Und immer dann, wenn ich nicht mehr kann und um 03:00 Uhr Früh schweißgebadet aufwache, stelle ich mir vor, was man für das Leben braucht.
Nichts. Wenn man im Hier und Jetzt lebt, dann braucht man absolut nichts. Keine Wohnung, kein Haus, kein Auto, keine Arbeit, kein Geld, keinen Partner, keine Kinder etc. Das klingt vorerst einmal entspannend, ist aber ab dem Zeitpunkt, wo sich das Hier und Jetzt verändert, also Zeit vergeht, scheinbar gar nicht so leicht, wenn man schon einmal die Gelegenheit hatte, andere Menschen beim Warten zu beobachten.
Man kann also durchaus zu Recht die Vermutung anstellen, dass sich beispielsweise Actionfilme deshalb so großer Beliebtheit erfreuen, weil da 90 bis 120 Minuten lang echt so richtig ganz arg nicht nichts passiert, aber warum ist das so? Warum haben so viele Menschen mit nichts ein Problem? Kabarettist*innen würden an dieser Stelle dem Publikum ein wenig Zeit geben, bis die ersten kleinen Grüppchen die Pointe erkennen, und dies mit Gelächter kundtun, das den Rest des Publikums dazu bringt, angestrengter über das bisher Gesagte nachzudenken, und es dadurch ebenfalls die Pointe erkennen lässt, bis jeder Mensch im Saal lacht und den Genuss der Pointe mit enthusiastischem Applaudieren genießt.
Jurymitglieder eines Literaturwettbewerbs hingegen würden sich von dieser Zusatzerklärung der Pointe in ihrem Intellekt verletzt fühlen, dabei sollte die Erklärung doch nur dafür sorgen, dass der Text, so er denn vorgelesen werden sollte, so viele Menschen wie möglich erfreuen kann, und verhindern, dass die Pointe das Potential ihrer Wirkung verfehlt, weil die Vermutung zugrunde liegt, dass sie dem schreibenden Menschen selbst nicht aufgefallen ist. „Pointen, die man erklären muss, erzählt man nicht“, „Die Leute, die die Pointe ohne Erklärung nicht verstanden hätten, verstehen die Erklärung nicht“, und obwohl das jetzt nur zwei Feststellungen sind, habe ich an dieser Stelle schon mit drei Nichten (Mehrzahl von nicht?) ein gerechtfertigtes Problem: „Wenn jetzt ein Schmäh mit Neffen kommt, lese ich den nächsten eingereichten Text.“ BITTE NICHT!!! Ich bin eh schon wieder brav. Zurück zum Thema!
Für drei Minuten Leben braucht man absolut gar nichts. Nicht einmal Luft. Wenn man aber vorhat, länger als drei Minuten zu leben, dann beginnt es schon mit den ersten Schwierigkeiten.
Aus medizinischer Sicht sollte man nach drei Minuten dringend zu atmen beginnen.
Fazit: Alleine um nur länger als drei Minuten leben zu können, muss man schon aktiv etwas dafür tun. Wenn man also absolut konsequent im Hier und Jetzt lebt und überhaupt nicht an die Zukunft denkt, dann ist man nach drei Minuten erstickt. Diese drei Minuten hatte man dafür aber echt so richtig überhaupt keine Sorgen, wobei man sagen muss, dass nach einer Minute ohne zu atmen bereits ein leichtes Unwohlsein auftritt. Das heißt im Endeffekt ist man eine Minute wirklich frei und ab dann beginnt das Leben, einen leicht und in weiterer Folge immer vehementer dazu zu zwingen, sein weiteres Bestehen zu gewährleisten, bis man für das Nichtstun bereits nach drei Minuten mit dem Erstickungstod bestraft wird. Wir können also festhalten, dass drei Minuten in die Zukunft denken und dem daraus folgenden Entschluss, trotz allem Hier und Jetzt, vorausschauend zu atmen, eine sinnvolle Tätigkeit ist, die es beizubehalten gilt, obwohl es uns vom Nichts, das es für das Leben braucht, den ersten, selbst entschiedenen Schritt, entfernt.
Ich fasse also einmal den aktuellen Iststand zusammen: Wir haben in unserem Beispiel die freiwillige Entscheidung getroffen, länger als drei Minuten leben zu wollen, und daher zu atmen. Um angenehm schrittweise feststellen zu können, was man noch für das Leben braucht, stellen wir uns einen Ort vor, an dem es etwa 24 Grad hat.
Aktuell stehen wir also nackt an einem angenehm warmen Ort mit atembarer Luft, atmen und haben keine Sorgen. Wenn wir also davon ausgehen, dass wir uns, bis wir uns die Frage gestellt haben, was man eigentlich fürs Leben wirklich braucht, normal ernährt haben, dann haben wir jetzt drei Tage Zeit, bis wir die nächste zusätzliche Handlung setzen bzw. eben etwas zu trinken organisieren müssen.
