Vor einiger Zeit habe ich meine Jugend weggepackt, in eine Plastikbox von IKEA. Aus der alten Kommode und den Kästen holte ich meine Tagebücher und Kalender, mein Fotoalbum aus der Schulzeit und unzählige Konzertbänder. Auch einige während einer gewagten Mutprobe geklaute Mercedessterne befanden sich darunter. Deckel drauf und auf den elterlichen Dachboden damit.
Heute habe ich die Kiste in einem Anflug von Sentimentalität herabgeholt und geöffnet.
Mein Kalender offenbart die erste unglückliche Liebe. Ich blättere ihn durch und stoße auf eine genaue Dokumentation meiner schwankenden Gefühlslagen.
Es gibt Tage mit roten Herzen und Tage mit schwarzer Schrift, deren Zeilen gefüllt sind mit Texten von Nirvana, Cheap Sex und Pearl Jam - ein bisschen Herzschmerz und ganz viel Hass. So, wie sich ein Teenagerleben eben anfühlt.
Zwischen diesen Tagen sind Zitate von Gandhi, Martin Luther King und Marilyn Monroe angeführt und dick unterstrichen - begründet auf halbseidenem Wissen über diese Menschen und dem ewigen Suchen nach Vorbildern, die den Eltern möglichst wenig gleichen sollen.
Ich schaue auf diese Zeit mit Wehmut und einem mitleidigen Lächeln zurück. Es ist das dümmliche Lächeln einer jungen erwachsenen Frau, die ihre Erinnerungen an die damalige Zerrissenheit der Seele mit romantischen Schwärmereien überspielt.
Doch ahne ich die Schatten und die tiefen Abgründe, auch wenn sie in meinem Gedächtnis nur verschwommen sichtbar werden. Ich sehe auf diesen Seiten unendliche Verzweiflung und Tiefe, aber auch Oberflächlichkeit und Ignoranz.
Damals. So bittersüß dieses Wort. Ich seufze unwillkürlich und ärgere mich über meine unglaublich klischeehafte Reaktion.
Kaum zu glauben, dass es gerade mal sieben, acht Jahre her sein soll. Es fühlt sich an, als hätte das Leben seit damals Generationen übersprungen bis zu diesem Zeitpunkt, an dem ich mich nun befinde.
Ich kann mich nicht mehr verstehen, ich erkenne mich auch nicht wieder in den E-Mail- Auszügen oder Gedankengängen des Tagebuchs. Es ist alles zu weit weg – heute habe ich meine Anflüge von Kleptomanie in Bezug auf Mercedessterne und auch die an Bipolarität grenzenden Phasen überwunden - ich bin mir fremd geworden.
Plötzlich stocke ich bei einer Seite des Kalenders, lese noch einmal und lache auf. Ich reiße die Seite heraus und lege sie neben die Box. Dann ordne ich alles ein und räume die Schachtel zurück auf den Dachboden.
Die herausgerissene Seite scanne ich ein und poste sie meiner ehemals besten Freundin auf die digitale Facebook Pinnwand. Binnen Sekunden wird sie geliked und kommentiert.
Das Original hängt an meiner Kühlschranktür. Jedes Mal, wenn ich vorbei gehe, muss ich lächeln.
In blauer Schulmädchenschrift meiner besten Freundin steht, unter der Angabe einer Buchseite und der Nummer 4c (vermutlich eine verhasste Mathematikhausübung), eines der berühmten Lieblingszitate unseres liebenswürdigen, aber chaotischen und ältlichen Lateinlehrers mit Halbglatze geschrieben: „Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus!“
Und mein jüngeres Ich schrieb wohlwollend darunter: „Yo, bitch! Let’s do that!“
Nene Stark
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 14059