Die Kätzin

Sie ist. Und sie ist immer noch. Sie lebt. Und sie lebt immer noch. Jene grau-schwarze Tigerkätzin mit den smaragdgrünen Augen, die keinen Namen hat. Keinen Namen und keine Identität. Und keinen Herrn. Niemand beschützt sie. Niemand gibt ihr ein Zuhause. Sie ist allein. Allein. Eine Einzelgängerin.

Junge hat die Kätzin nie gehabt. Niemals. Wozu auch? Nachwuchs unerwünscht. Doch ihr fehlt er nicht. Was man nicht kennt, so sagt man, vermisst man auch nicht. Alte Binsenweisheit. Warum aber schnurrt sie laut, wenn sie nur in die Nähe von Katzenwelpen kommt?

Man sagt, Katzen können ihr Spiegelbild nicht erkennen. Es bleibt zu hoffen, dass dies die Kätzin auch weiß. Das Leben hat sie gezeichnet. Ihr Fell ist stumpf und Parasiten quälen sie. In jungen Jahren war sie ein hübsches Tier. Ein wenig kokett, wie es Katzen eben sind. Eitel? Nein. Bestimmt nicht. Nur kokett. Auf charmante Art.

Ihre Vergangenheit ist nicht wichtig. Sie würde auch keinen interessieren. Doch für sich selbst scheint sie manchmal über Vergangenes zu sinnieren. Dann hockt sie in einer Ecke, macht sich klein und starrt ins Nichts. Es ist, als würde sie nach innen schauen. Weggetreten sein. Der Wirklichkeit entrückt sein. Was mag es wohl denken, das Tier? In jenen Stunden, in denen es seine Umgebung nicht mehr wahrnimmt? Man kann nur hoffen, dass es der Gedankenflut Einhalt gebieten kann, die ihm das Hier und Jetzt stiehlt.

Drei Beine. Eines fehlt. Das rechte, hintere. Wie die Kätzin es verloren hat? Leider gibt es niemanden, der Zeugnis ablegen könnte. Vielleicht durch einen Unfall. Vielleicht hat sie mal jemandem gehört. Vor langer Zeit. Vielleicht ist sie deswegen herrenlos. Rausgeschmissen. Unbrauchbar. Unansehnlich. Mit einem solchen Tier ist kein Staat zu machen.

Die Kätzin ist auf Mitleid angewiesen. Sie kann nie wieder unabhängig sein. Sie ist nicht fähig, sich selbst zu versorgen. Wie soll das auch gehen, mit drei Beinen? Doch man ist gütig. Da ein Happen, dort ein paar Bissen. Katzen dauern Menschen. Nicht alle, versteht sich. Aber doch so viele, dass ein Überleben möglich ist. Trotzdem kennt sie Hunger. Sie ist immer hungrig und weiß nicht, was diesen Hunger stillen könnte. Vielleicht gilt ihre Gier den Jahren, die sie sich selbst gestohlen hat. Wer mit sich selbst kämpft, kann nur verlieren. Ob so. Oder so. Am Ende des Tages bleibt die Selbstverleugnung. Sich abzufinden ohne zu resignieren, wie schwer ist das zu bewerkstelligen. Manchmal ist Resignation ein Selbstschutz. Doch meistens stellt sich die Kätzin dem Überlebenskampf – dem äußeren und auch dem inneren. Und ein Tier kann letztendlich nicht weinen.

Herrenlos. Eine streunende, alternde Kätzin. Eine, die das Alleinsein sucht. Es gewohnt ist. Einsamkeit kann auch schützen. Sie kann fast ein Freund sein. Fast. Nur manchmal, da sitzt die Kätzin vor der Tür aus Glas und schaut begehrlich in die Stube. Wärme. Geborgenheit. Frieden. Liebe? Doch die Türe bleibt zu. Ja, es fällt gar nicht auf, dass ein Lebewesen davorsitzt. Wenn es nämlich Schritte hört, huscht es davon. Wie gesagt, nicht alle Menschen sind Katzen wohlgesonnen. Und die Kätzin ist zu alt und zu feige, um sich auf Experimente einzulassen. Sie könnte nicht schnell genug fliehen mit ihren drei Beinen. So ist die Angst ihr ständiger Begleiter. Eine diffuse Angst. Eine berechtigte Angst? Wer würde es wohl über sich bringen, einer dreibeinigen Katze einen Tritt zu geben?

