Prolog
Weihnachten ist eine Zeit des Miteinanders, eine Zeit des Innehaltens und der reflexiven Auseinandersetzung mit dem vergangenen Jahr. Eine Zeit, in der wir uns vor Augen führen, dass Geschehnisse zu Jahresbeginn rückblickend vielleicht doch Sinn ergaben, und eine Zeit, in der Dankbarkeit und Freude – sowie ein gewisser Zauber – in und um uns herum spürbar werden.
Doch nicht jeder teilt diese Auffassung, denn für manche ist Weihnachten nichts weiter als Konsum, Kitsch und aufgesetzte Glückseligkeit. Und obwohl diese Weihnachtsgeschichte kein Mahnwerk gegen derlei Entwicklungen sein soll, so ist sie zumindest ein Fernrohr in eine alternative Perspektive.
Die Geschichte von Christian Kindel
Christian, bzw. Chris Kindel, war als einziges und sehnlichst erwartetes Kind von Sissi und Franz Kindel zur Welt gekommen, die zeit ihres Lebens ein Dasein in Abgeschiedenheit vorzogen. Während sie zu Beginn der 80er-Jahre zunächst mit Klein Christian in einer Kommune lebten, zogen sie noch vor seiner Einschulung auf den abgeschiedenen Bauernhof von Christians Großeltern, die ihren Ruhestand im weit entfernten Florida genossen.
Chris’ frühe Kindheit war geprägt von Natur und kritischen Weltansichten, was zunächst durchaus förderlich für den Kleinen war – wäre da nicht die Einschulung gewesen, die sein Leben drastisch veränderte …
Kinder können grausam sein
Gestaltete sich der erste Schultag an der ländlichen Volksschule noch einigermaßen annehmbar, so änderte sich dies bereits in der ersten Woche, da Christian es nicht gewohnt war, mit anderen Kindern zu spielen. Lesen konnte Chris bereits mit vier und mit sechs diskutierte er mit seinen Eltern über das politische Weltgeschehen am Frühstückstisch. Mit seinen Themen fand er kaum Zuspruch unter seinen Altersgenossen, die es ihn auch durchaus spüren ließen.
Es gab täglich Hänseleien aufgrund seiner Kleidung, seiner Jause, bestehend aus Dinkel-Grünkern-Laibchen oder anderen weniger gewürzten Speisen und den Pausengesprächen über Superhelden-Figuren oder Zeichentrickserien konnte er nur schwer folgen, denn einen Fernseher hatten sie nicht.
Zu Weihnachten erreichten die Hänseleien jährlich ihren Höhepunkt, als Chris Kindel nun auch noch aufgrund seines Namens in Ungnade fiel. Seine Mitschüler legten ihm in der Vorweihnachtszeit täglich Stroh auf seinen Platz, sie zierten sein Fach mit weißen Federn und ließen ihm Zeichnungen zukommen, auf denen das Christkind, auf einen Christbaum aufgespießt, Bäche aus roter Farbe blutete.
Und obwohl solche kindlichen Erlebnisse auch die Biographien so mancher erwachsener Serienmörder zierten, hielt Chris durch, denn die Liebe und Fürsorge seiner Eltern waren ihm gewiss.
In der Schule war Chris, so besang es auch bereits Sting, „a legal Alien“ in einer ihm unbekannten Welt und so zog er sich zurück, wurde still und ein kritischer Beobachter seiner Umwelt.
Jahre später
Die Jahre danach gestalteten sich durchaus erfolgreich. Er studierte Journalismus, wurde direkt nach dem Studium bei einer renommierten Zeitung angestellt und nach wenigen Jahren übernahm er bereits den Posten des Kritikers. Vielleicht war es eine späte Rache des kleinen Jungen an der Gesellschaft oder die Verbitterung eines früh Ausgestoßenen, aber zu Weihnachten ließ er kaum ein gutes Haar an den durch ihn bewerteten Veranstaltungen. Er liebte es, die weihnachtlichen Akteure durch ihren eigenen Kakao zu ziehen, und hätte er gekonnt, er hätte sie darin ertränkt. Nun ja, vielleicht war doch ein kleiner Schaden geblieben aus seiner Kindheit … Aber sei es drum.
Seine Kritiken waren bei den ansässigen Zuckerbäckern so gefürchtet, dass sich die Prämierungen der besten Kekskreationen sogar als nervenaufreibende Thriller-Szenarien darstellten. Während sich die Kontrahenten gegenseitig das Leben schwer machten, hatten sie Chris’ gefürchteten metaphorischen Rotstift im Kopf, paralysiert wie im Angesicht einer geladenen Halbautomatik.
