Zeitreise

Langsam biegt sie in die Einbahnstraße ab, der Verkehr ist enorm und sie hat etwas Mühe, dem Navigationssystem zu folgen. Sie ist froh, dass die Tschechen so geduldige und unaufdringliche Autofahrer sind.

Endlich erreicht sie ihr Hotel im Zentrum von Prag und checkt ein. Die Agentur hat ihr eine nette Unterkunft reserviert, von wo aus sie zu Fuß alle wichtigen Sehenswürdigkeiten erreichen und das Auto in der Tiefgarage parken kann für die nächsten Tage. Sie hat noch genügend Zeit bis zu ihrem Termin nach dem Besuch im Museum Franz Kafka.

Mit einem kleinen Rucksack, vollgepackt mit Notizbüchern, Stiften, der Eintrittskarte fürs Museum und dem vorgefassten Interviewprotokoll verlässt Doris ihr Zimmer. Es weht eine sanfte, warme Brise durch die Straßen und Gassen, sie ist verwundert, dass Anfang Mai so angenehme Temperaturen in der Stadt herrschen. An diesem sonnigen Freitag sind viele Einheimische und Touristen auf den Straßen unterwegs, die Tische der Cafés und Gasthäuser auf den Bürgersteigen sind ausgesprochen dicht besetzt. Die geöffnete Gastronomie ist ein Segen für die Menschen nach den harten Jahren der Pandemie.

Doris holt sich ein Haarband aus der Jackentasche und knotet geschickt ihre brünetten, etwas widerspenstigen Locken zu einem Dutt. Einzelne wirbelnde Strähnen umrahmen ihren ebenmäßigen Teint und umspielen ihre grünblauen Augen. Die freudige Laune der Menschen um sie herum überträgt sich auf Doris und mit einem zarten Lächeln im Gesicht biegt sie einige Male links, dann wieder rechts durch Gassen und Einkaufsstraßen ab. Sie betrachtet die Fassaden der in gotischem oder barockem Baustil erbauten Häuser und die Blumendekorationen vor den Eingängen und Fenstern. Ihre Schritte hallen gedämpft vom abgenutzten Kopfsteinpflaster wider, in manchen farbenprächtigen Gotikfenstern spiegelt sich die Sonne und wirft bunte Farbkleckse an die gegenüberliegenden Hausreihen. Alles scheint ihr sehr vertraut, als wäre sie eine Bürgerin von Prag. Wie kann das sein? Ich bin das erste Mal hier? Kopfschüttelnd geht sie weiter und taucht in das geschäftige Treiben um sie herum ein.

Plötzlich nimmt sie eigentümliche Gerüche wahr – es riecht nach Pferdemist und Pferdeschweiß. Sie sieht sich um, bemerkt aber keine Kutschen in der Nähe, auch eine Pferdestallung kann sie nicht ausmachen in der unmittelbaren Umgebung. Ein leichtes Gefühl von Verwirrung macht sich in ihr breit. Nicht ein einziges Mal muss sie Google Maps auf ihrem Handy bemühen, sie kennt jede Gasse, jeden Platz, die Brunnen, Pulvertürme, Kirchen und kleinen Parks. An der Ecke Zelezna zum historischen Rathaus bleibt sie jäh stehen. Ihr Atem stockt, ist schwer, sie fühlt sich eingeengt im Brust- und Taillenbereich, als wäre sie von einer Zange umklammert. Sie lehnt sich an die Hausmauer und schließt die Augen. Du musst etwas trinken, das ist nur der Kreislauf nach der langen Autofahrt!

Doris überquert den überfüllten alten Rathausplatz und schlängelt sich geschickt durch die engen Gassen auf den Weg zur Karlsbrücke. Das heimelige Rauschen der Moldau unter ihr lässt Bilder in ihrem Kopf entstehen … – vor ihrem inneren Auge sieht sie eine junge Frau mit Sonnenschirm, breitkrempigem Hut und knöchellangem Rüschenkleid vergnügt die Brücke entlanglaufen Richtung Malá Strana …

Sie braucht dringend ein stilles Plätzchen. Sie weiß auch schon wo, nämlich in dem kleinen, abgeschiedenen Innenhof mit den von Efeu überwucherten Mauern und den schattenspendenden Lindenbäumen auf der Kleinseite von Prag, sie schreitet zügig weiter. Ein einziger Tisch ist noch frei vor der Bühne, wo gerade eine Jazzband, bestehend aus drei Mann mit Kontrabass, Saxophon und Gitarre, eine leise Melodie mit sanftem Blues-Einfluss zum Besten gibt.