Die Kätzin hat auch ihre guten Stunden. Dann wächst sie über sich hinaus. Versucht, aufrecht zu gehen. Versucht, Kopf und Schwanz zu heben. Trägt Mut, Erhabenheit und Stolz zur Schau. So lange, bis das Almosen sie wieder daran erinnert, dass es keinen Grund dafür gibt. Wenn es im Bauch rumort, ist es schnell vorbei mit Erhabenheit. Sie nimmt den ihr zugedachten Teil ohne Fauchen entgegen. Frisst schnell, als wolle sie den vollen Teller vernichten. Ob sie „Danke“ sagen würde, wenn sie es könnte? Oder ob sie zu gekränkt ist? Hinsetzen, den Kopf beugen, fressen. Und immer ausbalancieren. Wäre doch eine Schande, vor der gefüllten Schüssel umzufallen.

Ein wirkliches Zuhause hat die Kätzin nicht. Ob sie sich eines wünscht in jenen kalten Nächten, die sie in irgendeinem Keller oder Schuppen oder Verschlag verbringt? Ein weicher Polster, eine alte Kuscheldecke, die niemand mehr braucht. Noch gut genug für ein Tier. Gut genug für die Kätzin. Doch ihre Nächte bleiben kalt. Kein Licht leuchtet für sie in dunklen Stunden. Kein Feuer brennt für sie, um sie sanft mit Wärme zu umarmen.

Manchmal träumt die Kätzin. Dann zucken ihre drei Pfoten unkontrolliert; es ist, als wollten sie im Schlaf davonlaufen. Vielleicht laufen sie in ein besseres Leben. Zumindest im Traum, denn in ihm ist alles möglich. Auch das bessere Leben. Doch das Erwachen ist bitter. Es ist ernüchternd. Die lieblose Umgebung lässt die Kätzin sehr schnell wieder in die Gegenwart zurückfinden.

Silvester ist ein furchtbarer Tag. Es wird geschossen und geknallt, man könnte meinen, der Krieg sei ausgebrochen. Die Kätzin versteht nicht, dass der Lärm zwar unangenehm, aber ungefährlich ist. Für sie geht es um ihr Leben. Soll sie davonlaufen? Die Erfahrung zeigt, dass der Krach überall gleich ist. Soll sie sich verstecken? Und sich im Verschlag zu Tode fürchten? Verstecken scheint ihr die bessere Lösung zu sein. Das neue Jahr beginnt, wie das alte geendet hat, nämlich in Angst. Doch sie überlebt. Und niemand streichelt sie oder sagt ihr ein tröstliches Wort, damit sie sich beruhigt.

Ob sie sich überhaupt streicheln lassen würde? Nein. Bis auf eine Ausnahme. Eine alte Frau, die sie manchmal füttert, darf sie angreifen. Aber nur am Rücken. Nicht dort, wo normalerweise das rechte hintere Bein wäre. Das Privileg, ihre Wunde zu streicheln, besitzt niemand. Vielleicht befürchtet sie, dass die Berührung wehtäte. Nach all der Zeit noch wehtäte. Es gibt Wunden, die heilen nie so richtig. Doch man lernt, mit ihnen zu leben. Sie zu integrieren. Denn ein bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen reicht nicht. Wunden können penetrant sein. Viel Aufmerksamkeit fordern. Es hat lange gedauert, bis die alte Frau die Kätzin streicheln durfte. Sehr lange. Hunger ist die eine Sache. Vertrauen eine ganz andere. Aber es kommt sogar vor, dass die Kätzin ihren Kopf an den Beinen der alten Frau reibt. Dass sie schnurrt. Und das menschliche Geschöpf erfreut sich am tierischen. Ob es umgekehrt auch so ist?

