Und Phora wuchs

Olga wurde von einem feuchten, klatschenden Geräusch geweckt. Sie befand sich noch halb in ihrem Traum, war in ihrer alten Volksschule und hielt einen Vortrag über Wildkräuter. Fast 60 Jahre war sie nicht mehr dort gewesen, doch das Klassenzimmer weckte immer noch mulmige Gefühle in ihr.

Verwirrt und aus dem Zusammenhang gerissen, richtete sie sich im Bett auf. Dem schwachen grauen Licht zufolge war es gerade erst Morgen geworden. Abwesend wischte sie über die feuchte, klebrige Stelle neben ihrem Mund.

Warum war sie nochmal wach?

Das Einzige, das sie mit Sicherheit wusste, war, dass sie jetzt noch schlafen sollte. Und wollte. Sie war schon dabei, sich wieder zurückzulegen, als sie ein klatschendes Geräusch, gepaart mit einem dumpfen Schlag, erneut zusammenzucken ließ. Olga konnte gerade noch sehen, wie ein schlammiger Brocken Erde von ihrem Fenster herabrutschte. Mit einem Mal war sie hellwach und die feindseligen Mienen ihrer Mitschüler verblassten vor ihrem Auge.

Ehe sie hinausstürmte, schlüpfte sie hektisch in ihre Pantoffeln. Die morgendliche Luft war kühl und mit Nebelschwaden durchzogen, die ihr kleine Wassertröpfchen ins Gesicht drückten. Die letzten 20 Jahre hatten sie morgens Vogelgezwitscher und der Geruch von moosigen Bäumen empfangen. Seit 37 Wochen roch sie als Erstes Benzin und Abgase. Gleich danach erreichten die Ausdünstungen des Mobilklos ihre Nase, das 3,5 Meter von ihrem Haus entfernt stand – exakt 3,5 Meter, weil das Gericht bestimmt hatte, dass es nicht näher sein durfte.

«Sie überschreiten meine Intimsphäre!», brüllte Olga quer über die Baustelle. Die Arbeiter waren unbeeindruckt. Mittlerweile waren sie ihr Gebrüll genauso gewohnt wie ihren Anblick in dem verwaschenen, knielangen Nachthemd.

«Wir halten den Mindestabstand ein. Wie immer», rief der Vorarbeiter mit einer Zigarette im Mundwinkel über die plattgewalzte Wiese. Es war offensichtlich, dass er sich dabei ein Grinsen verkniff.

Dieser Mistkerl.

Als ob es in ihrem Leben nicht schon genug Leute gegeben hatte, die sich ihr gegenüber ein Grinsen verkniffen hätten. Wutentbrannt stapfte sie durch den Schlamm zu ihrem Schlafzimmerfenster. Anklagend zeigte sie auf das Glas, auf dem die Erdklumpen klebten.

«Das muss wohl beim Ausheben passiert sein», erklärte der Vorarbeiter mit einem derartigen Unschuldston in der Stimme, dass es nur Absicht gewesen sein konnte. «Sie können uns nicht dafür verantwortlich machen, was eine Maschine anstellt.» Unterdrücktes Gelächter war von den anderen Arbeitern zu vernehmen.

«Sie werden das reinigen!» Olga stieß jedes Wort mit giftiger Kälte hervor.

«Werte Dame», der Vorarbeiter ging ein paar Schritte auf sie zu, die Zigarette locker in der Hand. «Jetzt hören Sie doch endlich auf, sich so zu wehren. Das ist nun mal der Lauf der Dinge.»

Er drehte ihr den Rücken zu, drehte ihr einfach den Rücken zu, als ob er fertig mit ihr wäre, und ignorierte ihr Gezeter. Die anderen Arbeiter lachten noch, während sie weiter ihrer mörderischen Arbeit nachgingen, um den Wald zu zerstören. Olgas Hals fühlte sich rau an. Sie hatte zu zittern begonnen, doch nicht, wie sie anfangs angenommen hatte, aus Wut, sondern weil die Kälte durch ihr dünnes Nachthemd gekrochen war.

