Die Schaufensterpuppe  

„Meine liebe Schaufensterpuppe, es hat sich viel ereignet, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. In der Fabrik wollte man uns gleich lange arbeiten lassen für weniger Lohn oder uns zur Kurzarbeit zwingen. Wir beschlossen, uns das nicht gefallen zu lassen. Wir streikten. Es sollte ein unbefristeter Streik werden, bis wir wieder zu gleichen Bedingungen weiterarbeiten könnten. Doch unter uns waren Streikbrecher. Sie arrangierten sich mit dem Vorstand, schlugen für sich selbst günstige Bedingungen heraus und nahmen die Arbeit wieder auf. Dabei kam heraus, dass man die Maschinen auch mit weniger Belegschaft bedienen konnte, und viele von uns wurden entlassen, darunter auch ich.
Es ist heutzutage schwierig, Arbeit zu finden, also musste ich in ein anderes Bundesland gehen. Ich lebte in einem schäbigen Zimmer in einem heruntergekommenen Hotel, mit Klo am Gang. Dir würde das ja nichts machen, denn du musst ja nicht aufs Klo gehen, aber ich bin doch etwas mehr Komfort gewohnt. Doch auch an diesem Arbeitsplatz ging es schief, sie kündigten mich, ich kam zurück in diese Stadt und stehe nun auf der Straße, schlafen kann ich zum Glück im Obdachlosenasyl.“

Der Mann stand in dem schicken Sisley-Geschäft und unterhielt sich mit der Schaufensterpuppe, die ein sommerliches Minikleid mit Blumenmuster trug. Die Verkäuferinnen beachteten ihn nicht. In einer Plastiktüte transportierte er eine angebrochene Rumflasche. Die Schaufensterpuppe roch seinen schlechten Atem nicht. Sie sah vornehm drein, betont desinteressiert. Seit der Mann sie einmal nicht mit Kleidung behängt gesehen hatte, hatte er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Wie perfekt sie aussah! Mit großen, natürlich geformten Brüsten, langen Beinen, etwas Bauch und einem apfelförmigen Gesäß. Und dieses Gesicht! Braune Haare, große Augen und einen knallroten Kussmund. Schöner als jede Filmschauspielerin. Immer wenn er in seiner Heimatstadt war, besuchte er die Schaufensterpuppe und erzählte ihr seine Geschichten.

„Meine liebe Schaufensterpuppe, die Situation ist brenzlig geworden. Ich hatte schon lange nichts mehr gegessen und keine Zigaretten mehr, da sah ich ein offen stehendes Haus, das am Waldrand lag und nur einen direkten Nachbarn hatte. Ich ging in dieses Haus und suchte nach Bargeld, Schmuck, allem, was sich verwerten ließe, da ging die Alarmanlage los. Ich flüchtete, ging Wanderwege im Wald entlang. Doch Polizisten griffen mich auf und buchteten mich ein. Ich wurde sechs Monate weggesperrt und mir ging es nicht gut im Knast, kann ich dir sagen.“

Dem Mann kam es vor, als blinzelte ihn die Schaufensterpuppe an, obwohl sie natürlich in Wirklichkeit keine Miene verzog, das konnte sie nicht, sie war ja eine Schaufensterpuppe. Der Herbst ging gerade zur Neige und die Schaufensterpuppe trug einen Strickpullover und Designer-Jeans, darüber einen pelzbesetzten Wintermantel. „Mach dir nichts draus, es werden schon wieder bessere Zeiten kommen“, schien sie zu sagen, was sie natürlich in Wirklichkeit nicht tat, sie war schließlich eine Schaufensterpuppe.

Das nächste Mal, als der Mann das Geschäft betrat, war er gut gekleidet und roch nach Aftershave. „Meine liebe Schaufensterpuppe, es ist etwas unerwartet Erfreuliches passiert: Eine Tante von mir ist verstorben und hat mir ein Sparbuch hinterlassen.“ Der Mann sah die Schaufensterpuppe an, die die Frühjahrskollektion trug, ein tailliertes Jäckchen über einer violetten Bluse und einen Rock, der knapp über ihre schmalen Knie fiel. Eine andere nicht bekleidete Schaufensterpuppe war neben ihr aufgestellt. In dem Geschäft gab es nicht so viel Kleidung. Die Verkäuferinnen schienen nicht zu wissen, was sie der anderen Schaufensterpuppe anziehen sollten. So wandte sich der Mann an eine der Verkäuferinnen und fragte, ob sie ihm seine Schaufensterpuppe zu einem guten Preis überlassen würde. Die Verkäuferin fragte die Filialleiterin, diese sagte zu und verkaufte ihm die Schaufensterpuppe zu einem sogar günstigen Preis, da sie doch schon ein älteres Modell war.

Glücklich trug der Mann die Schaufensterpuppe in sein neues Zuhause. Er platzierte sie auf der Wohnzimmercouch, zog ihr Tagesgewand an und ein Nachthemd, wenn er schlafen ging, stets etwas anderes. Er erzählte ihr seine Geschichten und sie hörte immer aufmerksam zu.

Die Schaufensterpuppe im Kleid mit großen silbernen Pailletten im blauen Bogenschaufenster

Die Schaufensterpuppe im Kleid mit großen silbernen Pailletten im blauen Bogenschaufenster

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 23027

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