Immer wieder kommt es vor, dass die Kätzin krank ist. Dass sie erbricht. Und dass ihr übel ist. Doch wie eine Tierarztpraxis von innen aussieht, das weiß sie längst nicht mehr. Nach Katzenart verkriecht sie sich. Leidet stumm vor sich hin. Eine Katze, die niemandem gehört, kann sich das Kranksein nicht leisten. Das Wildtier in ihr rät zum Rückzug. Es kann und darf nach außen nicht zugeben, dass es zeitweise am Ende ist. Ist es angeschlagen, kann dies lebensbedrohend sein. So wartet die Kätzin, bis die Körperlichkeit wieder intakt ist. Bis sie ihr Versteck wieder verlassen kann. Freilich, die alte Frau vermisst sie. Doch die alte Frau ist auch klug genug, um zu wissen, dass Krankheit und Tod ständige Begleiter sind. Sie weiß, dass die Kätzin eines Tages überhaupt nicht mehr kommen wird. Dass sie irgendwo ihr Ende empfangen wird. Sie wird sich nicht wehren. Dafür ist sie zu lebenssatt.

Bei dieser Gelegenheit – was weiß eine Katze von Gott? Sie fristet ihr Dasein und nimmt klaglos auf sich, was Er ihr zumutet. Es gibt kein Entrinnen. Tiere sind gottergeben. Sie gehorchen ihrem Schöpfer und unterwerfen sich Ihm. Ohne Fragen. Denn Fragen stellt nur der Mensch. Und wäre die Kätzin ein Mensch, würde sie sicher fragen: Warum ich? Warum muss ich so leiden? Und sie würde erfahren, dass der Himmel stumm bleibt. Dass Er nicht geneigt ist, Antworten zu geben. Seine Wege sind schließlich unergründlich. Und nur der Mensch begehrt ein Wissen, das für ihn nicht bestimmt ist. Was dem Menschen nicht bewusst ist – ob es das für ein Tier ist? Woher kommt seine Gottergebenheit? Vielleicht rührt sie daher, dass ein Tier nicht über sich selbst nachdenken kann? Oder kann es dies doch? Und wir Menschen sprechen ihm diese Fähigkeit einfach ab? Vielleicht sieht es ein, dass jede Schlacht einmal geschlagen ist. Dass es nichts bringt, der Vergangenheit nachzuweinen. Dass die Lebensenergie für das Hier und Jetzt verwendet werden sollte.

Die Kätzin ist alt. Versehrt. Aber sie ist. Und sie ist immer noch. Sie lebt. Und sie lebt immer noch. Sie kann alleine stehen, trotz der fehlenden Pfote. Ihre Augen sind unergründlich. Weisheit tut weh. Nein. Nicht die Weisheit tut weh. Aber all die Erfahrungen, die zur Weisheit führten. Die Kätzin kann über ihre Erfahrungen nicht berichten. Doch ihre Augen spiegeln sie wider. Und wieder …

Luise Fötsch

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 23114

 

 

 

 

 

 

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Ein Gedanke zu „Die Kätzin

  1. Mag. Robert Müller

    Aus: „Der verborgene Schatz“ von Gianluca Magi:

    Ein großer Sufi starb. Kurz nach seinem Tod erschien er einem Freund im Traum. Dieser fragte ihn, wie Gott ihn denn aufgenommen habe. (…)

    Schließlich sagte Gott zu mir:
    „Erinnerst du dich an den einen Tag vor langer Zeit, als eine eisige Nacht alle Straßen deines Dorfes mit Schnee überzog? Damals begegnete dir auf der Straße eine Katze, die jämmerlich frierend von Haus zu Haus lief, um sich vor der Kälte zu schützen. Als du ihrer ansichtig wurdest, ergriff dich das Mitleid. Du hast sie vom Boden aufgehoben und unter deinen Mantel gesteckt. So hast du sie vor der Kälte beschützt. Dies war der Grund, weshalb ich dir verziehen habe: dein Erbarmen gegenüber dieser Katze!“

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