Fürst Grigorij Anatoljewitsch Potjomkin, der Liebhaber und Feldherr Zarin Katharinas der Großen, ging in die Weltgeschichte mit seinen Fake-Dörfern ein und bis heute ist mit den potjomkinschen Dörfern ein allseits verwendetes Sprichwort geblieben, auch wenn meist falsch ausgesprochen und betont.
Er hat für die Zarin den Kaukasus erobert und die Grenzpflöcke des russischen Imperiums bis an den Ural herangerückt. Dass er aber die zwei größten Reiche, Russland und Österreich, vor einer Katastrophe bewahrt hat, ist in der Erinnerung der Völker und ihrer Historiker vergessen, ausgeblendet oder absichtlich verschwiegen worden.
Bei dieser Inspektionsfahrt durch die südukrainischen Dörfer, deren Elend und Armut Potojomkin mit bemalten Kulissen zu beschönigen versuchte, war die Herrscherin nicht allein, sondern sie hatte einen hohen Gast bei sich, den Grafen von Falkenstein, der in Wirklichkeit niemand Geringerer war als die höchste apostolische Majestät des Heiligen Römischen Reiches, Kaiser Joseph II. von Österreich. Joseph interessierte sich für seine nord-östlichen Randgebiete Galizien und Bukowina, die erst kürzlich nach einem Sieg über die Türken an Österreich gefallen waren. Und diese Gebiete stießen an die südwestliche Ecke Russlands. Darüber hinaus suchte er nach Kooperationen mit Russland gegen die Türken und Regulierungen zur ersten Teilung Polens.
Der reiselustige Kaiser wollte sich immer selbst ein Bild machen von den Zuständen in seinem Reich, angefangen von den verheerenden Hungersnöten in Böhmen und Mähren 1771 bis zum Besuch bei seiner Schwester Marie Antoinette in Paris. In Böhmen fand er die Ursache des Elends der Bauern in der Leibeigenschaft, am Pariser Hof die andauernde Kinderlosigkeit in der Phimose Ludwigs XIV., die er umgehend von seinen Wiener Ärzten beheben ließ. Und voilà, ein Thronfolger erblickte zehn Monate später das Licht der Welt.
Joseph hatte gerade die mühsame 15-jährige Mitregentschaft mit seiner Mutter Maria Theresia hinter sich gelassen und war Alleinherrscher. Da machte er sich auf ins Zarenreich. Ihm bereiteten die türkischen Besitzungen in der Südwestgrenze des russischen Reiches Sorgen. Er wollte die Zarin und ihren Feldherrn davon überzeugen, dass sie die Osmanen aus den Khanaten von Moldawien, Bessarabien, der Walachei und der Krim hinter das Schwarze Meer zurückdrängen sollten, damit sie keine unmittelbare Gefahr mehr für ihre Reiche sein würden.
Beim allzeit kampfbereiten Potjomkin war sich Joseph sicher, offene Türen einzurennen, aber von Katharina wusste er, dass sie Reformen in den zentralen und westlichen Regionen einführen wollte und die Bauernbefreiung nicht eine Sekunde ernsthaft bedacht hatte. Er beabsichtigte, sich mit ihr über seinen eigenen Kampf um die ganze Palette an Reformen zu unterhalten, ohne dabei den militärischen Aspekt zum Schutz der Außengrenzen zu vernachlässigen.
Was nützten die besten inneren Reformen, wenn die Grenzen des Reiches nicht sicher waren und die Türkengefahr jederzeit zurückkehren könnte. Österreich kannte diese ständige Bedrohung aus dem Südosten seit Jahrhunderten, seit der Schlacht von Mohacs und der ersten Türkenbelagerung Wiens vor mehr als 250 Jahren.
Der kaiserliche Tross hatte in der Kleinstadt Berdjajewo südwestlich von Kiev haltgemacht und die Rösser gewechselt. Diesen Ort hatte Potjomkin besonders hübsch herausputzen lassen, mit sauberen, bunten Holzhäuschen, einer stattlichen Schenke und einer kleinen Kirche.
