars. Denn das war Mittelalter. Und Star Wars war im Grunde Mittelalter, nur wurde es in die Zukunft verlegt. Ob die Außerirdischen schon irgendetwas von uns wussten? Schließlich hatten wir Erdlinge ja die „Goldene Schallplatte“ auf der Voyager-1-Sonde in den Weltraum geschickt. Oder die Außerirdischen beobachteten uns schon seit Jahrtausenden und waren auf alles vorbereitet. Vielleicht waren sie auch außerordentlich begabt und konnten in Sekundenschnelle unsere Sprache lernen. In Science-Fiction-Filmen sieht man ja immer diese Echsenmenschen, die „kleinen grünen Männchen“. Aber das stimmt nicht. Weil es ja auch ein Paradoxon ist. Eine Zivilisation, die uns so haushoch überlegen ist, aber dann so primitiv ist, das konnte einfach nicht stimmen.

  1. Und dann wären wir wieder beim Mittelalter.

In der Schule lernten wir über das Mittelalter relativ wenig. Unsere Lehrer bewunderten die alten Römer und Griechen, die als Erste, ja, als Allererste das Licht erblickt und die große Antwort gefunden hatten. Auf alle Fragen des Lebens. Ich war in dieser Zeit sehr misstrauisch. Hatte nicht alles, was auf den ersten Blick perfekt zu sein schien, einen Haken? Wie wurden denn Frauen, Sklaven und Nichtgriechen im antiken Griechenland behandelt? Eben. Und entstanden nicht die ersten Universitäten im dunklen Mittelalter? Hatten nicht die Literatur und die Theologie eine erste Blüte? Aber das lernten wir in der Schule natürlich nicht. Das vermittelten uns Filme, Romane und Fernsehdokus. Und mehr und mehr lernte ich zu kombinieren. Es gibt ja bekanntlich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als es sich die Schulweisheit je erträumen wird.

  1. Wenn ich doch nicht so oft an Katharina denken möchte.

Katharina und ich, wir beide, waren im selben Monat geboren. Und ich wusste, dass Mann und Frau, die zur selben Zeit am selben Ort geboren wurden, früher mal ein glückliches Ehepaar gewesen sein könnten – jedenfalls in einem anderen Leben. Einmal fiel mir auf, dass Katharina im Religionsunterricht von der Wiedergeburt sprach. Mich machte das perplex. Dass jemand, der so makellos im Unterricht war, so düstere Gedanken haben könnte. Aber ich hätte ihr nicht helfen können. Denn ich war ein introvertierter Nerd und obendrein auch noch in sie ein bisschen verliebt. Dennoch machte es mich auf irgendeine  seltsame Art und Weise glücklich, dass sie solche tiefsinnigen Gedanken hatte.

  1. Ein Plan war drauf und dran zu gelingen.

Ich bereitete mich in den folgenden Tagen immer stärker auf den Tag vor, an dem ich Hale-Bopp beobachten würde. Für meine Abwesenheit im Bett lieh ich mir eine aufblasbare Gummipuppe aus, die ein Schulfreund von mir unter waghalsigen Umständen aus einem Sex-Shop mitgehen hatte lassen. Dafür gab ich ihm im Austausch meine ganzen Sammelkarten. Die Taschenlampe hatte ich schon und für den Weg zu meiner Lichtung hatte ich ein Waldstück ausgesucht, das über einen Trampelpfad recht gut zu erreichen war. Ich brauchte nur noch ein Kostüm. Zuerst überlegte ich eine Zeit lang, ob es mir gelänge, wie ein Außerirdischer auszusehen. Auch ein Mittelalterkostüm in Form einer Rüstung hatte ich auf dem Plan. Zum Schluss machte ich eine Kombination aus beiden– also ich machte mir aus Alufolie einen Umhang. Da ich Star Wars doch immer sehr mochte und es in gewisser Weise auch eine Kombination aus Science-Fiction und Mittelalter darstellte, bastelte ich mir ein Laserschwert. Ich suchte nur noch nach einem Ort in unserem Haus, wo ich das ganze möglichst unauffällig verstecken könnte. Und ich fand einen Platz hinter einem Regal im Keller, an das man nur schwer herankommen konnte.

