Ein modernes Märchen für Erwachsene
Herr Josef Glatz, 52, verwitweter Inhaber eines „Herren-Friseursalons“, hatte nach einem starken Samstagvormittag sein Lokal zugesperrt und sauber gemacht. Nun gedachte er, nach Mittagessen und Siesta, endlich das Hinterzimmer auszuräumen. Oft hatte er einen „Anlauf“ genommen, aber beim Anblick der unglaublich vielen großen und kleinen Flascherln aus Glas und Plastik, der Tiegel, Cremedosen und Zerstäuber aus dem vor drei Jahren aufgelassenen „Damensalon“ war er entmutigt davor zurückgeschreckt und kopfschüttelnd wieder hinausgegangen.
Vielleicht war es heute das zweite Achterl Veltliner zum Schnitzel, vielleicht der gut gemeinte Rat seines Schwagers Rudi, wieder „Ordnung“ in sein Leben zu bringen, die Erinnerung an seine Gattin und ihren Damensalon „loszulassen“. Also los! Mit zwei Kübeln, Kehrgerät und Staubtuch bewaffnet betrat er den muffig riechenden Raum, riss alle Fenster auf und ging ans Werk. Aber wohin mit diesen Shampoos, Haarpflege-Mitteln für trockenes, fettes, dünnes und gebleichtes Haar, den biologischen Säften, den Tönern, Färbemitteln und Entwicklern, all dieser flüssigen chemischen und „Natur“-Kosmetik? Das durfte man nicht in den Abfluss gießen! Aber die halbvollen Gläser und Plastikgebinde waren weder für den Restmüll noch Altglas-Container zugelassen. Deshalb schüttete er den Inhalt aller Gefäße in die beiden Plastik-Kübel, um diese dann montags am nächsten Mistplatz abzugeben.
Als er die fast vollen Eimer in die Ecke stellte, fiel ihm beim Bücken sein Kamm aus der Brusttasche in die schäumende braune Soße des einen Kübels. Beim raschen Griff danach spritzte ihm etwas davon auf den rechten Handrücken. Er spülte den Kamm ab, wusch sich die Hände und staubte die leeren Regale ab, bevor er für heute Schluss machte. Komisch – der betroffene Handrücken juckte leicht! Na ja, kein Wunder bei dieser Mischung. Herr Glatz (von bösen Freunden auch „Glatzen-Pepi“ genannt – er hatte tatsächlich nur mehr einen grauen Haarkranz um den Schädel) machte seinen Nachmittagsspaziergang, aß abends im Schanigarten eine „Saure Wurst“ zum Bier und ging nach dem Rapid-Match im TV schlafen.
Der Sonntag kam und ging ohne besondere Vorkommnisse; seinen noch immer leicht juckenden Handrücken cremte er mit dem Rest einer Cortison-Salbe ein, worauf das aufhörte. Und am Montagfrüh fuhr unser „Pepi“ die beiden Kübel zum Mistplatz. Man wies ihn an, das Gemisch in eine mit „Gefährlicher Sondermüll“ bezeichnete Tonne zu schütten – die Eimer musste er wieder mitnehmen. Aber als er sie – zwecks Reinigung – zu Hause zum Ausguss stellte, fiel ihm auf, dass sein rechter Handrücken mit einem feinen Flaum von dunklen Haaren bedeckt war! Verblüfft verglich er seine beiden Hände – der linke Handrücken war wie immer hell und glatt, der rechte schimmerte dünkler. Da gab es nur eine Erklärung: Das im Eimer mit dem braunen Inhalt (im anderen war eine erbsengelbe Mischung) musste ein zufällig entstandenes, wirksames Haarwuchsmittel sein!!
Herr Glatz fiel auf den nächsten Stuhl und atmete tief ein. Da hatte ihm der Zufall ein Wunder beschert – ihm war gelungen, worum sich die Wissenschaft seit langer Zeit bemühte – er hatte ein wirksames Haarwuchsmittel er-, nein ge-funden!!! Und siedend heiß fiel ihm ein, dass er dieses – ja, Wundermittel – vor einer halben Stunde als „Gefährlichen Sondermüll“ weggeschüttet hatte. Scheiße, warum hatte er nicht vorher auf seine Hände geschaut! Der Kübel wäre Millionen wert gewesen!! Aber zurückholen konnte er das nicht mehr – in der Tonne am Mistplatz waren doch viele andere giftige Stoffe wie Farben, Lösungsmittel und weiß Gott was alles enthalten, da war nichts mehr zu retten. Doch halt – im Kübel war ja noch ein Bodensatz. Dieser wertvolle Stoff musste sofort abgefüllt und aufbewahrt werden, dann wäre wohl noch ein zweiter Versuch am Platz! Sicher ist sicher!