Sie warf einen erbosten Blick auf das verdreckte Fenster. Nein, sie würde das nicht wegputzen. Olga würde das den Anwälten zeigen, wenn sie das nächste Mal hier auftauchten. Als sie schon dabei war, sich wieder abzuwenden, um zurück ins Haus zu gehen und ihre schmerzenden Gelenke aufzuwärmen, erkannte sie etwas in dem bereits trocken werdenden Schlamm. Etwas Zartes, Zerbrechliches. Hilfloses. Eine Pflanze, komplett mit Wurzeln und kleinen grünen Sprossen.

«Diese Barbaren», zischte Olga, als sie das halb zerdrückte Gewächs vorsichtig mit beiden Händen aufklaubte. Ihre Pantoffeln machten schmatzende Geräusche im Schlamm, als sie zurück zur Haustür stapfte.

Sie setzte die Pflanze in ein kleines Gefäß und drückte zärtlich die frische Erde fest. Andere hätten sie übersehen, doch Olga hatte ein Auge für Lebewesen, waren sie auch noch so klein und unscheinbar. Dieses schien es ihr bereits zu danken, die ovalen Blätter ließen sich schon nicht mehr hängen, der dünne Stängel richtete sich wieder auf. Sie betrachtete ihr Werk wohlwollend, während sie den Schlamm von ihren Pantoffeln klopfte.

Das Vibrieren und Poltern der Maschinen endete erst am Abend. Sie nutzten das Sonnenlicht, so lange sie konnten, wollten so viel wie möglich zerstört haben, ehe das endgültige Gerichtsurteil gefällt werden würde.

«Stadtstraße, pah!», murmelte Olga, als sie sich mit ihrem allabendlichen Kräutertee zu der kleinen Pflanze an den Tisch setzte. Die Feuchtigkeit kroch durch die Wände in ihre Hüfte und Knie. Es bereitete ihr Sorgen, jedes Jahr mehr. Nicht, weil sie noch vorgehabt hätte, einen Marathon zu laufen, doch es fiel ihr zunehmend schwerer, sich um ihre Kräuter und Blumen, ihre Salate und Sträucher zu kümmern. Ihre Sorgen bekamen einen bitteren Geschmack, als ihr bewusst wurde, dass ihr Garten vermutlich nicht mehr lange überleben würde, genauso wie ihr kleines Häuschen. Mit grimmiger Sturheit hatte sie sich am Optimismus festgeklammert, hatte sich nicht eingestehen wollen, was unausweichlich war. Nur abends, wenn sie hörte, dass die Bauarbeiter abzogen und ihre stählernen Zerstörungsmonster abkühlten, konnte sie die Fassade nicht mehr aufrechterhalten. Der Dampf ihres Kräutertees vermischte sich mit ihren Tränen.

«Stadtstraße, pah!», rief sie erneut und donnerte die Tasse so heftig auf den zerfurchten Holztisch, dass die Blätter der kleinen Pflanze zitterten. «Das wird eine Autobahn, aber damit können Politiker nicht hausieren gehen.»

Pflanzen wuchsen besser, wenn man mit ihnen redete, da war sich Olga sicher, und dieses kleine Exemplar brauchte gerade jede Hilfe, um nicht einzugehen. Außerdem bekämpfte das ihre Einsamkeit. Zuerst waren ihre Nachbarn verschwunden, einer nach dem anderen. Vor drei Wochen waren dann auch die Reporter abgezogen. Das Thema hatte ihre Leser gelangweilt. Ein paar Bäume mehr gefällt, ein paar Wiesen mehr niedergewalzt – was machte das schon für einen Unterschied? Immerhin mussten die Autos ja irgendwo fahren. Wen kümmerte das schon?

«Mich kümmert es», flüsterte Olga und sie meinte, die Blätter der Pflanze erneut zittern zu sehen.

Als sie am nächsten Morgen das Wohnzimmer betrat, geisterte ihr ein Satz im Kopf herum, den die Bauarbeiter immer wieder von sich gaben: «Völlig durchgeknallt, die Alte.»

Die Pflanze war in die Höhe geschossen, gute 30 cm. Die kleinen, zerdrückten Blätter hatten sich nicht nur erholt, sondern vermehrt und waren handtellergroß angewachsen. Blütenknospen hatten sich gebildet. Noch bevor sie sich einen Kaffee machte, noch bevor sie auf die Toilette ging, begann sie in ihrem dicken Botanikbuch zu blättern.