Chris war gnadenlos. Während er bei den Zimtsternen eines Teilnehmers den allzu reichhaltigen Zuckerguss bemängelte und im selben Satz dessen Daseinsberechtigung infrage stellte, kritisierte er bei einer anderen Teilnehmerin die Ungleichmäßigkeit ihrer Vanillekipferl – nebst ihrer gänzlichen Nichteignung für diesen Beruf.
Chris’ Kritiken waren scharfzüngig, vernichtend und über die Maßen unfair und rücksichtslos. So war es kaum verwunderlich, dass viele der ortsansässigen Zuckerbäcker nach wenigen Jahren das Weite suchten, um außerhalb seines Einflussbereiches arbeiten zu können. Andere hatten hingegen mit Nervenzusammenbrüchen zu kämpfen, weshalb die Psychotherapeuten innerhalb seines Landkreises durchwegs große und schnelle Autos fuhren.
Von Keksen und Katastrophen
Chris Kindel saß in seinem Büro und las. Es war ein Kommentar zu seiner letzten Kolumne, in der er einen örtlichen Bäcker mit den Worten zerstört hatte: „Seine Lebkuchenhäuser sehen aus, als hätte ein betrunkener Weihnachtswichtel seine Notdurft darauf verrichtet, nachdem er eine Abrissbirne aus allzu harten Kokosbusserln geschwungen hatte.“ Die Leser waren empört, aber die Klickzahlen schossen durch die Decke, weshalb ihn sein Arbeitgeber auch weiterhin gewähren ließ. Innerlich grinste Chris hämisch, denn er wusste, er war der Dieter Bohlen der Weihnachtskritiker, einer, der immer sagte, was er dachte, und das mit Witz und – nun ja, zugegeben – einer gewissen destruktiven sadistischen Ader.
Doch genau in dem Moment, als er sich über seine eigene Brillanz amüsierte, kam eine unerwartete E-Mail herein. Die Absenderin: Luna, eine Bekannte aus der Kommune seiner frühesten Kindheit. Mit ihr hatte er im Sandkasten gespielt und sie hatten sich gemeinsam Geschichten ausgedacht, bevor Chris mit seinen Eltern wegzog. Luna hatte sich vor Jahren in die Kunstszene abgesetzt und mit esoterischen Malkursen für Furore gesorgt.
Der Betreff lautete: „Adventessen – komm, du brauchst das!“
Die Nachricht war kurz und dennoch typisch Luna: „Chris, ich weiß, du hältst Weihnachten für den schlimmsten Marketing-Trick der Menschheit. Aber bevor du wieder deine bissige Kolumne raushaust, komm doch vorbei. Keine Glitzerkatastrophen, keine gezwungene Fröhlichkeit – nur ein paar interessante Leute, gutes Essen und genug Wein, um die Weihnachtszeit halbwegs zu ertragen. Vielleicht überrascht dich der Abend. LG, Luna.“
Chris schnaubte laut. Ein Adventessen? Was kommt als Nächstes? Ein Singkreis mit Jingle Bells oder eine Runde Wichteln? Sein Finger schwebte schon über der Löschtaste, doch dann hielt er inne. Ein Abend, an dem Weihnachten nicht in Zuckerguss und Kitsch versank, sondern in Wein? Das klang fast … verlockend.
Außerdem war Luna nicht irgendwer. Ihre Fähigkeit, die abstrusesten Menschen zusammenzutrommeln, war legendär. Es reizte ihn, diese Gruppe einmal genauer unter die Lupe zu nehmen – nicht zuletzt, um sich später genüsslich daran zu erinnern, denn tief drinnen war er schon ein Freund des Genusses und der Geselligkeit, aber zugegeben hätte er es nie.
Ein Abend der besonderen Art
Luna lebte in einem aufgelassenen Fabriksgebäude, zusammen mit anderen Künstlern in einer Art WG. Da sie in einer Kommune groß geworden war, war sie die permanente Gesellschaft schließlich gewohnt.
Als Chris an diesem Abend bei ihr eintraf, hörte er bereits im Treppenhaus Stimmen, Gelächter und etwas, das wie ein Schlagzeugsolo klang. Als er eintrat, verschlug es ihm kurz die Sprache: Luna hatte ihre Wohnung in ein groteskes und anarchistisches Weihnachtswunderland verwandelt.
