Sie war nicht, wie sie schien. Die Stadt aus Silber und Licht war eine andere. Sie war die aus Dunkelheit und Unrat.
Wie konntest du dich nur so täuschen? Weil man sieht, was man sehen will, nicht? Die Hoffnung sucht immer fettes Futter. Die Stadt sollte sein, wie du sie am liebsten hättest. Von Weitem leuchtete sie. Damit zog sie dich an. Du durchquertest die Wüste, warst durstig und hungrig, und da erschien sie am Horizont. Du nähertest dich ihr, und die Stadt blieb. Sie war keine Lichtspiegelung, sie war real. Du konntest deine Freude mit niemandem teilen, weil du allein in deinem Geländewagen saßt, mit vielen Kanistern Benzin. Vor fünfzig Jahren wärst du vielleicht noch auf einem Kamel gesessen, ja, kann gut sein, doch diese Zeiten sind vorüber. Du fuhrst in die Stadt hinein, alle paar Meter wurde sie dunkler. Als du deinen Wagen abstelltest, gab es keine Straßenbeleuchtung mehr.
Besonders merkwürdig war, dass du niemanden verstehen konntest. Wie beim Turmbau zu Babel, wo jeder seine eigene Sprache hatte. Dort wird es wohl deshalb gewesen sein, weil viele ausländische Arbeitskräfte angereist waren.
Hoffentlich werden sie meine Währung akzeptieren, dachtest du. Du brauchtest ja einen Schlafplatz. Du sahst dich um. Seltsam, dachtest du, kein Hotel, keine Pension. Es muss doch Bedarf an Übernachtungsmöglichkeiten herrschen. Was tun denn all die Leute auf der Straße? Es kann ja nicht sein, dass jeder hier einen Wohnsitz hat. Dir fielen auch keine Lokale auf, keine Cafés, keine Bars, keine Restaurants. Keine Geselligkeit, keine Möglichkeit, seinen Durst und seinen Hunger zu stillen. Das konnte doch nicht sein!
Welch seltsame Stadt war das hier? Die Kennzeichen der Autos, Lkws und Motorräder waren auch alle unterschiedlich. Hier war anscheinend niemand heimisch. Gesetzt den Fall, überlegtest du, die Stadt hätte mich bewusst angelockt wie eine fleischfressende Pflanze, wobei ich dann das fleischige Opfer wäre, was hätte sie dann vor? Hinter dem Licht war nur noch Dunkelheit. Hier wirkte die Stadt wie ein riesiges Grab.
Manche Männer, Frauen und Kinder sprachen dich an, in flehendem Ton. Gelegentlich zeigten sie Fotos von ihnen wichtigen Menschen. Auch ohne die Sprachen zu verstehen, war dir klar, dass diese Menschen abgängig waren. So abgängig, dass sie geradezu von der Oberfläche verschwunden waren? Ist gut möglich, dachtest du. Wie soll ich wissen, wo jemand ist, überlegtest du, ich bin doch fremd hier? Und nicht nur etwas fremd, sondern völlig fremd. Kann man hier überhaupt ein normales Leben führen? Sicherlich nicht leicht, und wenn, wäre es ein low life, ein Leben, das niemand will.
Bin ich seit fünftausendsechshundert Kilometern unterwegs, um hier zu landen?, dachtest du. Nein, ganz bestimmt nicht! Nur, ganz am Anfang, also außen war diese Stadt ja wirklich jene aus Licht und silbrig glänzenden Oberflächen. Die Stadt lud ein, sie zu betreten. Um realistisch zu bleiben, musste man in Betracht ziehen, dass diese Stadt die einzige im Umkreis von zirka tausend Kilometern war. Sehr außergewöhnlich war jedoch, dass diese Stadt weder in einer elektronischen Landkarte noch in einer aus Papier eingetragen war.
Wie hieß sie überhaupt?, dachtest du. Nirgendwo stand ihr Name. Hätte dich jetzt jemand gefragt, wo du bist, was hättest du antworten sollen? Ich bin in der Stadt, die keinen Namen trägt, wäre die korrekte Antwort gewesen.
Hätte der Fragensteller dir nicht geglaubt und hättest du ihm die Koordinaten deines Standortes, dieser Stadt, durchgegeben, was hätte er auf seinem Bildschirm gesehen? Er hätte Wüste gesehen und sonst nichts, nicht einmal eine Oase, nichts außer Wüste. Du überlegtest noch einmal, wie du hier sein konntest, und in dir stieg der Gedanke hoch, dass du möglicherweise gestorben warst, und hier fand dein Leben danach statt, dein Nicht-Leben. Das klang sogar recht plausibel, fandst du. Doch du verspürtest Durst und hattest Hunger, was bedeutete, dass du noch über deinen Körper verfügtest. Also war es wahrscheinlich, dass du noch am Leben warst, am Leben vor dem Tod.
Müde warst du übrigens nicht, du standst wohl unter Adrenalin. Viele der Bewohner dieser Stadt wirkten bedrohlich. Wenn du dich einfach irgendwohin gelegt hättest, hättest du damit rechnen müssen, zumindest ausgeraubt zu werden. Oder jemand hätte dich über den Fluss geschickt, der von deinem Leben zu deinem Tod führte.
Du beschlossest, diese Stadt zu verlassen, und gingst dorthin zurück, wo du annahmst, deinen Geländewagen abgestellt zu haben. Doch die Stadt war zu groß, es waren zu viele Straßen und Plätze. Und dann war da noch etwas: Diese Stadt wirkte, als hätte sie sich verändert, nicht nur an einer Seite gestaucht und an einer anderen verlängert, sondern als wäre sie tatsächlich eine andere geworden. Du setztest dich einfach irgendwo auf den Bürgersteig. Wie geht es weiter?, fragtest du dich, worauf die Antwort war: keine Ahnung.
Du sahst dein Smartphone an. Kein Empfang. Das passt ins Bild, dachtest du. Die Zeitanzeige auf dem Smartphone lief, 16 Uhr, 17 Uhr bis 24 Uhr, dann wieder 1 Uhr und so fort. Auf deiner Armbanduhr überholte der lange immer wieder den kurzen Zeiger.
Johannes Tosin
(Text und Bild)
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