Hierfür würde ein einigermaßen sauberer Fluss reichen, in dem man auch ohne weitere Hygienemittel seine Notdurft verrichten könnte.
Jetzt werden mir einige pingelige Menschen mit „Lebensstandard“ kommen, aber dazu vielleicht später mehr.
Wir sind jetzt also nackt bei einem Fluss, haben zu trinken, können unsere Notdurft verrichten und grundsätzlich bräuchten wir aus medizinischer Sicht jetzt durchschnittlich zwei Wochen lang sonst überhaupt nichts mehr. Für zwei Wochen Leben braucht man also nichts außer Luft zum Atmen, einen Fluss und 24 Grad Außentemperatur.
Natürlich ginge das auch in einem Wald bei einem Bach oder einer Quelle, wobei da vielleicht nicht jeder mit der nackten Hand seinen Darmausgang, nach der verrichteten Notdurft, reinigen wollen würde, und dann müsste man ein nicht giftiges Blatt organisieren und dafür müsste man wiederum wissen, welche Blätter nicht giftig sind, und dafür müsste man dann etwas gelernt haben oder ein Nachschlagewerk besitzen und dafür bräuchte man dann Geld und dafür wieder eine Arbeit und damit einen jemand einstellt, auch einen Wohnsitz und ... bleiben wir lieber bei unserem Fluss.
Wir haben also Luft zum Atmen, wir haben zu trinken, einen Ort, um unsere Notdurft rückstandsfrei zu verrichten, und uns ist nicht kalt dank der 24 Grad Außentemperatur.
Wie vorher schon erwähnt, ist es zwar aus medizinischer Sicht zwei Wochen lang möglich, ohne Essen auszukommen, aber jeder, der schon einmal versucht hat, nur einen Tag nichts zu essen, wird mir bestätigen können, dass spätestens nach einem halben Tag die Worte Bequemlichkeit und Entspannung nicht einmal mehr buchstabierbar sind.
So, und ab jetzt wird es kompliziert.
Natürlich kann man, wie eben schon erwähnt, versuchen, im Wald zu überleben, wo die Wahrscheinlichkeit, Essbares zu finden vielleicht höher ist, aber dafür benötigt man eben ein entsprechendes Wissen darüber, was man schon bzw. nicht essen darf.
Natürlich könnte man das einfach ausprobieren, aber da bestünde dann die Möglichkeit, dass man sich vergiftet und stirbt, und zwar deutlich früher als in zwei Wochen, und das wollen wir ja nicht.
Was tun wir also, wenn wir vorhaben, länger als zwei Wochen leben zu wollen? Wir beugen uns der Gesellschaft und suchen uns einen Job. Damit uns auch jemand einstellt, brauchen wir vor allem einmal Kleidung und einen Wohnsitz, und damit wir beides bekommen, brauchen wir Geld. Das klingt zuerst einmal paradox, aber in den allermeisten Fällen haben wir Eltern oder eine andere erzieherische Instanz, die bereits für uns Kleidung besorgt hat und in deren Wohnung wir leben, bis wir alt genug sind, um arbeiten zu gehen und uns genug Geld für eine eigene Wohnung anzusparen. Wenn diese Wohnung dann organisiert ist, löst man sich aus sämtlichen Sicherheitsverankerungen und übernimmt vollkommen die Verantwortung für sein Leben.
Je nach Intelligenz, Sicherheitsbedürfnis und Risikobereitschaft ergibt sich daraus ein tägliches Grundgefühl, an dem man in der Regel sehr gut feststellen kann, ob man in diesem Leben für das eigene Wohlbefinden eher die richtigen oder eher die falschen Entscheidungen getroffen hat. Wenn man mit 24 zum ersten Mal um 3:00 Uhr schweißgebadet aufwacht, als hätte man zwei Stunden Tennis gespielt, und wenn man sich abdeckt, Schüttelfrost hat, als würde man bei minus 15 Grad nach dem Duschen eben nackt und unabgetrocknet im Freien stehen, dann muss man mit seinen wohlüberlegten Lebensentscheidungen irgendwo falsch abgebogen sein, aber wann, wo und warum?
Der Reihe nach:
Ich bin 1989 in Wien geboren. Wir waren nicht reich, aber ich kann mich an keinen einzigen Moment erinnern, an dem wir für alltägliche Dinge kein Geld gehabt hätten.
Ab dem Kindergarten wurde mir regelmäßig die Verantwortung für die Gruppe übertragen, wenn die Kindergartenpädagogin einmal kurz aus dem Raum musste. Ich wusste nicht warum, erfüllte aber die an mich gestellte Erwartungshaltung.