Überall hingen Girlanden, die offensichtlich aus recyceltem Zeitungspapier gebastelt waren. Ein „Weihnachtsbaum“ aus aufgetürmten leeren Weinflaschen thronte in einer Ecke, geschmückt mit LED-Lichtern. Auf dem Tisch stand eine Mischung aus selbstgemachten Gerichten und gekauften Snacks – darunter ein Käseigel mit Plastikschwertern im Leib.
Luna kam auf ihn zu, ein Glas Wein in der Hand, und grinste.
„Chris! Willkommen im Anti-Weihnachtswunderland. Wein? Oder etwas Stärkeres?“
Chris nickte zum Wein. „Ich nehme, was du hast. Hauptsache, es passt zu dieser … äh … Kunstinstallation hier.“
Luna lachte. „Oh, du bist noch nicht mal ansatzweise auf das vorbereitet, was dich heute erwartet.“ Sie führte ihn zu einer illustren Runde, die bereits mit Essen beschäftigt war.
Die Gäste
Chris setzte sich neben einen Mann namens Thorsten, der sich als „professioneller Weihnachtskritiker“ vorstellte. „Ach, endlich ein Gleichgesinnter“, dachte Chris. Doch schon nach fünf Minuten stellte sich heraus, dass Thorsten Weihnachtsfilme bewertete – mit einem selbst entwickelten Punktesystem, das alles von „Rentier-Echtheit“ bis zur „Emotionalen Weihnachtsbotschaft“ umfasste. Neben ihm saß eine äußerst gutaussehende Frau. Sie war Thorstens Freundin, die er von früher kannte, als er noch Pornos gedreht hatte.
Ihm gegenüber saß Carla, die stolz verkündete, dass sie dieses Jahr ein Buch über nachhaltige Weihnachtsgeschenke veröffentlicht hatte. „Es heißt Frohe Öko-Weihnacht: Vom up-gecycelten Birkenstock bis zur selbstgebrauten Zahnpasta.“ Chris nickte höflich, während er insgeheim überlegte, ob Zahnpasta überhaupt gebraut werden konnte.
Zwischen ihnen saß ein schweigsamer Mann namens Björn, der sich als Holzschnitzer vorstellte. Seine einzige Bemerkung während des gesamten Abends war: „Der Wein schmeckt nach Kork. Aber irgendwie passt das.“
Nach dem Essen kündigte Luna an, dass es Zeit für das „Hauptprogramm“ sei. Chris stöhnte innerlich und vielleicht fürchtete er sich heimlich auch ein bisschen. „Wahrscheinlich eine feministisch-pantomimische Darstellung über Christi Geburt, mit getanzten kirgisischen Untertiteln“, dachte er bei sich.
Doch es kam anders. „Heute Abend werden wir ein modernes Krippenspiel aufführen!“, verkündete Luna stolz. „Jeder von euch hat eine Rolle.“
Chris überlegte, einfach aufzustehen und zu gehen, doch bevor er reagieren konnte, drückte Luna ihm ein Stück Papier in die Hand. Darauf stand: „Rolle: der zynische Hirte.“
Die Aufführung, ein unheiliger Mix aus Improvisationstheater und völliger Planlosigkeit, war eine Katastrophe – aber genau deshalb so witzig. Thorsten samt Freundin spielten Josef und Maria, die in zuckenden Bewegungen den Geburtsvorgang darstellten, jedoch wusste niemand so genau, wieso Thorsten auch zuckte. Carla laberte als einer der Weisen etwas von Gold und Quecksilberbelastung, und Luna glänzte als Weihnachtsstern, indem sie die Szenerie mit ihrer Taschenlampe erhellte.
Als Chris an der Reihe war, stolperte er mit einem theatralischen Schrei über seinen eigenen Stock: „Die Schafe laufen weg! Das war’s mit dem Heiligen Abend!“ Doch da war auch noch Björn das Schaf, der trocken entgegnete: „Das Problem bist du, Hirte. Nicht wir.“
Die Runde brach in schallendes Gelächter aus. Björn stand gemächlich auf, klopfte sich den Staub von den Knien und fügte hinzu: „Manchmal muss eben auch ein Schaf seine Wahrheit sagen.“
Der Abend war ein Highlight in Chris’ Leben. Er fühlte sich wohl unter den schrägen Vögeln, und plötzlich wurde auch ihm bewusst, dass gut auch jenseits der Norm liegen kann.
