Warum fütterst du mich mit Schokolade? Das hatte sie nur am Anfang gefragt, inzwischen stellte sie die Frage nicht mehr.
Damals war sie es nicht gewohnt gewesen, dass jemand lieb zu ihr war, Spaß daran hatte, sie zu verwöhnen. Als er sie gefunden hatte – und er musste zugeben, dass er aktiv gesucht hatte, und weiters, dass er sie rein nach Äußerlichkeiten ausgewählt hatte, wie denn sonst, zu Beginn? – war sie eine junge Frau gewesen, die im Leben nicht viel Gutes erlebt hatte, sie war eine Gescheiterte, und was noch schlimmer war, eine Frau, die nicht überrascht war, dass das Leben ihr so wenig Schönes zu bieten hatte, sondern viel zu viel von allem anderen.
So traf sie auf ihn, der beschloss, ihren Ängsten vor diesem und jenem Rechnung zu tragen, denn eine Furcht vor allem Unbekannten hatte sie fest im Griff, Fremdes war ihr ein Gräuel, und so hatte sie begonnen, ihm alles zu überlassen, was mit Außerhäuslichem zu tun hatte. Er war gut zu ihr, andere Menschen waren ihr suspekt.
So stieß auch sein Vorschlag auf große Gegenliebe, ein kleines Häuschen auf einem Hügel zu erwerben, gerade groß genug für sie beide, mit kaum menschlicher Zivilisation rundherum, nur ein Bahnhof ein Stückchen entfernt, in vielleicht zehn Minuten mit dem Fahrrad zu erreichen.
Was aber das Wichtigste war: keine aufdringlichen Nachbarn weit und breit, mit denen sie hätte reden müssen und die vielleicht irgendwelche gesellschaftlichen Ansprüche geltend gemacht hätten, wer weiß?
Und ihre Geschichte wollte sie wirklich nicht erzählen, keinesfalls sich der Neugierde Fremder ausliefern.
Was ging die das an, wie sie ihren Beschützer gefunden hatte, wie mies es ihr damals gegangen war, wie sie der Alkohol zuerst getröstet, erleichtert und dann fallen gelassen hatte, in ein tiefes, abgrundtiefes Loch. Wie er ihr das Seil zugeworfen hatte, und sie auch gleich noch hinaufgezogen hatte zu sich, wie er sich gegen alles Hemmende gestemmt hatte, um sie wieder nach oben zu bringen, sie, die nicht gerade ein Leichtgewicht war.
Das alles hatte ihn niemals gestört, er nahm sie so, wie sie war, mit ihren ungesunden Abhängigkeiten, ihren Phobien, ihrer Unlust auf andere; er hatte Freude an ihr, wie sie war.
Und er fühlte sich endlich dazu berufen, das Richtige zu tun, es war eine Fügung, ihr scheuer Blick, ihre fast schon leicht traurig wirkenden Rundungen, weil sie – obwohl noch jung - so gebeugt erschien, das alles rührte ihn an, so eine Frau wollte er haben, und zwar ganz für sich alleine.
Wie gut es sich traf, dass sie nicht gerne außer Haus ging, das Einkaufen überließ sie jetzt ohnehin lieber ihm, damals aber hatte sie sich noch dazu zwingen müssen, besonders, seit ihr eine Panikattacke im Supermarkt sehr zugesetzt hatte. Das war zuvor gewesen, als sie noch in der Stadt gewohnt hatte und sie auch gelegentlich arbeiten gegangen war. Später hatten die Trinksucht und aneinandergereihte Krankenstände sie „am Arbeitsmarkt schwer vermittelbar“ werden lassen, so war sie zuhause immer mehr ihren Zuständen verfallen, bis er in ihr Leben getreten war, das war Fügung, nicht mehr und nicht weniger: Er war Pfleger in dem Krankenhaus, in dem ihr Herz wegen der wiederkehrenden Angstattacken untersucht wurde, sie erfuhr dort immerhin, dass sie „nichts hatte“, wie oberflächlich betrachtet.
Bei ihrer Entlassung hatte er um ihre Telefonnummer ersucht, so nahm alles seinen Lauf.
Aber das brauchte kein Fremder zu wissen, da war er sich mit ihr völlig einig, so wie in fast allem.
Wie dankbar war sie, wenn er sich auf das Fahrrad schwang, um nach wenigen Stunden mit vollgepacktem Rucksack und Satteltaschen voller Essen zurückzukehren, schwitzend wegen der Stramplerei bergauf, und sofort zu kochen begann, gute Sachen, und viel.