Nur die Poststation mit der Schenke war ein echtes Haus, alles andere waren Kulissen oder frisch angefärbelte, mit Girlanden und Fähnchen geschmückte ukrainische Bauernhütten. Sogar die ansonsten immer schlammige und von tiefen Furchen durchzogene Straße hatte er mit Holzplanken versiegeln lassen. Vor den Kulissen stand ein Spalier von schmuck gekleideten Bauern in ukrainischen Trachten, sie winkten dem Tross zu und warfen Blumen auf die Kutschen.
Potjomkin war ein genialer Feldherr und Organisator. Katharina und Joseph hoben die Vorhänge ihrer Kutsche und winkten dem Landvolk huldvoll zurück. Potjomkin war zufrieden, dass sein Kulissenschwindel geglückt war. Fürs Erste. Denn sobald sie aus Berdjajewo rausgefahren waren, zeigte die Staatsstraße Nr. 1 wieder ihr altes Bild: holprig, tiefe Furchen, Dreck.
Potjomkin hatte angeordnet, dass hunderte von Bauern fünf Werst vor dem Zug Sand und Erde streuen sollten, um die Löcher auszufüllen. Die tiefsten sollten sie mit Holzpflöcken entschärfen, die Brücken sollten sie ausbessern und verstärken und das Vieh vom Weg vertreiben.
Die Zarin und der österreichische Kaiser sollten möglichst wenig merken vom erbarmungswürdigen Zustand des Landes.
Seine Sorge war unbegründet, sie waren ins Gespräch vertieft und verstanden sich prächtig. Katharina die Große, die ehemalige Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, war glücklich, sich wieder einmal ihrer Muttersprache bedienen zu können – wenn auch mit lokalen Sprachunterschieden –, wobei sie ansonsten mit ausländischen Staatsmännern und Philosophen auf Französisch korrespondierte und parlierte.
Der Kaiser, Aufklärer durch und durch, bevorzugte es, in seinem eigenen Reich anonym zu reisen, um direkt an die Bevölkerung heranzukommen und sich ein realistisches Bild von den Zuständen in den Provinzen machen zu können. Insgesamt hat er 48 Reisen kreuz und quer durch Europa unternommen und schon 15.000 Meilen zurückgelegt.
Als Gast der Zarin musste er sich den umfangreichen Vorkehrungen des Fürsten Potjomkin beugen, beim Zug der 200 Kutschen, 300 Begleitwagen, Ochsengespanne und einer Herde von Rindern und Schafen, mit jedem Pomp und Gloria und Schwindel. Der asketische Joseph mochte so etwas nicht. Aber schließlich ging es jetzt nicht um seine eigenen Länder, die er anonym als Graf von Falkenstein bereiste, um zu erfahren, wie man die Lage der Landbevölkerung verbessern könnte, mit großen Plänen zur Bauernbefreiung, für Staats-, Wirtschafts- und Sozialreformen, das Toleranzpatent zur weitreichenden Religionsfreiheit bis zu kleinlichen Hygienemaßnahmen.
Er hoffte, bei Katharina ein offenes Ohr für seine Visionen von einem gerechten Staat zu finden, unterhielt sie sich doch mit den großen Aufklärern Voltaire und Diderot über ähnliche Fragen. Sie hatten also viel Gesprächsstoff und haben dabei weder auf Wetter noch Wege geachtet.
Alles, praktisch alles hatte der getreue Fürst Potjomkin vorausgeplant. Trotz des Heeres von Sand streuenden und Pflöcke einschlagenden Leibeigenen als Vorhut hatte Potjomkin eines nicht bedacht – die Launen des Wetters in diesen Weiten und Gegenden. Im Sommer brannte entweder die Sonne unbarmherzig vom Himmel herab, oder es gingen schreckliche Regenwetter hernieder.