In Absprache mit den anderen schrieb Chris in seiner Kolumne über den Abend. Doch diesmal war sie anders. Statt einer weiteren Abrechnung mit Weihnachten entschied er sich, das Chaos und die Absurdität zu feiern. Er beschrieb das Krippenspiel mit einer Mischung aus Humor und Zuneigung:
„Manchmal braucht es keinen perfekten Baum, keine glänzenden Kugeln und keine wohltönenden Chöre. Manchmal reichen ein improvisiertes Krippenspiel mit schrägen Typen, ein Käseigel und ein bisschen zu viel Wein, um Weihnachten zu retten.“
Die Kolumne schlug ein wie eine Bombe. Leser schickten ihm ihre eigenen Geschichten von chaotischen Weihnachtsfesten, Chris’ E-Mail-Postfach war so voll wie nie zuvor.
Chris entschied sich, diese Geschichten aufzugreifen und in seiner Kolumne zu veröffentlichen. In seiner kritischen Betrachtung von Weihnachten waren nun auch positive Töne wahrnehmbar, nämlich jene, die die Andersartigkeit feierten.
Vielleicht versöhnte sich hier auch der kleine, gemobbte Chris mit der Welt, die ihn damals nicht akzeptieren konnte? Zumindest die Psychotherapeuten der näheren Umgebung hätten mit diesem Fall ihre helle Freude gehabt.
Ein paar Tage später klingelte es an Chris’ Tür. Vor ihm stand Luna, ein breites Grinsen im Gesicht und eine Tüte in der Hand. „Ich dachte, du könntest ein bisschen Weihnachtsdeko gebrauchen“, sagte sie und drückte ihm die Tüte in die Hand.
Drinnen fand er einen winzigen Weihnachtsbaum – offensichtlich von Björn aus Holzresten geschnitzt – und eine Packung Lametta. Zusammen mit Luna stellte er den Baum auf seinen Couchtisch – zwar ein bisschen widerstrebend, aber doch mit einem Lächeln. Zum ersten Mal seit Jahren wich die Nüchternheit seines Zuhauses etwas Glänzendem – wenn auch nur ein bisschen.
Luna und Chris trafen sich fortan regelmäßiger und, wie könnte es in einer Weihnachtsgeschichte auch anders sein, verliebten sich ineinander. Chris feierte fortan kein einziges Weihnachtsfest mehr allein, denn er hatte eine neue Familie aus schrägen, liebenswerten Vögeln gefunden.
Ein neues Talent
Nach dem triumphalen Erfolg seiner Kolumne und dem Happy-End-Abend bei Luna war Chris Kindel nicht mehr der Gleiche. Er hatte plötzlich eine völlig neue Perspektive auf die Dinge – und vor allem: eine neue Muse.
Gehypt durch das positive Feedback seiner Leserschaft, entschied sich Chris, nun auch ein Buch zu schreiben. Ein lustiges Buch, das ein wenig seine eigene Geschichte erzählte, in der es um ein Happy End ging. Natürlich genau dann, als der verbitterte Protagonist schlussendlich seine Heimat und neue Perspektiven fand.
Das Buch, Arbeitstitel „Von Zimtsternen und Zynikern“, wurde ein Überraschungserfolg. Leser lachten, weinten und schickten ihm ihre eigenen verrückten Erlebnisse. Chris entdeckte etwas, das er nie für möglich gehalten hatte: Es machte ihm Freude, Menschen zum Lachen zu bringen.
Chris Kindel wurde ein Botschafter des unperfekten Weihnachtsfests. Seine Kolumnen wurden zur jährlichen Tradition, in denen er die absurden, chaotischen und manchmal rührenden Geschichten seiner Leser teilte. Und obwohl er immer noch den Biss eines Kritikers hatte, war es nun ein Biss, der zum Lachen anregte – und nicht mehr zum Zittern.
Eine süße Versöhnung
Auch mit den Zuckerbäckern fand Chris einen neuen Umgangston. Eines Tages überredete Luna ihn zu einem Backkurs bei einem seiner früheren „Opfer“ – einem Bäcker, dessen Windringe er einst mit einem besonders unschmeichelhaften Vergleich, die Analregion betreffend, bedacht hatte.
Als der arme Zuckerbäcker ihn in der Gruppe Lernfreudiger entdeckte, wurde er kurz etwas blass um die Nase, aber schlussendlich war der Kurs ein Erfolg, denn Chris wollte gemeinsam mit Luna lernen, wie man gute Kekse machte. Beide liebten den Süßkram, aber vor allem liebten sie es, gemeinsam zu backen.
Weihnachten würde bei Kindels künftig also auch backfreudig ablaufen, in illustrer Runde jedoch auf jeden Fall zum Abkeksen.
Verena Tretter
www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 25054
ja, recht locker amüsant, mit sanftem happyend vielleicht ein bisserl süß, aber wer mag schon ewig bitter?