Um ihren Kreislauf anzukurbeln, bestellt sie Espresso und Cola. Doris lauscht der wohltuenden Musik. Die Vögel zwitschern in den Bäumen, Insekten surren an den Linden- und Efeublüten, langsam beruhigt sie sich wieder. An den Nebentischen wird gegessen, getrunken, gelacht und diskutiert. Aber halt! Viele Gäste sprechen tschechisch! Und: Doris versteht jedes Wort dieser ihr bis zum heutigen Tag fremden Sprache. Jak je možné, že rozumím česky? Wie ist es möglich, dass ich Tschechisch verstehe?

Wieder überkommt sie dieses einengende Gefühl in der Brust, sie ruft den Kellner, bezahlt und verlässt das Gartenlokal. In einigen Minuten Fußmarsch erreicht sie auch das Museum Franz Kafka in der Cihelná 2. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät ihr, dass sie den Zeitplan perfekt einhalten kann und pünktlich zum Treffen mit anderen Journalisten im Garten des Wallensteinpalastes eintreffen wird.

Die Räume, Gänge und Treppen des Museums sind unglaublich dunkel gehalten, teilweise schwarz tapeziert, leise Musik aus dem Hintergrund verleiht dem Ambiente eine rätselhafte, leicht bedrohliche Stimmung. Den Museumsbetreibern ist es perfekt gelungen, das Kafkaeske dieser Ausstellung dem Besucher zu vermitteln. In einigen Nischen werden in Schwarz-Weiß gedrehte Filme an schwarze Leinwände projiziert, die einen Einblick in das Leben in Prag um die Jahrhundertwende gewähren. Die Präsentation beinhaltet auch Glasvitrinen mit Originalausschnitten von Kafkas Tagebüchern und Briefen. Doris liest aufmerksam die Zeilen und sie erschaudert, die seelische Zerrissenheit und tiefe Trauer von Franz Kafka gehen ihr nahe. Im Hintergrund hört sie leise Musik von Friedrich Smetana, die Museumsbesucher schlendern ruhig über die knarzenden Holzdielen, kaum jemand spricht oder unterhält sich, jeder scheint in Gedanken versunken zu sein, in eine Welt voll Tristesse, Melancholie.

Doris wendet sich der Stiege zu, die ins Erdgeschoß zum Ausgang führt, sie muss sich am Treppengeländer festhalten, die Beleuchtung ist dürftig. Kurz vor der letzten Stufe spürt sie einen dumpfen Schlag gegen ihre Stirn, sie hat sich an einem Balken den Kopf kräftig gestoßen. „Zatracený“, verdammt, entfleucht es ihrem Mund. Sie fasst an die schmerzende Stelle und fühlt auch schon ein warmes zartes Rinnsal über ihrem Nasenflügel.

Schnell packt sie Jacke und Rucksack aus der Garderobe und eilt in den sonnigen Hof vor dem Museumseingang. An einer schattigen Parkbank nimmt sie Platz und sucht nach Taschentüchern. Doris atmet tief durch, lehnt sich an die Hausmauer, drückt das Tuch an ihre Stirn und schließt die Augen.

Ein leichter Wind zieht durch die Gassen in den Innenhof in der Malá Strana, ihre salopp nach hinten gekämmten nackenlangen Locken schlüpfen unter dem kleinen Glockenhut hervor. Ihr violetter Rock aus weitem Jersey schmiegt sich an ihre Knie, ein schmaler Gürtel betont ihre Taille. Die hochgeschlossene weiße Satinbluse schimmert im Sonnenlicht und ihre Finger der linken Hand spielen mit einer beigefarbenen langen Perlenkette. Ein schelmisches Lächeln umspielt ihre vollen, rot geschminkten Lippen. Das Paar sitzt auf der Parkbank und beobachtet das rege Treiben auf den Straßen, Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster ist zu hören und kündigt eine Pferdekutsche an, dicht dahinter klingelt die Straßenbahn.

