Moment! Kennen Sie schon Teil 1 und Teil 2?
Hier folgt der nächste Teil dieser Geschichte.
Am nächsten Tag läutete ich an. An ihrem Türöffner unten auf der Straße meine ich, ich weiß nicht warum, aber es erschien mir unstatthaft, an ihrer Wohnungstür zu läuten. Die Terrestrische Navigation hatte ich bei mir. Trotz der unvermeidlichen Verzerrung durch die Sprechanlage, es gibt da anscheinend keinerlei technischen Fortschritt, erkannte ich sofort ihr langgezogenes „Jaaaa?“ und das verschlug mir kurz die Rede. Ich brachte nur ein ungeschicktes „Ja, Frau Apfel, hier ist der Jonas!“ hervor. Dann kam lange nichts. „Der Jonas?“, quäkte es blechern, Pause, dann schepperte Frau Apfel: „Ja, der Jonas? Der kleine Raumfahrer?“ „Habe Schiffbruch!“ kämpfte ich mit meiner Stimme. „Komm doch herauf!“, sagte Frau Apfel.
Es fällt mir schwer zu schildern, wie das für mich war, der Besuch bei Frau Apfel. Wieder roch es nach Kaffee und Zigaretten und wieder war alles vollgestellt mit Büchern und mit dicken, breitblättrigen Topfpflanzen, als ob sie die ganze alte Stadtbücherei einfach mitgenommen hätte. Nur dass sie selbst noch viel dünner war, fast durchsichtig wirkte und ein wenig gebeugt. Sie sei nicht direkt entlassen worden damals, sagte sie. Es sei die Rede gewesen von Zentralisierung und Kostensenkung und so, aber sie hätte kein Interesse gehabt, für Altersteilzeit quer durch die ganze Stadt und noch dazu zu unmöglichen Zeiten in die Arbeit zu fahren. Und überhaupt, sie habe sich das angesehen, das sei ja keine richtige Bücherei gewesen, mehr eine Bahnhofshalle voller Rechner! Dann wäre plötzlich die Miete gestiegen und die habe sie sich nicht mehr leisten können mit ihrer Frühpension. Jemand habe ihr dann diese Gemeindebauwohnung vermittelt, wofür sie sehr dankbar sei. Trotzdem habe ihr das alles schon sehr zu schaffen gemacht. Besonders als sie die Katzen abgeben musste, weil hier ja keine erlaubt seien, das täte ihr besonders leid.
Ich merkte, dass sie nicht wusste, welche Rolle Alex bei ihrer Delogierung gespielt hatte. Ich legte die Terrestrische Navigation auf den Tisch. Dass ich dieses Buch die ganzen Jahre zurückgeben wollte, aber nie dazu kam, sagte ich. Sie nahm die Terrestrische Navigation in die Hand und sagte: „Aber das gehört doch dir, das war doch längst makuliert, ich dachte, das ist das richtige Geschenk für dich! Vielleicht hätte ich die Signatur runternehmen sollen?“ Dann kicherte sie: „Wie schön, dass du das noch hast!“ Darauf beugte sie sich über den Küchentisch und flüsterte, eine der Katzen habe sie heimlich mitgenommen, die Feli, die kleine Stinkerin, das müsse aber unter uns bleiben. „Strikter Geheimhaltungscode, verstehst du, Captain Jonas?“ Ich sah mich um, konnte aber keine Katze sehen. Nur Säcke mit Streu und eine Menge Schachteln Katzenfutter sah ich im Flur stehen und darauf lag ein Haufen Schnittblumen. Sonst käme sie sehr gut zurecht, sagte Frau Apfel auf dem Weg zur Tür, sie könne nicht klagen.
Ob sie irgendetwas brauche, fragte ich, ich könne ja gerne für sie einkaufen gehen in der Pandemie. Dann hat sie mich wieder angesehen mit ihren klugen Augen und gesagt: Milch, Milch für die Katze könne sie brauchen, ob ich denn morgen einkaufen gehe? Dann sagte sie etwas Seltsames. Sie sah mir noch genauer in die Augen und es fühlte sich an, als streichelte sie mich mit ihrer Stimme über den Kopf: „Du bist ein Guter!“, sagte sie. Aber bis heute bin ich mir nicht sicher, ob da nicht ein Fragezeichen dabei war. Beim Hinuntergehen in meine Wohnung fiel mir auf: Sie sprach mich immer noch mit „du“ an. Ich war froh darüber. Ich habe ihr dann die Milch vor die Tür gestellt, weil sie auf mein Klingeln nicht öffnete. Dabei hatte ich mir vorgenommen, sie diesmal zu fragen, wie sie das gemacht hatte mit dem Tippex.
Ab und zu öffnete sie dann doch. Wegen des Virus bat sie mich aber, es bei Gesprächen am Gang zu belassen, wo sie einen Aschenbecher am Fensterbrett stehen hatte, den niemand anderes benutzte, obwohl fast alle Parteien rauchen in unserem Gemeindebau. Durch meinen Ex-Beruf merke ich das sofort, ob jemand raucht im Haus. Mittlerweile hatte ich aber auch wieder begonnen mit dem Rauchen.
Neben den Aschenbecher stellte ich ihr eine breitblättrige Topfpflanze aus der Blumenhandlung gegenüber, das freute sie sehr. Es wurden zahlreiche Topfpflanzen und immer stand bei dieser Gelegenheit ihre italienische Kaffeekanne auf dem Fensterbrett und klemmte eine Blaise-Pascal-Ausgabe aus den 80ern zwischen den Fensterflügeln, um den Rauch rauszulassen. Diese Gespräche taten mir gut und ich merkte, wie es mir von Tag zu Tag besser ging. Sogar mit dem Trinken hörte ich fast auf.
Nach der Katze erkundigte ich mich nie und auch nicht nach dem Tippex. Bei einem dieser Gespräche hörte ich ein Geräusch in ihrer Wohnung: Jemand seufzte schwer. Ich fragte sie aber nicht danach, wer das sei, da ich nicht den Eindruck hatte, dass sie das wollte. Ich fragte mich dann aber, ob Frau Apfel mich wirklich wegen des Virus nicht mehr in ihre Wohnung einlud. Ich hätte mir das schon sehr stark gewünscht.
Auf ins Finale zu Teil 4!
Bernd Remsing
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