Nichts.

Die Pflanze hatte entfernte Ähnlichkeit mit Heliamphora tatei, einem Schlauchpflanzengewächs aus Südamerika. Allerdings passten die Blüten nicht, die erinnerten eher an eine Orchidee.

«Hmmpf», machte Olga. Im Grunde konnte es ihr egal sein. Der Pflanze ging es gut, sie gedieh. Und das nur, weil sie sich hier wohl fühlte. Ein Gefühl, an das sie sich kaum noch erinnern konnte, schoss durch ihre alten Knochen. Hoffnung. Vielleicht war das der Ausweg aus diesem Albtraum. Wenn das ein seltenes Gewächs war, könnte hier alles zum Naturschutzgebiet erklärt werden und sie wäre gerettet.

«Ich werde dich Phora nennen, selbst wenn du keine Heliamphora bist, in Ordnung?»

Die Blätter der Pflanzen zitterten, wie um ihr zu zustimmen. Aber vielleicht lag es auch an den Baumaschinen, die vor ihrer Haustür gerade aus dem Schlaf erwachten und den Boden zum Beben brachten.

Eine Woche später ragte Phora schon bis zu Olgas Stirn.

«Sie glauben mir nicht, pah!», erzählte sie der Pflanze, als sie spätnachmittags nach Hause kam. «Sie denken, ich hätte dich von irgendeinem Exotenhändler!»

Die zwei größten Kelche in Phoras Mitte bewegten sich hin und her, wie um Olga zuzustimmen und gleichzeitig den Kopf zu schütteln, über die Verkommenheit dieser Welt. Die alte Frau verstand die Sprache, weil sie sich mittlerweile schon mehrere Stunden am Tag unterhielten. Olga besprühte die Blätter mit Wasser und streichelte zärtlich ihren Strunk, der so dick wie ein Oberarm war. Eine fette Fliege flog brummend in einen von Phoras Kelchen und verschwand in den burgunderroten Tiefen. Das Brummen endete abrupt.

Es war drei Uhr morgens, als Olga von einem Klirren geweckt wurde. Es hatte immer öfter Vandalenakte an ihrem Haus gegeben. Ihr Kräuterbeet war zertrampelt worden, einer ihrer Holundersträucher herausgerissen. Das hatte ihr Herz stärker bluten lassen als die beschmierten Hauswände und die Fäkalien auf ihrer Türmatte. Es dauerte ihnen schon zu lange. Die abschätzigen Witze über die verrückte Alte waren unverhohlenem Hass gewichen. Der Geruch des flüssigen Betons näherte sich nun immer mehr ihrem Häuschen und verdrängte den Duft von grünen Blättern und Moos. Es war, als ob der Sauerstoff von hier verschwand.

Sie dachte, das Klirren stammte von einem zerbrochenen Fenster, aber es war nur Phora. Sie hatte den Topf gesprengt. Den größten, den Olga hatte auftreiben können. Die Wurzeln schienen sich zu bewegen, als ob sie sich strecken wollten, nach der langen Zeit des Eingesperrtseins. Vor ein paar Wochen hätte ein solcher Anblick Olga in Panik versetzt, sie an ihrem Verstand zweifeln lassen. Doch Phoras Bewegungen und rasantes Wachstum waren mittlerweile zur Konstanten im Leben der alten Frau geworden. Das Einzige, was ihr in diesem trostlosen Dasein keine Angst oder Sorge bereitete. Sie überlegte nur für einen Moment, dann zerrte sie die großen Säcke mit Erde aus der Kammer, schnitt sie auf und verteilte sie auf den Wohnzimmerboden.