Sorgfältig schabte er mit einer Teigspachtel die Reste aus dem Eimer über einen Trichter in einen leeren Bleikristall-Parfumflacon mit eingeschliffenem Stopfen, dann spülte er den Kübel mit wenig lauwarmen Wasser aus und goss die nunmehr wässrige Lösung in eine Halbliter-Vöslauer-Plastikflasche. „Haarexpress power“ schrieb er auf das Etikett vom Originalstoff, „Haarexpress light“ auf die Mineralwasser-Flasche. Um nicht versehentlich daraus zu trinken, malte er vorsichtshalber noch einen Totenkopf darauf, aber einen mit ein paar Borsten obenauf. Gut, und was wäre jetzt zu tun, um die Wirkung seines „Zauber-Elixiers“ nachhaltig zu testen?
Lange überlegte er hin und her, ob er eine „Testperson“ für dieses Experiment gewinnen sollte, kam aber dann zur Einsicht, dass ein Selbstversuch wohl verantwortungsvoller wäre! Schön. Aber auf welchem Körperteil? Am liebsten hätte er natürlich die volle Haarpracht seiner Jugend wieder am Kopf gehabt. Andererseits – seine Hände mussten doch bei der Arbeit gleich aussehen. Also die linke Hand mit ein paar Tropfen unverdünntem Stoff bestrichen, dann – wie vorgestern bei der rechten – nach fünfzehn Minuten lauwarm abwaschen. Gott sei Dank war bald darauf wieder ein leichtes Hautjucken zu spüren – die Lage war vielversprechend. Und wie beim „Erstfall“ bekämpfte unser Pepi erst am Dienstagmorgen den Juckreiz mit der gleichen Salbe. Vor dem Aufsperren seines Geschäftes reduzierte er noch den schon deutlicheren Haarwuchs am rechten Handrücken mit dem Rasierapparat.
Zwischen den wenigen Kunden dieses Dienstages hatte Herr Glatz Zeit, über die Verwendung seines „Wunderelixiers“ nachzudenken. Vor allem die begrenzte Menge machte ihm zu schaffen: Vom puren Saft war etwa nur 1/16 Liter vorhanden, und ob die „wässrige Lösung“ wirksam war, musste noch herausgefunden werden. An welcher Person wohl? Was konnte man dafür verlangen? Welchen Preis hat ein dermaßen begrenztes Monopol? Und vor allem – wenn das Mittel oder vielmehr dessen phantastische Wirkung nicht bekannt war, würde ja niemand viel Geld dafür bezahlen! Der Stoff musste – nach dem zweiten, positiven Test – bekannt werden!! Nur wie? Aber andererseits, wenn das Mittel bekannt wäre, würden wohl tausende Anfragen kommen – und er hatte nur die paar Tropfen im Bestand!! Also was tun??
Dr. Pöllgruber unterbrach als letzter Besucher diese Überlegungen. Der langjährige Kunde beklagte sich über seine immer größer werdende „Platte“ – man nenne ihn in seiner Redaktion schon öfter „Pröllgruber“, nach der ähnlichen „Frisur“ des ehemaligen niederösterreichischen Landeshauptmannes. So fragte er seinen Friseur, was dieser vom derzeit propagierten koffeinhaltigen Shampoo hielte. Ob das wirklich helfen könne? Glatzen-Pepi wiegte nachdenklich den Kopf: „Nun ja, das ist zwar schon einige Zeit am Markt, aber von einer durchschlagenden Wirkung habe ich noch nichts gehört. In der Innung ist man auch vorsichtig. Ja, Koffein soll die Durchblutung der Kopfhaut anregen, aber das würde eine Massage auch. Dann soll noch ein Medikament gegen Bluthochdruck, es heißt, glaub ich, Minoxidil, als leichte Nebenwirkung einen verstärkten Haarwuchs haben. Auf gesunde Menschen kann man das wohl nicht loslassen. Aber ich bin gerade einer Sache auf der Spur, die mir keine Ruhe lässt. Rufen Sie mich am Freitag an, dann weiß ich schon Näheres, ja?“ Herr Pöllgruber notierte das sofort im Kalender seines Handys und verabschiedete sich optimistisch: „Dann schau ma halt einmal, net?“ Und beim Zusperren streichelte unser Pepi den noch kaum spürbaren Haarwuchs am linken Handrücken. Sehr gut, das Mittel schien zu wirken!
