Moderne altmodisch gedacht – treffen sich zwei per Mausklick statt per Kupplerin. Bloß ein paar wenige Sätze in den Bildschirm getippt, und spontan vor dem großen, alten, alles überragenden Dom verabredet.
Die U-Bahn ist voller Nachtschwärmer, Spätschichtler und Exzentriker, entweder noch hellwach oder schon im Halbschlaf, manchmal hochschreckend, in der Hoffnung, die eigene Station noch nicht verpasst zu haben. Seine Stimme – noch immer ein Schauer über ihrem Rücken, wenn sie an das kurze Telefonat denkt. Dann endlich, nach wenigen Stationen, erreicht sie, etwas zu früh, ihr Ziel. Im Stimmengewirr der nachtaktiven Menge wartet sie nervös neben dem alten, schweren, hölzernen Tor des Doms. Ob die Realität das verheißungsvolle Versprechen halten oder brechen wird?
Durch die nächtliche Beleuchtung erhält das alte, pompöse Gebäude eine unheimliche Aura, die Anna, unsere Protagonistin, immer wieder aufs Neue faszinierend findet.
Schließlich sieht sie ihn – Valerio, unser Protagonist, erscheint auf der Bildfläche. Von ihrem Standort aus blickt sie genau auf den Auf- beziehungsweise Abgang zur U-Bahn-Station. Nervös lächelnd kommt sie ihm entgegen – sie sieht aus wie auf ihren Bildern: warme Rundungen, langes Haar, das im Laternenlicht dunkelblond erscheint, ein sanftes Lächeln, unsicher – darf er Beschützer sein?
Die junge Frau weiß sofort, dass sie in seiner Gegenwart sicher ist, ein Blick in seine ruhigen, dunklen Augen genügt. Als er sie umarmt, lässt sie es geschehen, sich von der Vertrautheit einfangen. Die Finger in die des anderen eingehakt schlendern sie durch die nächtlichen, von der Sommerhitze pulsierenden Gassen Wiens. Schließlich führen ihre Schritte sie zum Donaukanal, der unter dem spärlichen Licht der Laternen seines nächtlichen Weges fließt. Die Lichter der umliegenden Lokale und Straßenlichter spiegeln sich auf der sonst, ob der späten Stunde, unsichtbaren Wasseroberfläche.
Sie finden ihren Platz auf der obersten Stufe einer zum Wasser hinabführenden Treppe. Zwei zerkratzte Herzen haben sich gefunden, die Worte überschlagen sich, als sie aus den noch jungen Mündern fließen, bis alles erzählt ist. Und doch halten sie von Zeit zu Zeit schweigend inne, sich fragend, was gerade passiert, woher dieses Vertraute gerade kommt. Die gelegentlichen Ströme vorbeiziehender Nachtschwärmer lassen kurz aufhorchen, innehalten. Bricht der Zauber ob des kurzen Einfalls der restlichen Welt? Doch nichts bricht, nur zwei Köpfe, die sich wieder aneinanderschmiegen, Hände, die sich finden, nacheinander greifen. Die lange Nacht ist kurz, die Stunden schnell vergangen. Als Valerio auf die Uhr blickt, ist es halb vier. Langsam setzt bei beiden die Müdigkeit ein, weshalb sie aufbrechen, noch am Donaukanal entlangspazieren, bis zur nächsten U-Bahn noch einige Umwege nehmend. Die Nacht trägt sie, doch schon bald muss sie dem neuen Tag weichen. „Darf ich dich bis vor deine Haustüre bringen?“, fragt Valerio, „ich möchte nicht, dass du alleine um diese Uhrzeit fahren musst!“ Anna nickt, lächelt – freut sich. Sie küssen sich erneut, wie so oft in den letzten Stunden.
Wenige Tage vergehen, Valerio holt Anna zum ersten Mal von der Arbeit ab. In der Hand hat er einen Strauß Lilien, sich erinnernd, dass sie ihre Lieblingsblumen erwähnt hat. Das Strahlen in ihren Augen freut ihn, doch die abwehrenden Worte, sie hätte diese liebevolle Geste nicht verdient, treffen ihn. Warum ist sie so hart zu sich selbst, anstatt es anzunehmen, die vorhandene Freude überhand nehmen zu lassen? Wochen, Monate vergehen, im Schein zwei sich näherkommender Leben. Valerios Herz klopft jedes Mal vor Freude, wenn er merkt, dass Anna sich ihm öffnet, doch ihr häufiges, nachfolgendes Verschließen trifft ihn umso mehr. Jedes Mal. Manchmal, wenn Anna Valerio beobachtet, reut sie ihre Angst, gleichzeitig fühlt sie, dass auch seine Angst größer wird. Fühlt immer einen kleinen Stich in ihrem Herzen, wenn er von Freundschaft plus spricht und doch so viel Zuneigung zeigt, sie beschützen will.