Er liebte es, sie zu bekochen, zu füttern, er sah ihr oft beim Essen zu und achtete darauf, dass sie aufaß. Ihre Trägheit nahm zu, doch das schien ihn nicht zu stören, im Gegenteil, als sie das erste Mal nicht am Fenster stand, um ihn zu erwarten (nach draußen ging sie da schon nicht mehr), sondern auf dem Sofa eingenickt war, schien er sehr zufrieden zu sein. Zum Essen wurde sie mit einem zärtlichen Kuss geweckt.
Ihm war das ganz recht, dass sie sich kaum noch vom Sofa erhob, abgesehen davon, dass es ihr nach eineinhalb Jahren in seiner Obhut auch immer schwerer fiel, denn das Gewicht nahm rasch zu. Er brachte leise pfeifend Verstärkungen unter dem Liegemöbel an und war mit der Welt und sich im Reinen.
Auch dass sie sich fast ausschließlich im Wohnzimmer oder Schlafzimmer (später auch das nicht mehr, der Wechsel war ihr zu mühsam, auch der Kleidertausch wurde auf ein absolut notwendiges Mindestmaß beschränkt) aufhielt, war für ihn ein Grund zur Freude.
So war die Wahrscheinlichkeit, dass sie unversehens in sein Zimmer kommen und sehen könnte, welche Kontakte er online unterhielt, auf ein Minimum reduziert.
Er ahnte schon, dass es sie befremden würde, mit welchen Menschen er sich da austauschte, welche Fotos die erlesene Runde machten, wer Bewunderung auf sich zog und wer sich aus dem Forum verabschiedete, oft aus traurigen Gründen, da wurde besser nicht besonders intensiv nachgefragt.
Das Forum war seine Spielwiese, hier hatte er schon so manchen wertvollen Tipp bekommen.
Die User waren anonym, das war selbstverständlich, und doch kannte man sich mit der Zeit.
Das Besondere an dem System war, dass man sich sozusagen hinaufarbeiten konnte, wer Ambitionen hatte, konnte es weit bringen. Erkennbar war der Status an einem Kürzelsystem mit Nummerierung der User-Accounts. So war der anfangs so bescheidene FeederBe95 innerhalb kürzester Zeit zum FeederBe135 geworden, die Bewunderung der anderen war ihm gewiss.
Er selbst war als FeederIl103 ins Rennen gegangen, hatte also auch relativ weit unten angefangen, nach anfänglichen Zögerlichkeiten war er am derzeitigen Stand FeederIl159 angelangt, aber nun flott Richtung FeederIl165 unterwegs, ein ganz Großer unter Gleichgesinnten. Alle drei Monate wurde neu bewertet, gegen Ende der Frist verstärkten sich seine Bemühungen wie von selbst, es war ein Spiel, wenn auch kein leichtes.
Sie dämmerte dahin, sah fern, schlief, aß, trank außer Alkoholischem auch einmal Cola oder Limonade, tat dem Stoffwechsel Genüge, manchmal wankte sie ins Bad, bald schon aber übernahm er das Waschen und betrachtete aufmerksam die immer üppiger werdenden Rundungen, Hügel, Berge fast.
Dass sein Smartphone immer dabei war, fiel ihr nicht auf, oder es war ihr egal.
Sie selbst besaß kein Mobiltelefon, sie fürchtete sich natürlich vor der Strahlung, als ob die ihr etwas hätte anhaben können! Ihm war es recht, so war sie keinem schlechten Einfluss anderer ausgesetzt (abgesehen davon, dass sich ihr Bekanntenkreis in der Zeit der Arbeitslosigkeit und mit der steigenden Anfälligkeit für Phobien ohnehin rasch auf null reduziert hatte).
Dann, mitten im schönsten Einvernehmen, ein Aufstand! Sie war aufgestanden, das für sich genommen schon eine kleine Sensation in jenen Tagen der Ruhe und des Friedens. Hatte seine Einkaufsabwesenheit dazu genützt, sich selbst zu waschen und zu kämmen und sich sogar sauberes Gewand anzuziehen, der Himmel weiß, wie sie das geschafft hatte, mit ihrer permanenten Kreislaufschwäche, dem Schwindel und den gut hundert überzähligen Kilos.
Noch schlimmer aber war, was sie ihm als Vorschlag unterbreitete: Abnehmen wolle sie, im Fernsehen habe sie eine Werbung für eine neue Diät gesehen, das wolle sie versuchen.
Er fuhr schwere Geschütze auf, Lebensgefahr bei Anwendung der Wundermittel sei gegeben, er als Pfleger wisse, wovon er spreche. Sie schien eingeschüchtert zu sein, aber nicht genug.