In der Tat, seine nunmehr mit feinen dunklen Härchen bedeckten Handrücken fielen den Kunden auf und lösten sowohl deren Staunen als auch Befangenheit beim Friseur aus. Sollte er nun lügen, dass er seine Hände früher – seiner Frau zuliebe – immer rasiert hätte? Das würde doch kaum wer glauben. Oder die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Oh Gott, das würde ja sofort die Begehrlichkeit von älteren Männern wecken, die aber kaum viel dafür bezahlen würden (sein Salon lag in einem Arbeiterviertel). Fix nochmal, eine plausible Erklärung musste her. Da fiel ihm ein, was seine schlaue Gattin bei heiklen Anlässen immer gesagt hatte: „Mit nix lügt man besser als mit der halben Wahrheit!“ Also er habe unlängst beim Räumen des Damensalons einen Flacon ohne Etikett gefunden, es für Parfüm gehalten und etwas zur Probe auf seine Hände gesprüht – mit diesem erstaunlichen Ergebnis. Und nein, er könne das Mittel nicht „ung’schaut“ an seinen Kunden ausprobieren, weil er Zusammensetzung und Eigenschaften des Stoffs nicht kenne. Außerdem hätte er Eigenbedarf für den kleinen Rest, schließlich sei er auch kein „Struwelpeter“ mehr.
Diesen egoistischen Schutzwall durchstieß donnerstags der „Schweinemörder“ (so wurde der Fleischhauer Schallowitz von bösen Freunden genannt) wie ein Panzer. Der 130-Kilo-Koloss wollte, als er beim Rasieren die behaarten Hände des Friseurs sah, auch gleich seinen nur mehr dünn behaarten Kopf mit diesem Wundermittel behandelt wissen. Und legte, nach Abwehr von Herrn Glatz, glatte 1000 Euro aus der Brieftasche auf den Tisch. Nach neuerlichem Bedenken von Pepi, das Mittel sei nicht ausreichend getestet, es könnte auch Nebenwirkungen haben oder nicht auf jeden Hauttyp ansprechen, und er wolle nicht als Scharlatan verschrien werden, gelobte der Kunde Schweigen, er nehme alles auf sich und versprach, bei sichtbarer Wirkung des Mittels nach vier Wochen noch einen Tausender draufzulegen. Also in Gottes Namen – Herr Glatz sprengte ihm nach der Haarwäsche einige Spritzer des „Haarexpress-light“ auf die Kopfoberfläche und massierte es gründlich ein. Ein leichtes Hautjucken anfangs, so erklärte er, müsse der Kunde in Kauf nehmen. Hoch erhobenen Kopfes verließ Herr Schallowitz den Salon.
„Ist eh schon egal“, dachte der Friseur, als er abends seine Glatze im Spiegel betrachtete, „auf was warte ich noch?“ Und behandelte seine Kopfhaut nach dem Duschen sparsam mit „Haarexpress power“. Immerhin schon ein Extra-Tausender in der schwarzen Kasse! Vielleicht bekam er das Geld für ein neues Auto zusammen – sein uralter Golf hatte letzthin nur mehr mit „Bauchweh“ ein „Pickerl“ bekommen. Über die Shampoo-Reklamen im Fernsehen mit ihren gewagten Versprechungen konnte er nur mehr müde lächeln: „Ihr Schaumschläger mit euren Werbe-Millionen – ich, der kleine Vorstadtfriseur, kann das, was ihr nicht zustandebringt!“
Genau das hoffte auch Herr Dr. Pöllgruber, als er freitagmorgens den Salon betrat: „Guten Morgen, bin ich noch zu früh?“ Glatzen-Pepi begann zu schwitzen – er hatte noch nicht überlegt, wie er dem Stammkunden den Preis schmack- und glaubhaft machen konnte. Verlegen kratzte er sich am Kopf – oh Gott ja, der ersehnte Juckreiz war da! Alles in Butter, das Mittel wirkte! Also holte er den kleinen Bleikristall-Flacon hervor und erklärte: „Sehen Sie, diese Probe ist alles, was ich bekommen habe – mehr gibt’s nicht. Und das hat mich eine schöne Stange Geld gekostet. Ich schlage vor, Sie geben mir vor der Behandlung 1000 Euro als Einsatz; wenn sich innerhalb von vier Wochen Haarwuchs einstellt, gehört das Geld mir, wenn nicht, bekommen Sie es zurück. Und niemand erfährt davon, ja! Ist das okay?“ Der Kunde schluckte – so teuer hatte er sich das nicht vorgestellt; aber andererseits – eine bereits angedachte Haartransplantation kostete sicher mehr als das Doppelte, und dazu noch Auslandsaufenthalt und lange Dauer – also da war er bei seinem vertrauten Friseur wohl besser aufgehoben. „Ist in Ordnung, machen wir’s gleich? Weil ich hab heute einen sehr langen Tag.“ Glatzen-Pepi nickte und legte verschwörerisch den Finger auf den Mund, weil ein Kunde eintrat.