 „Was für ein herrlicher Tag, meine Liebe!“, flüstert ihr František ins Ohr, sein rauer Atem kitzelt ihren Hals. Er drückt ihre rechte Hand, die auf seinem Schoß liegt. Der Wollstoff seiner anthrazit-grauen Hose mit goldbrauner Streifenoptik ist angenehm weich auf ihrer Haut. Aus der Tasche seiner hochgeschlossenen Weste baumelt eine goldene Uhrkette, das Einstecktuch und die Krawatte sind mit ihrem violetten Rock abgestimmt. Er rückt sich den grauen Fedora-Hut mit mittelbreiter Krempe und dunkelgrauem Hutband zurecht, beugt sich vor und küsst sie.

 „Aber František, doch nicht vor allen Leuten“, flüstert sie, wirft den Kopf in den Nacken und lacht.

„Hallo? Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung, gnädige Frau?“ Eine Hand liegt auf Doris’ Schulter und drückt sie sachte. Sie öffnet die Augen und sieht eine ältere Dame mit besorgter Miene vor ihr stehen.

„Ja, danke. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mir nur den Kopf gestoßen. Das wird schon wieder.“ Doris betrachtet das Taschentuch, die Wunde hat aufgehört zu bluten.

„Komm, trinken Sie ein Gläschen Absinth, ich habe es gerade aus dem Haus geholt, als ich Sie hier sitzen sah.“ Das hellgrüne Wermutgetränk erfrischt ihren Gaumen und die Kehle abrupt, ein kleines Feuerwerk schießt indessen in ihren Kopf. Sie blickt auf ihre Uhr und erschrickt.

„Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen, aber ich muss jetzt dringend zu meinem Termin!“

Die meisten Plätze sind schon besetzt, und am Podium haben sich die Diskussionsleiter bereits eingefunden. Kurzer Check der Mikrofone, Doris zückt ihren Block und ihre Interviewfragen, startet ihr Aufzeichnungsgerät und atmet tief durch. Einige wenige Journalisten sind ihr aus anderen Literaturdiskussionen bekannt, sie winkt ihnen höflich zu. An den Tischen auf der Seite sieht sie Bücher ausgestellt von Franz Kafka. Eigenartig – es sind zahlreiche Bände dabei mit farbenfrohen Bildern von Gustav Klimt auf dem Cover. Von einigen Titeln hat sie noch nie gehört. Ist sie denn auf dem richtigen Meeting?

„Meine Damen und Herren, ich darf Sie herzlich begrüßen zur Literaturdiskussion über Franz Kafka …!“

„… er war ein lebensfroher Mensch mit herrlich humorvollen Romanen und zarten Liebesbriefen an seine geliebte Dora …!“

„… er war ein Ausnahmetalent, der erst in späten Jahren, von einer tiefen Melancholie kommend, jedoch über die Liebe zu Dora zu einem herausragenden Schriftsteller wurde …!“

„… Franz Kafka war hoch geschätzt und hat zu Lebzeiten zahlreiche Werke verkauft, er konnte bis ins hohe Alter mit seiner Frau ein gesundes, glückliches und wohlhabendes Leben hier in Prag führen …!“

Doris schüttelt den Kopf und hebt ihre Hand:

„Entschuldigen Sie bitte, aber von welchem Franz Kafka sprechen Sie? Er wurde nicht alt, er war schwer lungenkrank, vermutlich auch depressiv, … und vermögend war er schon gar nicht. Und von welcher Dora sprechen Sie?“

Die Gäste auf den Rängen vor ihr drehen sich um zu Doris, sie lächeln, scharren verlegen mit den Schuhsohlen auf dem Kieselboden und vereinzelt ist ein Räuspern zu hören.

„Aber nein! Nein! Wir sind doch heute hier, um über die wunderbare Literatur von Franz Kafka zu sprechen und über die großartige Wende in seiner zweiten Lebenshälfte, als er Dora Diamant kennenlernte! Wie ist denn Ihr Name, gute Frau, und für welchen Literaturbetrieb schreiben Sie?“ Der Diskussionsleiter ist nun von seinem Platz aufgestanden und betrachtet sie interessiert.

Alle Farbe weicht aus Doris’ Gesicht, eine Gänsehaut macht sich auf ihren Unterarmen breit, sie fühlt die Blicke in ihrem Rücken wie brennende Speere.

„Ich, … also ich, … mein Name ist Doris … Doris Diamant!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

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