Es fühlt sich richtig an

Plötzlich ist es still im Zimmer. Ich sehe von meiner Zeichnung auf, sehe dich ruhig in deinem Lieblingseck des Sofas sitzen, dein Oberkörper aufrecht, die Beine angezogen, in der Hand die Fernbedienung. Du hast den Fernseher auf lautlos geschaltet. Auf dem Bildschirm bewegen sich die Schauspieler in ihren Rollen, öffnen und schließen ihre Münder, fischähnlich.

„Ich möchte dich etwas fragen“, sagst du leise, „etwas Wichtiges.“

Du siehst mich nun an, deine Augen glänzen, du streichst eine Haarsträhne aus der Stirn. Ein heller Schimmer liegt auf deinem Gesicht, deinem Haar. Du strahlst eine derartige Intensität aus, dass ich nicht anders kann, als in das Fach unter dem Couchtisch und zu jenem Zeichenblock zu greifen, in welchem sich ausschließlich Skizzen von dir befinden, schiebe den anderen Block beiseite, schlage rasch deinen, den Lena-Block, auf und beginne dich zu skizzieren. Augenbrauen, Nase, Augenlider …

„Nein, nicht jetzt, bitte, lege es weg“, sagst du, und verwundert lasse ich den Bleistift sinken. Noch nie hat dich gestört, dass ich zeichne, während wir miteinander reden. So hast du mich kennengelernt, vor gut einem Jahr, in der Bibliothek: zeichnend, hast dich unter anderem auch deswegen in mich verliebt, so sagtest du mir Wochen später. Ja, es gehört zu mir, ich zeichne, wenn möglich, immer und überall, ob zuhause oder unterwegs, immer.

„Was ist, Lena? Nun sag doch, was willst du mich fragen?“

„Ja, also, wen hast du vorhin im Park gesehen?“

„Vorhin im Park? Ich verstehe nicht, wir haben doch die selbe Person gesehen, die alte Frau unter der Straßenlampe. Hier!“

Ich halte dir den Skizzenblock hin, nicht den Lena-Block, sondern den anderen, in welchen ich sogleich, nachdem wir nach Hause gekommen waren, das im Park Gesehene zu übertragen begonnen habe.

Auf dem ersten Blatt die Skizzierung einer alten Frau, unter dem Licht einer Straßenlampe stehend, und von uns beiden, die wir vom Parkeingang aus auf die Frau zukommen, diskutierend, beinahe streitend.

Wir debattierten über Jasmin und Ben, bei denen wir zuvor zu Besuch gewesen sind, und die sich in letzter Zeit, insbesondere seit der Geburt ihres Babys, so sehr verändert haben. Konservativ, klein-denkend sind sie geworden, Ben sowieso, aber auch Jasmin, meine Schwester, die ich doch von Kindheit an als Freigeist kenne. Aber diese Jasmin ist nicht mehr vorhanden, kreative Arbeit kein Thema mehr für sie, sie geht nun voll und ganz in ihrer Mutterrolle auf. Von Kinderpädagogik spricht sie nun, von Mutter-Kind-Gruppen, kein Wort mehr von ihren künstlerischen Projekten.

Mein Bleistift flog in ihrer überheizten Wohnung über gut dutzend Blätter, ich zeichnete und zeichnete: das Dauerlächeln, mit dem Ben und Jasmin ihr Kind bedachten, die Plüschtiere, die Spielsachen, die stillende Jasmin, Bens Doppelkinn, das lächelnde, das schreiende, das schlafende Baby. Und dich, wie du dies alles wohlwollend betrachtest. „Ich freue mich sehr für euch“, hast du mehrmals beteuert.

„Sie ist glücklich, sie liebt ihr neues Leben“, hast du Jasmin auf dem Nachhauseweg verteidigt und den Kopf geschüttelt, als ich meinte, wie unecht, wie gespielt alles auf mich gewirkt hat.

„Nur, weil Jasmin sich verändert hat, nur, weil du einen anderen Lebensentwurf, eine andere Einstellung hast, gibt dir das nicht das Recht, andere Lebensweisen geringer zu schätzen“, hast du gesagt.

Als wir dann die alte Frau unter der Straßenlaterne sahen, hörten wir zu diskutieren auf. Zu unwirklich wirkte die Szene. Die Frau stand unter dem Lichtkegel wie unter einem Spotlight, weißes leuchtendes Haar, gut gekleidet, charismatisch. Die Arme hochgeworfen, deklamierte sie mit lauter, melodischer Stimme Shakespeare. Doch etwas war irritierend an ihrer Haltung, an ihren Bewegungen, und dieser Eindruck verstärkte sich beim Näherkommen.

Du blätterst um, und du und ich betrachten meine zweite Skizze. Sie zeigt deutlich ein Flackern im Blick der Frau, etwas Unstetes, Verwirrtes. Ihr seltsam abwesender, beinahe versteinerter Gesichtsausdruck passt nicht zu ihrer theatralischen Gestik.