Ab der Volksschule mit musikalischem Schwerpunkt lernte ich Klavierspielen und wurde dort als Ausnahmetalent behandelt, das an jedem Tag der offenen Türe als „… unser kleiner Mozart …“ vorgestellt wurde, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, mich beim Üben sehr verausgabt zu haben. Das sorgte für die eigenartige Situation, dass mich meine Eltern kritisierten, die geübten Stücke viel besser spielen zu können, wenn ich mich mehr anstrengen würde, während alle Menschen außerhalb der elterlichen Wohnung vor Begeisterung zusammenbrachen bei den selben Stücken, in der absolut selben Spielqualität.
Einerseits wusste ich, dass ich mit mehr Einsatz tatsächlich noch besser spielen konnte, andererseits sorgte es für einen äußerst angenehmen, beruhigenden Selbstbewusstseinsschub, zu wissen, dass ich mit vergleichsweise geringem Aufwand in der Welt da draußen bereits Begeisterungsstürme auslösen konnte, obwohl ich es niemals darauf abgesehen hatte. Ich wollte einfach nur ein bisschen Klavierspielen lernen.
In weiterer Folge wurde mir auch in sämtlichen anderen Gegenständen gesagt, dass ich äußerst reif sei für mein Alter, überdurchschnittlich intelligent, aber, in den anderen Gegenständen wurde mein dunkles Geheimnis wohl erkannt, dass ich mein volles Potential immer erst dann ausschöpfen würde, wenn ich mir selbst etwas in den Kopf gesetzt hatte und mit der richtigen Einstellung die Eckpunkte meiner Weltherrschaft eigentlich nur noch organisatorisch zu klären wären. Ich wollte die Welt aber gar nicht beherrschen, sondern einfach nur den Tag mit Dingen verbringen, die mir Spaß machten, in einem von mir selbst bestimmten Ausmaß. Dennoch muss ich zugeben, dass ich es praktisch fand, durch die ewige Kritik meiner Eltern meine tatsächliche Leistungsgrenze zu kennen und gleichzeitig die Gewissheit zu haben, in Notfällen mit ein bisschen mehr Anstrengung, überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen zu können.
All dies setzte sich im Gymnasium fort, mit dem Unterschied, dass ich mich mittlerweile deutlich vehementer traute, die jeweiligen Fächer, deren Inhalte und wie diese unterrichtet wurden, in Frage zu stellen, wodurch sich überraschend viele Vieraugengespräche mit den jeweiligen Lehrkräften ergaben, in denen sich bei empathischer Gesprächsführung meist herausstellte, dass sie meine Kritik teilten, aber nicht schuld am Inhalt und der Art des Unterrichts waren, sondern all das im Lehrplan festgelegt war, dessen Infragestellung bzw. das Äußern von Änderungswünschen in etwa so sinnvoll sei wie das Anschreien von Altglascontainern. Natürlich gäbe es Leute, die das tun würden, aber ein beneidenswertes Leben würden diese Leute nicht führen, und zum ersten Mal in meinem Leben war ich vollkommen bewusst in einer Situation, in der ich erkannte, dass da Leute waren, die grundsätzlich auf die positivst mögliche Art in den Beruf gegangen waren, in dem es darum ging, junge Menschen so sinnvoll wie möglich auf das Leben vorzubereiten, die Verbesserungsmöglichkeiten an dieser Tätigkeit erkannten, diese Verbesserungen einforderten und dadurch so lange, so energieraubende Nachteile erlebten, dass sie junge Leute lieber viel schlechter als möglich ausbildeten, weil sie für alles andere einfach keine Kraft mehr hatten, und das Allertraurigste an dieser Situation war, dass das tatsächlich die realistischste Vorbereitung auf mein Berufsleben war, die man sich vorstellen konnte, aber dazu später mehr.
Ab dieser Erkenntnis informierte ich mich in den jeweiligen Gegenständen nur mehr über für mich interessante Bereiche. Ich wusste also beispielsweise nicht, in welchem Jahr die Glühbirne erfunden wurde, konnte aber erklären, wie sie funktionierte. Leute, die Ersteres konnten und Letzteres nicht, standen in der Regel zwischen „Gut“ und „Sehr gut“, ich stand plötzlich zwischen „Genügend“ und „Nicht Genügend“. Die tragische Ironie an der Situation war, dass meine Noten rapide schlechter wurden, gerade weil ich mich sinnvoll mit den Inhalten beschäftigen und etwas daraus lernen wollte und mich für die Themen und nicht für die jeweiligen Prüfungen interessierte.
Lukas Lachnit
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