Und so kam es zwischen den Dörfern Berdjajewo und Iwanovo zur Fast-Katastrophe. Die ukrainischen Himmel öffneten ihre Schleusen, Regenbäche ergossen sich auf Menschen, Rösser, Wagen und Wege. Rinnsale verwandelten sich in reißende Bäche. Bald wurde die Staatsstraße Nr. 1 zu einem Band aus tiefem Schlamm. Unentrinnbar. Das mussten Jahre und Jahrhunderte später auch die späteren Gröfazs Napoleon und Hitler erfahren, allerdings in Herbst und Winter.
Die Kutschenräder versanken lautlos bis zur Nabe in der weichen, ukrainischen Schwarzerde. Die Kutscher schlugen wie verrückt auf die Rösser ein, ohne sie einen Zentimeter herausbewegen zu können. Besonders wild trieb es der Kutscher der ersten Staatskarosse. Nicht nur trug er die größte Verantwortung, er hatte auch als Einziger in der Schenke beim Rösserwechsel die Gelegenheit gehabt, einige Gläschen Wodka zu viel in sich hineinzugießen. Diese gaben ihm solche Kräfte, dass er besonders stark und zornig auf die Tiere einschlug. Die Pferde im Sechser-Gespann kämpften tapfer, das Gefährt aus dem Schlamm herauszukriegen, aber einmal stiegen sie unter den unaufhaltsamen und erbarmungslosen Schlägen hoch, scheuten, zogen wie verrückt nach links und rechts, die Geschirre verwirrten sich ineinander, bis die Deichseln brachen und sie die schwere Karosse zum Überschlag brachten.
Sie neigte sich zur Seite und rutschte im Schlamm sachte, aber unaufhaltsam, in den aufgeweichten Straßengraben. Potjomkin in der dahinter fahrenden Karosse sah nicht lange dem Unglück zu, sprang heraus und stürzte zur kaiserlichen Kutsche. Sie lag mit einer Seite vollständig im Schlamm, und der Wagenschlag ließ sich nicht öffnen. Tollkühn kletterte Potjomkin auf das noch aus dem Sumpf ragende Dach und versuchte, die andere Seite zu öffnen.
Welch ein Bild bot sich da im Inneren! Die betagte und extrem übergewichtige Zarin hatte mit ihrer Körperfülle, den Brokatkleidern, Unterröcken und Miedern den zarten, kleinwüchsigen Kaiser fast vollständig zugedeckt. Politischen Beobachtern, wenn es sie damals schon gegeben hätte, wäre das als Sinnbild der Kräfteverhältnisse einen Kommentar wert gewesen. Der Kaiser lag am Boden im untersten Winkel der Kutsche, nur die dünnen, weiß-seidenen Beinchen ruderten vergeblich unter den Massen aus Stoff und Fett in der Luft herum wie bei einem umgedrehten Käfer.
Mit Hilfe des plötzlich wieder nüchternen Kutschers konnte Potjomkin den Kaiser gerade noch vor dem Erdrückt- und Ersticktwerden retten. Wie muss sich Joseph unter diesem stinkenden, dampfenden Fettberg gefühlt haben?
Niemand weiß es, weil alle Beteiligten geschwiegen haben oder aus dem Leben geräumt wurden. Wenn schon diese Begebenheit von der Geschichte vollständig verschluckt worden ist, umso weniger ist davon bekannt, wie die Reise danach weiter verlief, ebenso wenig, wie die gekrönten Häupter aus dem Kuddelmuddel von verrutschten Perücken, verschobenen Miedern, zerdrückten Spitzenjabots, zerknitterten Unterröcken und verschmutzten Schnallenschuhen wieder zu ernsten Staatsgeschäften übergingen.
Haben sie Karten gespielt, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren und ihre Kleidung in Ordnung gebracht hatten? Haben sie Champagner getrunken und Zuckerwerk genascht? Haben sie über Landkarten gebrütet, Grenzen verschoben, Länder eingenommen und Feinde besiegt?