Nach der Behandlung mit dem unverdünnten Treibmittel empfahl er dem Kunden noch die Salbe gegen eventuellen Juckreiz und bat ihn, am Dienstag zum Rasieren wiederzukommen. Der Kunde staunte zuerst, verstand aber dann das zweimalige Augenzwinkern und sagte zu: „Ist in Ordnung, ich zahle gleich, muss noch zum Bankomat gehen.“ Pepi nickte. Prima, der zweite Tausender in der „Auto-Kassa“.
Das Wochenende verging ruhig, aber dienstags kam es dann dick: Als erster Besucher trat fröhlich grinsend der „Schweinemörder“ mit einem in blutiges Papier gewickelten Packerl ein: „Guten Morgen, Herr Glatz, was sagen Sie dazu?“ Er neigte den Kopf und präsentierte den winzigen dunkelblonden Flaum zwischen den vereinzelten längeren Haaren seines enormen Quadratschädels. „Ich hab’s ja kaum glauben können, dass da wieder was nachkommt – da sind zwei schöne Steaks und ein Beiried für Sie! Und den Rest wie besprochen, ja?“ Damit legte er seine Liebesgabe in das Waschbecken und verließ fröhlich pfeifend das Lokal.
Das Ganze hatte auch der soeben eingetroffene Chefredakteur Dr. Pöllgruber gehört und gesehen. Er wollte genauso seine hauchdünne neue „Wolle“ begutachten lassen – immerhin hatte er seinen „Eislaufplatz“ auf der Schädeldecke übers Wochenende fast blutig gekratzt, weil er auf die empfohlene Salbe vergessen hatte: „Was sagen Sie dazu, Herr Glatz, der Ansatz ist ja vielversprechend – aber wird das wieder wie meine früheren Haare? Es scheint mir ein bisserl ins Kräuseln überzugehen – ich meine, ich hab’ ja keine Verwandten in Afrika?“ Der Friseur nach einem Blick darauf: „Aber gehen S’, das kann man erst nach drei, vier Wochen beurteilen. Und was ich mich erinnere, haben Sie seinerzeit leicht gewelltes Haar gehabt. Das wird schon, und vor dem Schlafengehen die Kopfhaut massieren, das regt die Durchblutung an.“ Der Kunde verabschiedete sich beruhigt.
Und gerade beim Zusperren kam nochmals der Fleischhauer in Begleitung eines eleganten, aber total kahlköpfigen jüngeren Mannes: „Kommt eh niemand mehr? Nein? Also das ist der Herr Magister Neunteufel, der Geschäftsführer von Mercedes Wien-Nord. Ich hab vorhin meinen neuen Wagen abgeholt, und wie ich drin gesessen bin, hat er halt gesehen, dass bei mir wieder Haare nachwachsen. Und weil er so darunter leidet, als ein Junger schon glatzert zu sein, hat er mich gefragt, was mir geholfen hat. Sind S’ mir eh nicht bös’?“ Der junge Mann hob verlegen seine Hände: „Guten Abend, es tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit bringe, aber wissen Sie, in meiner Familie verlieren die Männer ab 30 schon die Haare, und weil nur ein Kranzl herum auch blöd ausschaut, bin ich lieber total rasiert. Aber welche junge Frau will schon einen Skinhead? Ich werde gerne einen guten Preis bezahlen, wenn Sie mir helfen können!“ Herr Glatz hörte schon an der Stimmlage, dass dieses Problem seelisch tief ging. Vorsichtig erwiderte er: „Wissen Sie, das ist nicht so einfach: Ich habe das Mittel zufällig gefunden, und es ist nur mehr ein winziger Rest da. Ob das bei allen Fällen wirkt, kann ich nicht garantieren, und was tu ich, wenn’s nicht wirkt?“ Herr Neunteufel bohrte gekonnt nach – denn der Schweinemörder hatte ihm einen Tipp gegeben: „Ein Tausender nur für einen Versuch ist okay. Und wenn es Erfolg hat – schauen Sie, den roten Wagen vor dem Lokal können Sie um den halben Preis haben.“ Glatzen-Pepi starrte entgeistert durch die Auslage: Da stand ein junger Mercedes Klasse A, weinrot und glänzend wie ein Neuwagen, mit 18.000 Euro angeschrieben. Wahnsinn – genau so einen eleganten Flitzer hatte er sich immer schon gewünscht! Verlegen meinte er: „Na dann versuchen wir’s halt, nehmen S’ Platz, und – guten Abend, Herr Schallowitz!“