Eine Woche später hatte sich Phora im ganzen Haus ausgebreitet. Olga hatte sich anfangs noch bemüht, überall Erde zu verstreuen – selbst auf den Fliesen im Badezimmer. Doch ihre Pflanze schien das gar nicht zu benötigen. Ihre Wurzeln waren hölzern und kräftig, einige ihre Kegel reichten mittlerweile bis zur Zimmerdecke, andere nur bis zu Olgas Hüfte oder Waden. Ihre Wände waren dick und innen klebrig feucht. Insekten waren Phora nicht mehr genug, sie bekam seit ein paar Tagen zusätzliche Nährstoffe von ihrer menschlichen Mitbewohnerin. Kartoffeln, Nüsse, Karotten, Fleisch – was auch immer zur Hand war, verschwand in den dankbaren Kelchen. Und Phora wuchs.
Die Fenster waren mit Zeitungspapier abgedeckt, weil die Vorhänge zerschlissen waren und Olga die bösartigen Gesichter nicht mehr ertrug. Die Politiker und Anwälte waren gekommen, ihr herablassender Ton war Drohungen gewichen. Bald würden sie sie ins Irrenhaus schleppen und das Haus niederwalzen. Eine Frau, die mit einer Pflanze auf Erdreich lebte, war nicht zurechnungsfähig. So eine Frau dürfte sich nicht mehr dem Fortschritt in den Weg stellen.

Abends duckte sich Olga unter Phoras Ranken durch, um in ihr Bett kriechen zu können. Wenn dann die Tränen über ihre vertrockneten Wangen glitten, spürte sie schon, wie sich die Kelche ihrer Pflanze unter die Bettdecke schoben. Wie sie tröstend über ihre Haut strichen, wie sie sich vorsichtig an ihrem Körper festsaugten. An ihrem Hals, ihren Brüsten, zwischen ihren Schenkeln. Olga streichelte die Kelche zärtlich und wusste, dass sie einen Menschen nie so geliebt hatte wie diese Pflanze.

Sie kamen an einem warmen Sommermorgen. Die alte Frau kannte die Geräusche der Bauarbeiter und ihrer mörderischen Maschinen. Doch diesmal klang es anders. Automotoren, entfernte Sirenen. Angsterfüllt zog sie sich an und wartete. Ihr fiel nichts anderes ein. Sie setzte sich auf Phoras Wurzeln, denn für Sessel oder einen Tisch war in dem Haus schon länger kein Platz mehr. Unter sich spürte sie das Beben und Zittern, das durch jede Faser ihrer Pflanze drängte. Keine Angst, nein. Es war Wut. Olga streichelte über die Wurzeln, die Ranken und Blätter und Kelche. Mehr, um sich selbst zu beruhigen als ihre Freundin. Ihr Herz blieb fast stehen, als der Ton der Türklingel durch das Haus schepperte. Ein eiskalter Klumpen bildete sich in ihrem Magen und drohte, sie immer weiter hinabzuziehen, bei jedem mühevollen Schritt zur Eingangstüre.

Die zwei Männer im Anzug sahen einschüchternder aus als die vier in Uniform. Einer der Anzugmänner öffnete den Mund, um etwas mit grimmiger Miene zu verkünden. Da schoss einer von Phoras Kelchen vor und umschloss sein Gesicht mit einem schmatzenden Geräusch. Ein dumpfer Schrei kämpfte sich dahinter hervor. Die anderen Männer schreckten instinktiv zurück, doch ihre Gehirne schienen nicht verarbeiten zu können, was ihre Augen sahen. Bevor sie handeln konnten – nach Hilfe rufen oder schlicht wegrennen –, fegten weitere Kelche an Olga vorbei und saugten sich an den Männern fest. Alle sanken zu Boden, wie leblose Puppen, ihre hilflosen Körper waren nur noch zu einzelnen Zuckungen imstande. Fenster zerbarsten, Mauerwerk bröckelte, als sich die Pflanze neue Wege aus dem Haus bahnte. Wurzeln, Ranken und weitere Kelche kümmerten sich um Schaulustige, Arbeiter und Maschinen.

Olga war von einer seltsamen Ruhe erfüllt. Als ob die Geschichte nur so enden konnte, indem ihre Pflanze die Ungerechtigkeit, die der Natur hier widerfahren war, rächte. Weit hinten sah sie den Vorarbeiter in ihre Richtung rennen, verfolgt von einer Ranke.

«Machen Sie was!» Seine Miene war verzerrt vor Angst und Fassungslosigkeit. «Sie müssen was machen!»

«Jetzt hören Sie doch endlich auf, sich so zu wehren», rief Olga ihm zu. «Das ist nun mal der Lauf der Dinge.»

Sie glaubte nicht, dass er sie noch gehört hatte.

C. N. Stance
www.constanzescheib.at/c-n-stance/

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23145

 

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