Es ist ein ungewöhnlich warmer Oktoberabend, als Anna Valerio zufällig sieht – wer wohl die Frau ist, mit der er scheinbar so vertraut ist? Als er Anna entdeckt, zuckt er zusammen, verabschiedet sich rasch und kommt auf sie zu. Zum ersten Mal löst Betretenheit Vertrautheit ab, auch wenn keiner der beiden darüber spricht. Anna lächelt, verabschiedet sich schnell, ehe Valerio viel sagen kann. Schweigend blickt er ihr nach – die Zuneigung zu ihr und die Angst vor Enttäuschung ringen miteinander. Doch zeigt sich, die Angst ist zu vertraut, die Komfortzone zu bequem. Das Herz wird wehmütig, wenn der Wind sich dreht – wenn gefühlt werden soll, was nicht gefühlt werden will.
Der Ton der Nachrichten verändert sich in den nächsten Tagen, der Blick scheint durch sie hindurchzusehen. Anna fühlt sich wieder wie das kleine Mädchen, das nicht gesehen wurde, wenn es seinen Eltern etwas erzählen wollte. Und die Nähe fühlt sich falsch an – Anna wehrt sich sichtlich mehr als sonst.
Es regnet, als Anna und Sarah im Regen von der Arbeit zur nahegelegenen Shopping-Mall hasten. Anna ist müde, hat sich dennoch von ihrer Freundin und Kollegin zu einem Kaffee überreden lassen, ehe sie den Heimweg antreten. Gerade als sie das Einkaufszentrum, in dem sich ihr Lieblingscafé befindet, betreten wollen, fällt Annas Blick auf den eine andere Frau küssenden vertrauten Mann. Er erschrickt, als er hochblickt, so hätte sie es nicht erfahren sollen. Nicht so, nicht hier, am besten gar nicht, denkt er, er wollte keine Tränen. Anna ist regungslos, nur für einen kurzen Moment, ehe sie weitergeht, ohne Valerio und die Frau weiter zu beachten. Unterdrückte Tränen, während in ihr alles schreit und tobt ...
Vergiss ihn, sagt der Verstand. Doch das Herz klopft, wehrt sich die Vernunft übertönend. Anna ist schweigsam, abwesend. Sarah fragt nicht nach, hat es mitbekommen, will nicht weiter in der Wunde stochern.
Eine Hand streift Annas Unterarm, als sie das Gebäude verlassen – Valerios Blick ist sehnsuchtsvoll distanziert, er will etwas sagen, sich erklären, um den erwarteten Gefühlsausbruch zu besänftigen. Anna verabschiedet sich von Sarah und sieht Valerio an, ohne sich anmerken zu lassen, dass ihr Herz zu zerspringen droht. Doch die Erklärung ist lahm – es fühlt sich gerade richtig an. Anna schüttelt nur den Kopf, verlässt die Szene wortlos, weil Herz und Verstand die Worte fehlen, sie nichts mehr hören will. Doch das Herz lässt sich nicht leicht trösten, die Intuition nicht überlisten. Die Wochen vergehen wortlos, intensiv. Ein vermissendes Herz, Augen, die Augen in der Menge suchen. Doch die vertrauten Blicke kreuzen sich nicht, bis Anna ihren letzten Arbeitstag hat. Und schließlich das vernichtende Facebook-Update: Valerio ist in einer Beziehung.
Die Monate vergehen, langsam hält der Frühling Einzug, verzaubert die Welt mit seiner unschuldigen Schönheit. Ohne Annas Wissen fragt sich Valerio oft, wie es Anna geht, vermisst das Gefühl, das er hatte, wenn er mit ihr zusammen war. Anna wünscht sich oft, sie wäre mutiger gewesen, hätte seine Zuneigung vorbehaltlos angenommen.
Doch bleibt es am Zufall hängen, den ersten Schritt zu machen, da die beiden es nicht wagen, zum Telefon zu greifen. Es ist ein milder Frühlingsabend, als Anna in die U-Bahn steigt und einem bekannten Gesicht gegenübersteht. Sie lächelt, ohne es bewusst wahrzunehmen – genau wie Valerio. Und dieses Mal flüstern beide: Angsthase adieu ...
Cornelia Hell
www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25087
Phantastisch lebensecht geschrieben, ja, erzählt. Nachempfindbar!