Jeden Donnerstagabend nach der Arbeit am Institut für Theoretische Festkörperphysik las ich im Café am Fluss die schwere Ausgabe einer Wochenzeitung. Einmal fiel mir eine großformatige Anzeige auf, die die Implantation von Mikrochips, die relevante persönliche Daten speicherten, in den menschlichen Körper bewarb. Die Firma New Spirit bezog die Chips aus dem Fernen Osten, stattete sie mit der erforderlichen Software und mit einem biokompatiblen Schutzglas aus und richtete die vollständige Technologie ein, etwa am Eingang von Häusern, Wohnungen, an Autos usw. Die persönlichen Daten würden verschlüsselt, hieß es, so sei man gegen Angriffe von Hackern geschützt. Die Anwendung bei Haus- und Nutztieren sei bereits Routine. Besonders behinderte Menschen könnten die Vorteile, die ständig weiterentwickelt würden, nutzen. Die Implantation, ein kleiner medizinischer Eingriff, werde von dem erfahrenen Arzt Dr. Axel Matt vorgenommen. Die juristischen Belange seien ausgearbeitet, ein Vertrag zwischen New Spirit und einer interessierten Person müsse abgeschlossen werden.
Die Werbung machte einen seriösen Eindruck, die Technologie als Ergänzung des Menschen weckte meine Neugier. Der Chip vereinheitlichte Funktionen von Bankomat- und Kreditkarten, Karten im Gesundheitsbereich, und statt einer Unzahl verschiedener Karten und Schlüsseln, die man jederzeit verlieren konnte und die eine Menge Platz einnahmen, hatte man alle wichtigen Daten auf dem Chip, die ein geeignetes Gerät lesen konnte.
Ich war fasziniert, gleichzeitig begleitete mich ein mulmiges Gefühl vor dem Unbekannten. Nicht nur der Reiz der neuen Entwicklungen, auch das Wissen, in meinem persönlichen Umfeld eine Vorreiterposition einzunehmen, setzte sich gegen meine Bedenken durch. Ich kontaktierte die Ansprechperson Dr. Axel Matt, der mich zu einem Gespräch einlud. Im Internet und auf der Homepage von New Spirit bereitete ich mich darauf vor. Als ich Dr. Matts Büro betrat, saß mir ein Mann mittleren Alters im weißen Poloshirt mit dichtem schwarzen Haar, dunklen Augen und schwarzem Schnurrbart gegenüber, auf dessen schmalem Gesicht ein Lächeln lag. Er erhob sich und ging mir entgegen, dabei fiel mir auf, dass er um einiges größer war als ich. Wir stellten uns einander vor.
„Kaffee?“, fragte Dr. Matt.
„Lieber ein Glas Wasser“, sagte ich. Eine Dame brachte es umgehend.
Der Mikrochip werde, sagte Dr. Matt, unter der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger implantiert. Das Gespräch, in dem er mir die Technologie erläuterte, bestärkte meine positive Einstellung, auch die Kosten für mich hielten sich in Grenzen. Nach ein paar Tagen des Nachdenkens unterschrieb ich den Vertrag, erschien zum vereinbarten Termin, wählte die linke Hand und ließ mich auf dem Behandlungsstuhl nieder. Dr. Matt nahm eine örtliche Betäubung vor. Ich konnte auf einem Monitor verfolgen, wie er mit einer Art Injektionsnadel das kleine Ding in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger injizierte. Die Öffnung in der Haut nähte er nicht, sondern klebte ein Spezialpflaster darüber. „Das war’s“, sagte er, „ich werde mir die Folgen des kleinen Eingriffs anschauen. Das Pflaster kann ich bald entfernen. Nachwirkungen sollte es kaum geben, vielleicht etwas Jucken, das Sie mit einer Salbe behandeln. In der ersten Zeit wird Sie der Fremdkörper irritieren, aber dieses Gefühl wird wahrscheinlich verschwinden. Wenn nicht, wenn gar Ablehnung entsteht, entferne ich den Chip wieder und Sie müssen leben wie bisher.“
Der Juckreiz hielt sich in Grenzen, den war ich wegen meiner trockenen Haut sowieso gewohnt. In den ersten Tagen störte mich in der Tat das Gefühl, ein fremdes Teil in mir zu tragen, das eher dem Wissen davon geschuldet war, weniger einem physischen Empfinden. Bald spürte ich nichts mehr. Ich nutzte die Funktionen des Chips, betrat mein Haus, den Keller, die Garage, öffnete mein Auto, bezahlte im Supermarkt. Es war phantastisch! Die Funktionen schienen von mir selbst auszugehen, als genügte allein mein Wille.
Nach einigen Wochen waren keine Kontrollen mehr notwendig. Aber Dr. Matt schlug vor, uns regelmäßig zu einem Austausch zu treffen, der meine Erfahrungen mit dem Mikrochip betreffe, aber auch darüber hinausgehen könne. Wir trafen uns im Café am Fluss. Dr. Matt saß an der Spiegelwand und las in der Zeitung. Wir begrüßten uns, und ich nahm ihm gegenüber Platz.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
„Alles bestens“, sagte ich.