Die nächsten Skizzen zeigen eine desorientierte alte Frau, fern jeder Realität, eine, die ein Straßenlicht mit einem Scheinwerfer verwechselt, die einen Gehsteig zu ihrer Bühne erklärt. Um ihre gesamte Erscheinung ein Schleier von Verlorenheit.

Du siehst dir alle Skizzen an.

„Und ihren Begleiter?“, fragst du dann leise. „Ihn hast du nicht gezeichnet?“

„Ihren Begleiter?“

Ich denke nach. Ja, da war noch jemand. Ein alter Mann. Ich habe seine leise Stimme hinter mir gehört. Du hast mit ihm geredet, minutenlang oder auch länger, ich weiß es nicht, war ausschließlich damit beschäftigt, mir jedes Detail dieser faszinierenden alten Frau einzuprägen, sie innerlich zu fotografieren, wie du es nennst.

„Du hast ihn gar nicht wahrgenommen. Du hast ihn gar nicht angesehen“, sagst du, deine Stimme klingt traurig.

Du stehst abrupt auf, gehst unruhig im Zimmer auf und ab, barfuß.

„Ihr Mann, er hat mir viel erzählt. In der Art und Weise, wie alte Menschen mit einem reden, so, als ob sie dich schon ewig kennen würden. Er hat erzählt, dass sie seit Jahrzehnten ein Paar seien, dass sie früher tatsächlich Schauspielerin gewesen sei und nichts auf der Welt ihr so wichtig wäre wie die Schauspielerei, auch jetzt noch, trotz ihrer Demenz. Und für ihn, so hat er gesagt, gäbe es nichts Wichtigeres als sie. Er höre und sehe ihr so gerne zu. Früher, als sie auf der Bühne spielte, und heute, wenn sie eben manchmal unter Straßenlampen deklamiere.“

Du klatschst plötzlich in die Hände.

„Ach“, rufst du laut, „was er nicht alles gesagt hat! Er sagte: Es gibt Menschen, die haben sich einer Sache verschrieben, mit Leib und Seele, mit Haut und Haar, und das darf man ihnen nie nehmen. Er sagte: Mit manchen dieser Menschen kann man unbeschadet leben, aber es gibt welche, von denen sollte man lieber lassen, wenn man sich selbst, wenn man sein eigenes Leben liebt.“

Ich habe längst wieder einen Bleistift in der Hand, um dich auf Papier einzufangen, deine Art, auch mit den Händen zu sprechen, die Schultern ein wenig hochzuziehen, den lebhaften, dann wieder nachdenklichen Ausdruck in deinem Gesicht, das Leuchten in deinen Augen.

„Er sagte: Ich liebe sie. Es fühlt sich richtig an, mit ihr, auch jetzt, in ihrem Zustand. Denselben Satz hat auch deine Schwester gesagt, als sie ihr Baby hielt: Es fühlt sich richtig an.“

Du bleibst vor mir stehen, wirfst einen kurzen Blick auf meine Zeichnung, siehst dann mich an. Du lächelst.

Ich zeichne dein Lächeln.

„Ach du“, sagst du zärtlich, „wie lange wartest du schon insgeheim darauf, dass ich aufhöre zu reden, dass ich dich allein lasse, damit du beginnen kannst, deine Skizzen auf die Leinwand zu übertragen?“

„Lena, du kennst mich doch. Du weißt ja, dass ich nur malen kann, wenn ich ungestört, wenn ich allein bin.“

„Ja, natürlich“, sagst du. „Ich kenne dich.“

Du küsst mich, gehst aus dem Zimmer, schließt leise die Tür.

Ich nehme meinen Skizzenblock, den mit der alten Frau im Park, gehe damit auf die Mansarde, zu meiner Staffelei, zu meinen Farben, in meine Welt.

Am nächsten Morgen bist du nicht mehr da.

Als ich spätabends von der Galerie nach Hause komme, sind alle deine Sachen weg, Kleidung, Laptop, Bücher. Auf dem Holztisch in der Küche liegt ein neuer Skizzenblock. Daneben eine weiße Leinwand, im für mich passenden Format, und, liebevoll arrangiert, Acrylfarben, Kohlestifte, Bleistifte, jene, die ich am liebsten verwende. Du kennst mich.

Du hast mir keinen Brief, keine Nachricht hinterlassen.

Ich schlage den neuen Block auf und beginne zu zeichnen. Ich skizziere deine Abwesenheit. Dein unbenutztes Lieblingssofaeck, das Bücherregal, in dem deine Bücher fehlen, die Wand ohne deine Fotocollagen, das leere Schuhregal. Ich zeichne dein Gesicht, den Glanz in deinen Augen, deine Hand, die eine Haarsträhne aus der Stirn streicht, zeichne dich, barfüßig durch das Zimmer schreitend.

Später, im Mansardenzimmer, male ich dich auf dem Sofa sitzend, deine angewinkelten Beine, deinen aufrechten Oberkörper. Es gelingt mir, den Schimmer deiner Haut, deines Haars wiederzugeben. Von der Leinwand aus siehst du mir direkt in die Augen.

Es fühlt sich richtig an.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 24139

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert