Alles gut!

Die erste bewusste Begegnung, wenn ich es mir so recht überlege, hatten wir an einem heißen Sommerabend im Vorjahr. Ausgangspunkt des Geschehens war eine Einladung zum Grillen bei den Nachbarn, eine spontane Angelegenheit, zu der sich auch andere Gäste eingefunden hatten, unter anderen ein geschiedenes Paar, das weiterhin Umgang miteinander pflegte, beide in eigenen Welten, jedoch anhaltend verbunden – wenn auch auf höchst seltsame Weise, wie sehr bald klar wurde.

Denn während sich der nunmehrige Singlemann volllaufen ließ und immer ausfälliger wurde, sah sich seine Exfrau anscheinend genötigt, die Situation zu „entschärfen“: Je ordinärer die Wortmeldungen ihres Exmannes ausfielen, desto beflissener wurde sie darin, das herunterzuspielen. Unzählige Male wurden seine allertiefsten Ansätze übertönt von ihrem hineingeträllerten „Alles gut!“.

Im Laufe dieses Abends, der im Übrigen, sofern man des Ignorierens Einzelner mächtig war, sehr ansprechend verlief, hörte ich gute zwei Dutzend Mal „Alles gut!“, bis ich schließlich um Mitternacht das Handtuch warf; ich hatte einen Arbeitstag vor mir.

Im Laufe der folgenden Monate schien mich diese Floskel zu verfolgen. Im Supermarkt fragte eine Frau vor mir an der Kasse, ob es was ausmache, das Gemüse mit einem Hundert-Euro-Schein zu bezahlen. Die Antwort der Kassiererin …

Bei der Besprechung mit dem Kollegen, als wir feststellten, dass uns noch einige Daten für ein Projekt fehlten …

Beim Gewandprobieren schallte aus der Umkleidekabine nebenan …

Plötzlich schien überall „alles gut“ zu sein. Und zwar von früh bis spät, egal, um welche Lebenslage es sich handelte. Mir kam das sehr verdächtig vor: Wann ist schon „alles gut“???

Dann beschlich mich ein Verdacht: Überkompensation.
Je schlechter die Klimaprognosen, je übler die politischen Machenschaften, je düsterer die Zukunftsvisionen, je hemmungsloser die sozialen Medien, desto öfter hörte ich diese beiden schlichten Worte, nichtssagend, und doch mit einer naiven Erwartungshaltung verknüpft. Der Wunsch als Vater des Gedankens: Es möge doch alles gut werden, am besten jetzt schon sein.

Schön, wenn Menschen positiv denken. Aber „Alles gut!“ schien mir zur Beschwörungsformel verkommen zu sein. Passend zum Bild der „guten Miene zum bösen Spiel“: Ich rede mir einfach „alles gut“, und das rede ich mir so lange ein, bis ich es glaube.

Aber ohne mich, meine Lieben. Und lieb seid ihr auch nicht alle.

 

PS: Da ich sehr überzeugt bin von evidenzbasierter Forschung, werde ich ab heute für jedes „Alles gut!“, das mir zu Ohren kommt, einen Euro in eine Kassa einzahlen – analog zur Fluchkassa, die es früher in manchen Firmen gab. Das erscheint mir rückblickend eine sehr gute Idee gewesen zu sein. Das Fluchen meine ich.

Nachtrag am 2. März 2025
Wie schön, sich in guter Gesellschaft zu befinden! Auch der
Standard-Redakteur Michael Steingruber hat ähnliche Gedanken gehegt:
Was die Floskel "Alles gut" über die Gesellschaft aussagt

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 25046

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3 Gedanken zu „Alles gut!

    1. Carmen

      Danke, lieber Bernd, für die Hutblume! :)
      Allerdings muss ich dich vorwarnen, es geht ganz schön ins Geld. :)

      Herzliche Grüße
      Carmen

      Antworten
  1. Frank Joussen

    Dieser Text spricht mir aus der Seele. Ich sehe das ebenso, inklusive Fluchen. Ich habe auch schon ein fluchendes politisches Gedicht verfasst. Dieses endet mit dem Hinweis, dass wir andauernd "alles gut" werden sagen müssen, wenn wir demnächst (, natürlich hoffentlich nicht!,) wieder in einer Diktatur leben müssen. Bis dahin sollten wir offen, ehrlich, respektvoll unsere Meinung auf differenzierte Weise sagen.
    Liebe Grüße

    Antworten

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