„Ich habe nichts anderes erwartet“, sagte Dr. Matt. „Sie sind zwar ein Pionier für die Implantation, aber auf unser Inserat, das wir regelmäßig schalten, melden sich immer mehr Menschen, zum großen Teil Männer, leider, doch gibt es auch einige interessierte Frauen.“
Am Nebentisch spielten zwei Männer Schach. Dr. Matt erzählte, dass er, als er in Frankfurt am Main als Neurologe tätig gewesen sei, in der 2. Deutschen Bundesliga gespielt habe. Ich hingegen kam bloß in der Kreisliga zum Einsatz. Wir fragten den Ober, ob es eine Schachgarnitur gebe. Der bejahte und brachte sie umgehend. Nach zwei raschen Partien merkte ich, dass sich unsere Spielstärken haushoch zugunsten Dr. Matts unterschieden. Wir spielten ohne Uhr, und er kommentierte unsere Züge.
„Gens una sumus ist der Leitspruch der FIDE, des Weltschachverbands“, sagte er.
„Ich weiß“, sagte ich.
„Wenn wir schon Familienmitglieder sind, „können wir uns doch duzen.“
„Einverstanden. Ich bin Gregor.“
„Und ich Axel.“
Von da an trafen wir uns jeden Donnerstagabend nach meiner Zeitungslektüre. Meist spielten wir zwei Partien Schach, dann unterhielten wir uns. In Dutzenden Partien erreichte ich vielleicht drei, vier Remis. Bald beschränkten wir uns darauf, dass ich Axel meine in der Kreisliga gespielten dürftigen Partien zur Analyse vorlegte. Das war mir lieber, als Analysemodule im Internet zu befragen. Eines Donnerstagabends sagte Axel, er habe einen Vorschlag, der mich vielleicht interessiere.
„Du machst mich neugierig“, sagte ich.
„Wir arbeiten mit dem Zentrum für Hirnforschung am hiesigen Klinikum zusammen“, sagte Axel, „und mit mehreren Einrichtungen, die sich mit künstlicher Intelligenz auseinandersetzen, wie du weißt.“
„Mach’s nicht so spannend“, sagte ich.
„Wir haben Mikrochips entwickelt“, sagte Axel, „die gewisse Hirnfunktionen unterstützen und als Ergänzung des Menschen Großartiges werden leisten können.“
„Das hört sich ja nach Science Fiction an“, sagte ich und merkte, wie Leidenschaft in Axel keimte.
„Mittlerweile“, setzte er fort, „sind wir der Realität sehr nahe. So wollen wir Chips entwickeln, die den Wortschatz einer Sprache beinhalten, sodass kein Mensch mehr Vokabeln lernen muss. Wir denken auch daran, Syntax und Semantik zu programmieren. Niemand muss dann mühsam Grammatik, Interpunktion und Orthographie lernen. Gleiches gilt für Fremdsprachen. Und wir sind zuversichtlich, bald gegen das Vergessen erfolgreich zu sein, Erinnerung zu speichern, ohne dass sie verblasst.“
Axel beschrieb die Pläne von New Spirit zwar sachlich, aber ich merkte, dass er seinen Enthusiasmus zügeln musste. Er setzte fort: „Dich dürfte Folgendes besonders interessieren. Wir haben einen Mikrochip mit Schachsoftware entwickelt, den wir ins menschliche Gehirn einpflanzen und der die Gedanken und Impulse der spielenden Person steuert, jedenfalls bereichert.“
Ich war hellhörig geworden. „Und gibt es damit schon Erfahrungen?“, fragte ich.
„In den Vereinigten Staaten ja“, sagte Axel, „in Europa weniger, da ist New Spirit Vorreiter. Der Chip ist fix und fertig, er wartet nur noch auf seinen Einsatz. Deshalb suchen wir Testpersonen, die sich den Chip ins Gehirn einpflanzen lassen.“
Axel machte eine Pause. Es war mir klar, dass er gerade mich darauf ansprach, der ich neuen Technologien gegenüber offen war und für Schach etwas übrighatte. Die neue Anwendung bewegte sich im Neuland, das machte den Reiz aber nur noch unwiderstehlicher.
„Ich weiß, worauf du hinauswillst“, sagte ich. „Ich will’s wagen, obwohl ich gleich an rechtliche und ethische Fragen denke.“
„Darauf gehen wir im Vertrag ein“, sagte Axel. „Wir sprechen vor der Implantation selbstverständlich darüber. Zur Sicherheit warten wir bis übermorgen, dann kannst du den Vertrag studieren und darüber nachdenken.“
Gespannt, wie es weitergeht?
Dann am besten gleich weiter zu Teil 2 der Geschichte ...
Günther Androsch
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