  1. Jemand anderes schmiedete auch einen Plan.

Katharina hatte sich vorgenommen, Mitte März den Kometen Hale-Bopp anzusehen. Am besten um Mitternacht und auf einem Friedhof. Da ihre Eltern relativ antiautoritär eingestellt waren, hatte sie kaum Schwierigkeiten, diesen Plan zu verwirklichen. Jedenfalls fast. Da man ihr am nächsten Schultag etwas anmerken könnte, dass sie die Nacht woanders als in ihrem Bett verbracht hatte, brauchte sie ein verdammt gutes Gegenmittel gegen die Müdigkeit. Sie versuchte es mit etwas Make-up, das sie am nächsten Tag auftragen könnte, und kaufte sich vorher einen 5-Liter-Wasserkanister, den sie austrinken würde, um den müden Eindruck zu verbergen. Wenn alles gutginge, könnte die Nacht, die sie alleine auf dem Friedhof verbringen würde, ein Fanal sein. Ein Aufbruch in eine andere bessere Welt. Oder auch der Weltuntergang. Wie bei den Dinosauriern. Und nach dem Untergang fängt ja bekanntlich die neue Zeitrechnung an. Die Erlösung, oder wie immer man auch das nennen möchte.

  1. Was in der Schule stattfand.

Auch an den anderen Mitschülern war es inzwischen nicht spurlos vorbeigegangen, dass zwei ihrer Mitschüler Pläne schmiedeten. Das war zum einen der Plan des Ich-Erzählers mit der Alufolie und der Gummipuppe. Das war auch das seltsame Verhalten Katharinas in ihrem Freundinnenkreis. Was sie nur ständig von Weltuntergang und „Ragnarök“, „Armageddon“ und so faselte. Irgendjemand hatte vielleicht mitbekommen, dass gerade diese zwei Schüler anders waren, und es wurde schon getuschelt, ob sie vielleicht auf irgendeine Art miteinander Kontakt hätten. Auffällig war, dass jeder auf seine Art sich verändert hatte. Die eine mit immer morbideren Vorstellungen von Erlösung und Aufbruch. Der andere redete von Erstkontakt und Begegnungen der dritten Art. Einen Zusammenhang mit Hale-Bopp konnte keiner erkennen, wer weiß, vielleicht hatten die anderen auch gar nicht gewusst, was Hale-Bopp ist oder dass es 1997 wieder einen Transit gab. Viel hätte nicht gefehlt und Katharina und mir hätte eine Einbestellung zum Schulpsychologen gedroht, aber glücklicherweise hatte jeder seine Pläne für den fünfzehnten März für sich behalten können.

  1. Eine ganz besondere Nacht.

Den vierzehnten März neunzehnhundertsiebenundneunzig behalte ich aus mehreren Gründen in guter Erinnerung. Erstens war es ein Tag, in dem ich in der Schule komplett abwesend schien und mir auch einen Tadel vom Lehrer einhandelte. Andererseits kann ich den Nachmittag und den Einbruch der Nacht noch minutiös schildern: Nachdem ich die Hausaufgaben gemacht hatte und mir wieder bei den Geschichtsaufgaben aufgefallen war, dass nur die Geschichte der Mächtigen erzählt wird und nicht die der einfachen Leute, fing ich an, mich an meinen Plan zu machen: Ich holte den selbstgebastelten Raumanzug mitsamt dem Laserschwert hinter dem Regal aus dem Keller hervor. Ich blies die Gummipuppe auf und stülpte ihr den Pyjama über, versteckte sie aber noch für die erste Zeit. Meine Eltern riefen mich zum Abendessen und wollten heute besonders deutlich wissen, was wir in der Schule durchnähmen, schließlich sei der Schulstoff doch hochinteressant. Ich versuchte die Eltern abzuwimmeln und täuschte Normalität vor. Was immer dann schwierig ist, wenn natürlich keine Normalität vorliegt. Nach dem Abendessen stellte ich meinen Wecker. Ich wollte punktgenau um Mitternacht auf meiner Lichtung sein. Zuvor wollte ich mir noch ein Nickerchen genehmigen.