Immer wieder kehrte diese hartnäckige fixe Idee im Laufe der nächsten Wochen zurück, er musste sich schon sehr zurückhalten, nicht zornig zu werden.
Sogar die Essensaufnahme verweigerte sie, zumindest eine der sieben täglich liebevollst zubereiteten Mahlzeiten verschmähte sie, er war zutiefst getroffen.
Wenn das so weiterging, konnte er den Status FeederIl165 fürs Erste vergessen.
Manchmal geschahen solche Dinge im Forum, ihm hatten die armen Teufel immer leidgetan, jetzt betraf es ihn. Wie hatte er sie nur so falsch einschätzen können? In ihr regte sich ein immanenter Widerstandsgeist, er hatte nicht gewusst, dass sie so etwas überhaupt besaß.
Ein für alle Mal musste Schluss sein mit diesen Mätzchen.
An diesem Tag eröffnete er ihr, dass er genug davon habe, alles, wirklich alles für sie zu tun, sie wisse es nicht genug zu schätzen, er brauche jetzt auch einmal Urlaub, er werde sich eine Auszeit aus diesem Jammertal gönnen.
Sie solle sehen, wie sie ohne ihn zurechtkomme. In vierzehn Tagen komme er voraussichtlich zurück, er hoffe sehr, sie habe sich ihr Verhalten bis dahin vor Augen geführt und sei endlich wieder zu der Frau geworden, in die er sich verliebt habe.
Sprach’s und schwang sich aufs Fahrrad, den Rucksack und die Satteltaschen diesmal mit einigen Kleidungsstücken gefüllt.
War guter Dinge, beim Zurückkehren eine einsichtige Frau anzutreffen und hoffte natürlich auf den sofort nach der Normalisierung einsetzenden, möglicherweise sogar Zugewinn bringenden Jo-Jo-Effekt.
Was sich bei ihm während seines „Urlaubs“ getan hat, insbesondere eine ungewöhnliche Zugfahrt, ist eine andere Geschichte.
Nun aber kehrt er frohgemut zurück, hat die Kleidungsstücke fortgeworfen, um genug Platz für Essen in seinen Packtaschen zu haben (sie wird sicher hungrig sein nach all den Tagen ohne ihn...) und radelt keuchend den Berg zum Häuschen hinan.
Viel zu spät sieht er den Rettungswagen in der Einfahrt, dieser ist aber schon am Abfahren und die beiden Männer, die er im Wagen erspäht, beachten ihn nicht, sie fahren ziemlich rasch an ihm vorbei, streifen ihn beinah.
Die Sorge um seine Gefährtin weicht abrupt, als er in das verkniffene Gesicht eines Uniformierten blickt.
Sofort wird er mit der herausgepressten Frage konfrontiert: Sind Sie Volker Habermann? (Kein Abwarten der Antwort.) Sie sind verhaftet wegen des dringenden Verdachts auf Freiheitsentzug und vorsätzlicher Körperverletzung an Frau Ilse Bachl. Sie kommen jetzt mit.
Der Polizeiwagen wartet hinter dem Haus.
Viel später sollte er erfahren, wer ihm zu seinem Platz im Untersuchungsgefängnis verholfen hatte. Aber die Gefängnis-Geschichte ist eine eigene. Eine ganz eigene.
Der User Feedher4ever war immer schon ein Exot in der Community gewesen, ein Koch, der den Austausch von Fotos, insbesondere von heimlich geschossenen, strikt ablehnte und deswegen immer wieder für Wirbel in der Truppe sorgte. Auch das Zählsystem fand er widerwärtig, und er hatte sich immer wieder gegen die ausgefuchstesten Wiegesysteme ausgesprochen, sein Status war ihm schlichtweg egal. Manchmal hatte er es sogar geschafft, die Gruppe dahingehend ein bisschen zu demoralisieren. Volker mochte ihn auch vor der Anzeige nicht.
Als Feedher4ever aus der Forums-Kurzmeldung von FeederIl159 erfahren hatte, dass dieser das Weite suchen wollte und seine Gefährtin hilflos (und ohne Essen) alleine zurückzulassen gedachte, verständigte er die Polizei, diese holte nach erfolgreicher Datenrecherche (Gott weiß, welche Gesetze sie dabei gebrochen haben) die Rettung zu Hilfe. Ein Verräter, wie er im Buche steht. Volker hat nun viel Zeit, sich eine gerechte Strafe für den Übeltäter auszudenken, auch für dieses undankbare Weib, der geht es bestens, hat er vernommen, und dreißig Kilo weniger hat sie angeblich auch schon. Also ist sie zumindest nicht an den verfluchten Feedher4ever geraten, so viel steht fest.
Carmen Rosina
www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 13020