I.
Seit einiger Zeit wusste ich, dass ich, wenn ich etwas nicht erreichte, mir das Ziel schlechtredete und mich lieber mit etwas weniger zufriedengab. So zum Beispiel, als ich mir die langersehnte Urlaubsreise nicht leisten konnte und meinen Urlaub lieber im Schrebergarten verbrachte. „Das ist doch egal, kommt doch alles auf dasselbe raus“, sagte ich zu mir. Aber manchmal kam doch wieder dieses Unbehagen. Was, wenn ich etwas Schönes verpassen könnte, was sich jetzt, genau in diesem Zeitpunkt zutragen könnte, während ich hier saß und meine Zeit totschlug. Und sofort musste ich wieder an eine Begegnung in der Stadt denken, die sich so vor einigen Jahren zugetragen hatte und die ich an dieser Stelle gerne noch einmal erzählen möchte: Auf einem Trödelmarkt lernte ich einen älteren Herrn kennen, mit dem ich nach einiger Zeit ins Gespräch kam. Er stellte sich nicht vor und machte zunächst auf mich einen eher mürrischen Eindruck, aber nach ein paar Sätzen sagte er: „Weißt du, dass ich jetzt schon 78 Jahre alt bin und in meinem Leben nichts bereut habe. Nicht das Geringste!“ „Wie ist das möglich?“, entgegnete ich ihm. „Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches“, sagte er „Jetzt bin ich aber neugierig“, erwiderte ich. „Ich werde dir nicht mehr verraten, als sein muss, aber zuerst möchte ich, dass wir uns in drei Wochen wiedersehen.“ Darauf beendete er das Gespräch und ging seiner Wege.
Einige Wochen später musste ich immer wieder an seine Worte denken. „Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches“, ratterte es durch meinen Kopf wie ein Mantra. Kurze Zeit später hatte ich diesen Mann vergessen und ich ging wieder meinen Alltagsgeschäften nach. Ich wusste, dass ich früher gegenüber vielen Dingen des Lebens eine große Gleichgültigkeit, ja, eine erschreckende Gleichgültigkeit gezeigt hatte. Es war ja sicherlich nichts Neues, dass sich in meinem Leben eher wenig ereignete, ich aber den Grund nicht genau kannte, warum dies so war. Ich machte mir einmal eine Liste, in die ich die Dinge eintrug, die ich am meisten bereute. Zuerst sollte dies ein kurzes Brainstorming sein, aber später würde ich mich daranmachen, die Ereignisse zu nummerieren. Also nahm ich ein Blatt weißes Papier und schrieb darauf: Was ich schon immer einmal tun wollte (mich aber nicht zu tun getraut habe). Einige Minuten lang merkte ich eine gähnende Leere, mir wollte wieder und wieder nichts einfallen. Als ich kurz davor war, etwas zu schreiben, verwarf ich es, weil es mir zu albern erschien.
Nach langer Zeit besann ich mich wieder und machte den Anfang. Dieser lautete: „Mehr Bücher lesen.“ Ich war ein bisschen stolz auf mich, dass ich mich getraut hatte, dies aufzuschreiben, aber sicher würde mir – wenn ich nur lange genug nachdenken würde – noch etwas Wichtigeres einfallen. Aber hey, ‚Mehr Bücher lesen‘ war doch schon einmal ein guter Anfang. Mir fiel ein, wie sehr ich Menschen immer beneidet habe, die viele Bücher gelesen hatten. Gerne wäre ich auch so geworden, aber ich wusste Erstens nicht: Mit welchen Büchern sollte ich anfangen, wenn ich noch nichts kannte, und Zweitens: Woher sollte ich die große Disziplin nehmen, auch Bücher zu lesen, die auf den ersten Blick langweilig waren, aber doch wichtig als Einstiegslektüre. Dies frustrierte mich ein Weilchen und ich begann mich auf den nächsten Punkt zu konzentrieren.
Was hätte ich als Nächstes bereut, zu tun? Ich merkte, dass ich eigentlich so vieles wüsste, mir aber nichts einfiel. Nach einiger Zeit des Überlegens nahm der zweite Punkt überraschend Gestalt an: Spontaner sein. Ich dachte, dass es sehr gut war, denn ich war es in meiner Familie gewohnt, dass Ideen, die eigentlich gut waren, immer wieder zerredet wurden. „Das kann man doch nicht machen.“ „Was ist, wenn etwas schiefgeht.“ „Man braucht doch nicht alles.“ Das hat mich früher immer frustriert. Aber von alleine fand ich keinen Ausweg. Ich brachte es einfach nicht fertig, einmal etwas außerhalb meiner vorgefertigten Routine zu unternehmen. Und manchmal wusste ich gar nicht, was das sein sollte. Sicher wusste ich, dass das schwieriger war als gedacht. Damals hielt ich mich von kulturellen Veranstaltungen fern: „Für so etwas geben wir kein Geld aus“, „Dafür haben wir keine Zeit“. So hieß es oft von meinen Eltern.
Für den nächsten Punkt nahm ich mir wieder Zeit. Diesmal dauerte es etwas länger. Was hat mich früher am unglücklichsten gemacht? Mir wurde klar, dass mich am unglücklichsten die Abwesenheit von Freunden gemacht hatte. Aber zu dieser Zeit wusste ich nicht, wie ich dies am besten ausdrücken sollte. Nun dachte ich, dass ich das Brainstorming für heute sein lassen sollte.
II.
1.
Wir befinden uns im Jahr 1998. Der Ich-Erzähler ist noch Schüler und zeigt Interesse an einer Mitschülerin, die ihm nach jeder Klausur im Fach Musik ihre eigene Lösung als Musterklausur gibt, um die Fehler verbessern zu können. Natürlich zeigte der Ich-Erzähler Interesse, wie bereits gesagt. Aber dieses Interesse ist noch zu schüchtern. Er hätte es nicht fertiggebracht, auch wenn er sie täglich sah, ihr beispielsweise einen Liebesbrief zu schreiben und ihr diesen Brief unter die Bank zu legen. Wäre ihm etwas eingefallen, was er in diesen Liebesbrief hätte schreiben können? Ein paar Jahre später versuchte er für die Schublade einen solchen Brief, den er als Dreizehnjähriger gerne geschrieben hätte. Er begann so: „Liebe C., wie Du sicher weißt, hast Du mir immer Deine Musikklausuren geliehen, und es gab auch sicher andere Momente im Schulleben, in denen ich Deine außerordentliche Freundlichkeit zu schätzen gelernt habe. Dies wollte ich Dir nur einmal schreiben und ich hoffe, dass Du mich ebenfalls als sympathisch wahrnimmst. Über einen weiteren Austausch mit Dir würde ich mich sehr freuen! Dein B.“ Leider habe ich einen solchen Brief nie geschrieben und C. wechselte sehr früh die Schule. Bis heute habe ich keinen Kontakt zu ihr.
2.
Es war schon im Studium, als ich diesen überfüllten Sprachkurs besuchte. In der letzten Bank saß N. ganz alleine, und ich begann immer wieder heimlich, zu ihr hinüberzublicken. Sie gefiel mir sehr, auch wenn ich nicht viel von ihr wusste. In einer Stunde geschah es, dass sie sich ganz unvermittelt neben mich setzte und mir sogar Ihre E-Mail-Adresse gab. Ich war ganz baff und konnte die Situation nicht zuordnen. Wegen meiner Schüchternheit kam es aber zu keinem weiteren Austausch. Auch für N. formulierte ich später ein E-Mail, das ich ihr gerne geschrieben hätte: „Hallo N., ich fand es ganz toll, dass Du Dich neben mich gesetzt hast. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Du nur die Hausübungen haben wolltest, oder ob ich Dir sympathisch bin ;-). Wenn Du Lust hast, können wir uns gerne einmal treffen. LG, B.“ Im Gegensatz zu C. war die E-Mail-Adresse von N. noch nach neun Jahren gültig. Leider habe ich von ihr keine Antwort mehr erhalten.
3.
Und die vielen beiläufigen Begegnungen. Als ich Studienkolleginnen traf, die mir sehr gefielen oder die sehr nett zu mir waren, aber es mir nicht gelang, Kontakt mit ihnen aufzubauen. Und im Nachhinein war das immer sehr schade für mich, dass sich nichts ergeben hat. Und wie bei C. und N. formulierte ich manchmal Briefe, die ich schreiben könnte. Aber das ist alles nun vergebens. Dennoch habe ich gelernt, achtsamer mit solchen Begegnungen umzugehen und mich mehr zu trauen. Auch schätze ich andere Menschen mehr als vorher.
III.
Zurück zu meinem Brief: Den dritten Punkt ließ ich aus und verstaute den Brief in einer Schublade. Nach einiger Zeit hatte ich sogar vergessen, dass ich ihn geschrieben hatte. Ich erinnerte mich aber wieder an den alten Mann, der mir sagte, das sei ja „an und für sich nichts Ungewöhnliches“. Was ich ihn wohl diesmal fragen sollte? Den ersten Schritt mit der Liste hatte ich ja gemacht und mir fiel doch ein, wie viel mir in meinem Leben entgangen ist. Ich habe mir auch eine zweite Liste mit meinen häufigsten Ausreden erstellt. „Das wird doch nie etwas“, „Das kommt alles noch von allein“, „Du schaffst es nicht“, die ich dem alten Herrn zeigen wollte. Aber zuerst war ich auf die erneute Begegnung mit dem Mann gespannt.
IV.
An einem Freitag traf ich ihn tatsächlich, zuerst hatte er mich gar nicht erkannt und dann nicht kennen wollen. „Ach so, haben wir uns wirklich schon einmal gesehen?“, fragte er misstrauisch. „Ich denke doch. Und ich habe das letzte Gespräch sehr ernst genommen. Aber leider weiß ich immer noch nicht, was Ihr Geheimrezept ist, dass Sie im Leben nichts bereuen. Ich habe mir sogar zwei Listen gemacht“, sagte ich. Er erwiderte: „Das ist doch fürs Erste schon einmal ein guter Anfang. Und was hast du in die beiden Listen denn geschrieben?“, fragte er. „In der ersten Liste steht, was ich am meisten bereue, und in der zweiten stehen meine häufigsten Ausreden.“
Er zögerte einen Moment. Dann fuhr er fort: „Und weißt du schon, was du in deinem Leben ändern möchtest. Ich denke, dass du damit sofort anfangen musst, sonst hast du später keine Zeit mehr.“ Ich entgegnete, dass ich sofort in eine Bücherei gehen werde und mit dem Lesen anfange und auch mein großes Zögern beim Besuch kultureller Veranstaltungen einstellen möchte. Zum dritten Punkt fällt mir allerdings nichts mehr ein. „Was war dein dritter Punkt?“ „Die verpassten Gelegenheiten, Mitschülerinnen oder Mitstudentinnen Briefe oder E-Mails zu schreiben.“ „Und was könntest du aus deinem Fehler lernen?“ „Das weiß ich nicht.“ Der alte Mann entgegnete mir: „Ich gebe dir mal einen Rat, aber nur einen kleinen, auf den Rest musst du leider selbst draufkommen: Wozu hat man denn das Internet erfunden?“
Dann nahm er aus seiner Tasche ein Smartphone und tippte eine App an. „Diese App habe ich selbst programmiert. Sieh mir zu, was passiert, wenn ich sie öffne!“ Gespannt sah ich ihm zu, und ehe ich genau realisieren konnte, was geschehen war, tat es einen lauten Schlag und der alte Herr explodierte. Vor lauter Qualm konnte ich zunächst nichts sehen, aber dean nahm ich eine junge Frauenstimme wahr, die zu mir sagte: „Hallo B., es ist schön zu hören, dass du dich damals so sehr für mich interessiertest. Vielen Dank dafür!“ Als sich der Qualm lichtete, merkte ich, dass es sich um C. handelte, die mich noch schüchtern auf die Wange küsste und dann von dannen schritt. In diesem Moment piepte mein Handy, und als ich nachschaute, sah ich, dass ich ein SMS von N. bekommen hatte, das ebenfalls sehr freundlich formuliert war. Vor meinem inneren Ohr hörte ich noch einmal die Stimme das alten Mannes: „An und für sich nichts Ungewöhnliches.“ Dabei musste ich laut und herzhaft lachen.
V.
Wie die oder der geneigte Lesende es richtigermaßen schon bemerkt haben dürfte: Diese Geschichte war natürlich von Anfang bis Ende erstunken und erlogen. Und am Anfang habe ich es doch noch ein bisschen glaubwürdiger formuliert, um den Lesenden auf eine falsche Fährte zu locken. Was ich aber dennoch mit der Liste ausdrücken wollte: Es ist nichts Schlechtes daran, sich seine Versäumnisse und Ausreden noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Und gelegentlich bietet sich doch noch die Chance auf Veränderung. Wenn sich diese Chance nicht zeigt, sollte man auf eine weitere warten, sich aber gut darauf vorbereiten, so widersprüchlich es klingt. Es geschehen manchmal Wunder, auch wenn diese auf den ersten Blick nicht so spektakulär aussehen wollen wie in der Geschichte, aber der Alltag kennt viele Überraschungen. Nicht umsonst sagt ein altes Sprichwort (sofern ich es mir nicht selbst ausgedacht habe), die erste Liebe sei doch immer die wahre Liebe ...
Michael Bauer
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