  1. Was das eine mit dem anderen zu tun hat.

Punktgenau um Mitternacht fand sich auch Katharina auf dem Friedhof ein. Sie hatte ihren Discman dabei und hörte Gothic Rock. Zudem hatte sie auch eine Flasche Wein, denn sie wollte sich Mut antrinken. Es dauerte eine gefühlte kleine Ewigkeit, bis sie den Kometen zu sehen begann. Doch innerlich hatte sie sich schon auf alles eingestellt. Donner, Schwefelgestank. Einen unfassbaren Lärm. Explosionen. Jene Nacht aber schien friedlicher zu sein, als sie angenommen hatte. Sie erblickte den Kometen mit seinem Schweif aus Staub und Gas. Obwohl sie doch sehr enttäuscht war, gefiel ihr die Anmut des Kometen. Sie wusste, dass sie weiterleben musste und dass es nur einen Alltag geben wird. Der Traum vom Kometen war für sie geplatzt und in ein paar Stunden würde sie wieder in ihr altes Leben zurückfinden. Demgegenüber gab es aber noch eine andere Katharina. Die gleichzeitig auf einer abgelegenen Lichtung eine Person, komplett in glänzende Silberfolie verpackt, mit einem Laserschwert bewaffnet tanzen sah. War es ein Alien? Angst kroch in ihr hoch. Hatte der Komet Hale-Bopp doch seine Bedeutung? Die Person in dem Aluanzug kam immer näher. „Verdammt, wenn dieser Alien doch etwas im Schilde führt. Und nur alles wegen Hale-Bopp.“ Doch in diesem Moment erinnerte sie sich, dass sie sich doch auf dem Friedhof befand und nicht auf der besagten Lichtung. Von dem Mann im Aluanzug keine Spur mehr, jedoch sah sie ein paar Fledermäuse umherfliegen. Sie schaute auf das Etikett ihres Weines. Der war dann doch eine Spur zu stark gewesen. Erleichtert schlief sie ihren restlichen Rausch auf einem Grab aus und war glücklich ob der Begegnung mit dem Außerirdischen.

  1. Was der Ich-Erzähler tatsächlich gemacht hat.

In jener Nacht stand auch der Ich-Erzähler auf, vollführte, wie beschrieben, auf der Wiese ein paar Tänze und erblickte plötzlich ein Ufo. Ein silbrigglänzender Außerirdischer kam heraus und sprach in der Menschensprache. „Willkommen. Das der Erstkontakt es ist. Wir in Frieden kommen.“ „Wer seid ihr?“, frug ich. „Wir vom Planeten Plörbul kommen. Wir die Erkenntnis für auch haben.“ Plötzlich merkte ich aber, dass mir der Erstkontakt mit Katharina wichtiger wäre. Dummerweise hatte ich ja eine Vorahnung, was sie heute machen könnte – aber es war ja lediglich eine Vorahnung, sonst nichts. Ich merkte, wie sehr ich mich nach dem Kuss eines Toten oder eines Zombies sehnte. Es war ja schließlich die Nacht des Kometen Hale-Bopp. Aber ich wurde nicht geküsst. Auch nicht gebissen. Da machte es auf einmal einen lauten Knall. Ich wachte auf. Die Gummipuppe war geplatzt und ich hatte die ganze Nacht in meinem Zimmer verträumt. Auf der Lichtung war ich nicht und auch das Treffen mit den Außerirdischen war nicht real. Aber dafür war ich glücklich. Ich hatte ja über den Umweg des Traumes meinen Erstkontakt gehabt. Aber der Kuss einer toten Person oder der eines Grufties wäre mir lieber gewesen. Dennoch merkte ich, dass ich jetzt ein größeres Probleme hatte: Ich musste die Aluverkleidung und die Reste der Gummipuppe verschwinden lassen. Also stopfte ich die Folie und die Gummipuppenreste in meinen Schulranzen in der Hoffnung, sie am nächsten Tag entsorgen zu können. Kein Problem für mich. Ich versuchte mich schlafend zu stellen, um am nächsten Tag in die Schule zu kommen.

  1. Wie alles miteinander zusammenhängt.

Der Schultag war gewohnt langweilig. Katharina sah ganz normal aus. Aber nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick konnte der Kenner sehen, dass sie die Nacht durchgemacht hatte. Vielleicht bemerkten das auch die Lehrer, doch sie drückten bei ihr ob ihrer guten Leistungen manchmal ein Auge zu. Vielleicht trauten sie ihr das aber auch nicht zu und es blieb unbemerkt. Egal, was genau Katharina getan hatte, wusste ich nicht. Ich hatte eine Ahnung, aber auch nicht mehr. In der Pause schlich ich mich dann zu den Mülltonnen, denn ich wollte dort die Gummipuppe und die Alufolie loswerden. Als ich den schweren Deckel hochhievte, kam plötzlich Katharina in die Nähe. Sie verschwand hinter der Mülltonne und  musste sich übergeben. Als sie wieder hervorkam, war ich baff. In diesem Moment erkannte sie, dass ich die Alufolie und die Reste der Gummipuppe loswerden wollte. Sie sagte: „War eine spannende Nacht.“ „Für dich auch?“, fragte ich. Dann kramte sie ihren schwarzen Lippenstift aus der Tasche und malte mir einen schwarzen Kussmund auf den Arm.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques| Inventarnummer: 21079

 

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