Um es abzukürzen – der letzte Rest „Haarexpress power“ wirkte auch hier. Aber gleicherweise, wie den Friseur die eigene, ans Licht drängende Haarpracht erfreute, wucherten im Bezirk wildeste Gerüchte über sein Wundermittel. Die vorsichtshalber getragene „Tarnkappe“ nützte nichts mehr, ein kurzer Windstoß auf der Gasse hatte sein Geheimnis enthüllt, und die tratschsüchtige Trafikantin nebenan badete förmlich in ihren „Offenbarungen“. Immer wieder stürmten Glatzenträger seinen Laden, der Zettel in der Auslage: „Hier werden nur mitgebrachte Haare geschnitten – für Wunder wenden Sie sich an die Kirche ’Maria, Hilfe der Christen 1220 Wien‘“ – wurde zwar belächelt, aber kaum beachtet. Weshalb Herr Glatz die Tafel im Schaufenster austauschte mit dem konsequent befolgten Text: „Wegen Überlastung werden nur mehr Stammkunden bedient.“ Gott sei Dank ebbte die Gerüchtebörse infolge Nahrungsmangel nach zwei Wochen großteils ab. Pepi wagte sich (Herr Neunteufel hatte Wort gehalten) mit seinem roten Mercedes wieder auf die Gasse; die vereinzelten Anfragen nach seinem phantastischen Haarwuchsmittel wurden lakonisch mit der Mitteilung „Ich hab nichts mehr davon“ abgewürgt. Tatsächlich wartete nur mehr ein Lackerl von „Haarexpress light“ auf seine Anwendung.
Bis ein paar Wochen später eine gepflegte Dame mittleren Alters den morgens noch leeren Herren-Salon betrat mit der freundlichen Frage: „Sind Sie der Herr Glatz, der meinem Sohn geholfen hat? Wissen S’, ich hab ja so eine Freude, dass er wieder gut aussieht und tanzen geht, das ganze Leben ist wieder schöner geworden. Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Sie haben eine Mutter und ihren Sohn glücklich gemacht. Und wenn ich schon so unverschämt sein darf, wir haben Samstagabends ein Konzert meiner Musikgruppe in Bisamberg, wozu ich Sie gerne mit Begleitung einladen würde.“ Sie legte eine schöne Karte „Eva Neunteufel lädt ein“ auf seinen Arbeitstisch. Pepi dankte verlegen – er war früher mit Gattin öfter zu feinen kleinen Veranstaltungen ausgegangen. „Ich komme gerne, nur mit Begleitung kann ich leider nicht dienen.“ Da schüttelte die Damen lächelnd den Kopf: „Das kann ich gar nicht glauben – so ein liebenswerter Mann im besten Alter! Also auf Wiedersehen, ich freue mich auf Ihren Besuch.“ Erst als sie – nach intensivem Blickkontakt – den Laden verlassen hatte, rekapitulierte der Friseur, dass die Dame sorgfältig getöntes und frisiertes, aber auch ein bisserl schütteres Haar hatte. Wollte sie ihn wirklich nur zur Musik einladen? Aber nein, das hatte echt geklungen; und es erinnerte ihn an seine selige Eva, die ihm auch dann und wann etwas mit Raffinesse abgeschmeichelt hatte. Rosige Gedanken keimten da auf – denn ja, stimmt, die Dame hatte keinen Ehering am Finger, und Eva hieß sie auch noch!
Die drei „Erstanwender“ blieben unserem Herrn Glatz weiterhin nicht nur beim Haarschneiden freundschaftlich verbunden: Jeden Freitag stellte sich der „Schweinemörder“ mit zwei schönen Schnitzeln ein, Herr Neunteufel jährlich mit kostenlosem §57-Pickerl für das Auto, und Dr. Pöllgruber mit einem Gratis-Abo seiner Zeitung. Was zuletzt eine regelmäßige Tarockpartie am ersten Sonntag des Monats zur Folge hatte. Und bei jedem riskanten „Farbsolo“, den Herr Glatz ansagte, lachten die Mitspieler und meinten: „Jetzt wird’s haarig!“
Robert Müller
www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 21124