Nach langer Zeit besuche ich wieder meine alte Freundin Gerti. Sie ist mehrmals umgezogen, seit wir uns das letzte Mal sahen. „Schön, dass du hier bist, Christa“, sagt sie zur Begrüßung. Sie wirkt kaum gealtert. Während wir Kaffee trinken und Cremeschnitte essen, kommen wir auf das Thema Suizid. Ich weiß nicht, wer von uns es angesprochen hat. „Für mich ist das kein gangbarer Weg“, sage ich. „Du hast ja auch einen netten Mann, wohlgeratene Kinder und genug Geld. Warst du denn jemals in einer Notsituation?“, fragt sie. „Manche kleine Katastrophen machte ich schon mit“, erwidere ich. „Aber du bist immer durchgetaucht, und als du Luft geholt hast, war das meiste wieder gut. Bei mir sieht es anders aus“, erzählt sie. „Das erste Mal versuchte ich, durch Schlaftabletten mein Leben zu verlassen. Das klappte aber nicht.“ „Und?“, frage ich. „Das zweite Mal sprang ich aus dem 11. Stock des Rothauer Hochhauses.“ „Ja?“, frage ich. „Es hat funktioniert“, sagt Gerti. Sie lächelt.
Nun beginnt der Raum sich zu drehen. Zuerst verschwinden kleine Dinge, dann Möbel und zum Schluss meine Freundin Gerti.
Johannes Tosin
(Text und Bild)
www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23089