Irgendwie muss es gelungen sein, denn sie haben Geopolitik gemacht. Historisch gesichert ist das Verteidigungsbündnis, das Katharina und Joseph 1781 gegen die Türken schlossen, und dass sie den Vertrag unterzeichneten, der die Teilung Polens besiegelte.
Joseph sollte später geheimnisvoll notieren, dass der schwerste Kampf seines Lebens in der Ukraine stattgefunden habe, vielleicht so besonders bedrohlich, weil Katharina damals seiner eben verstorbenen Mutter Maria Theresia zum Verwechseln ähnlich gesehen hatte. (Wenn Freud das gewusst hätte, wäre seine Analyse des Ödipus-Komplexes vielleicht anders ausgefallen …)
Bei aller Unterschiedlichkeit von Katharina und Maria Theresia, hatten sie eine verhängnisvolle Leidenschaft gemeinsam: Sie waren entsetzliche Naschkatzen (Ersatzhandlungen?), dementsprechend zur Fülle neigend und am Ende des Lebens schwer zuckerkrank. So ist in den Unterlagen des Hofarchivs verbrieft, dass Maria Theresia zum 40. Thronjubiläum von Fürst Esterhazy die Festung Esztergom aus Zucker im Maßstab von 1:50 geschenkt bekommen und aus Trauer um ihren geliebten Franz Stephan zur Gänze aufgegessen hat, samt Klosteranlagen, Parks und Besuchern.
Potjomkin eilte von Sieg zu Sieg gegen Türken, Georgier, Armenier und sibirische Steppenvölker. Er schenkte Katharina nach jedem militärischen Erfolg ganze Soldatenformationen aus Marzipan, die sie nachts heimlich verputzte, weil sie wegen ihrer krankhaften Körperfülle keine Liebhaber mehr empfangen konnte.
Als er von den schwierigen Umständen in der Ukraine schrieb, ahnte er nicht, was ihm sechs Jahre später blühen würde. Katharina und ihr Feldherr Potjomkin bereiteten gerade den 3. türkischen Krieg vor, als sie ihn wieder in die Ukraine einlud, diesmal zu einer Flussfahrt auf dem Dnjepr. Joseph war schon etwas müde und nicht mehr so reiselustig, außerdem fühlte er sich alt und krank.
Der Feldherr hatte eine riesige Flussflotte bauen lassen, allerdings mehr zur Demonstration der Stärke und zur Einschüchterung des Sultans … Es wurden Manöver und Gelage abgehalten, Feste gefeiert, Feuerwerke entlang der Ufer ausgerichtet, während sie dem Schwarzen Meer entgegensegelten.
Fürst Potjomkin wurde nach der glücklichen Reise von Katharina mit so großen Gütern in Kleinrussland und Vorder-Kaukasien und mit so vielen leibeigenen Seelen belohnt, dass er zum zweitgrößten Grundbesitzer nach den Romanows aufstieg. Der Kutscher wird nach damaligem heiligen russischen Brauch eher mit ebenso vielen Stockschlägen bedacht worden sein.
Katharina hatte am Türken-Bashing Geschmack gefunden und konnte Joseph noch 1787 bis 88 in einen für Österreich wenig erfolgreichen Krieg gegen die Türken hineinzwingen, der erst nach seinem Tod mit dem Frieden von Schestow zugunsten Russlands zu Ende ging. Potjomkin hatte die Osmanen aus den europäischen Khanaten vertreiben und die Grenzen des Zarenreiches weit nach Asien hinein ausdehnen können. Der Eroberung Sibiriens bis zum Pazifik waren Tür und Tor geöffnet.
Aber wer vermag sich auszumalen, wie Europa und die Entwicklung Russlands ausgesehen hätten, wenn Joseph und Katharina zwischen den potjomkinschen Dörfern Berdjajewo und Iwanovo im Wortsinn auf der Strecke geblieben wären.
20./21.12.21
Veronika Seyr
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