Wir wissen nicht viel über Manfred Obernhuber: Er soll am 17. Oktober 1942 in der Gegend der Rax das Licht der Welt erblickt haben, als erstes und einziges Kind der Martha Obernhuber. Kein Vater, kein Religionsbekenntnis. Die Mutter ist nur unter dem Namen des Hofs (‚Obernhuberhof‘) bekannt, für den sie sich bis zur Entbindung abgerackert hat, nachdem sie als Kleinkind von einem Flüchtlingspaar da vergessen wurde.
Die Hebamme kennzeichnet in ihrer Werkliste Manfred mit einem Herz, was in der ansonsten sehr schwer lesbaren Niederschrift ein Erfolgserlebnis bedeutet. Aus den Eintragungen geht allerdings nur der Zustand des neuen Erdenbürgers hervor – wie es diesbezüglich mit der Mutter aussieht, ist da nicht herauszulesen – doch kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Martha Manfreds Geburt nicht überlebt hat.
Die Eintragung ins Pfarrregister erfolgt erst ein knappes halbes Jahr später, sein Geburtsdatum wird mit Mitte Oktober 1942 angegeben, das Wort ‚Mitte‘ ist offensichtlich später durch ‚am 17.‘ ersetzt worden, die Geburtszeit war ursprünglich mit ‚gegen Abend‘ vermerkt und wurde durch ‚18.00 Uhr‘ ersetzt.
Die Hebamme ist heute längst tot, schon längst unter die Räder gekommen, im konkreten Fall unter die wuchtigen Pneus eines Traktors, den seinerzeit der Gruberbauer etwas unvorsichtig durch die Landschaft gelenkt haben soll, aber auch er liegt längst schon klaftertief im Gottesacker.
Manfred hat auch keine Kinder oder sonstigen lebenden Verwandten: Wer die Vollwaise Manfred Obernhuber über die Runden gebracht hat, bis sie die örtliche Volksschule besucht und absolviert hat, weiß niemand im Ort. Niemand weiß auch, was er nach seinem Abgang eigentlich die ganze Zeit so getrieben hat, wo er gewohnt und womit er seinen Unterhalt bestritten hat – bis er dann letzte Woche aus der Pitten gefischt worden ist: aufgeschwemmt, tot, viel zu viel Wasser getrunken im Bach.
Alltag für die Kommissare Koller und Hauer. Es war Mord – zumindest muss Obernhuber in eine gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt gewesen sein, bevor er ins Wasser gefallen ist.
Anhaltspunkt dafür sind die Blutspuren am Brückengeländer in Pitten selbst, dem mutmaßlichen Tatort. In der Berichterstattung in Presse und Funk wird die Bevölkerung um Mithilfe gebeten, auch jeder Hinweis zum Mordopfer, Manfred Obernhuber, sei wertvoll, heißt es in den Aufrufen. Obernhuber war laut Zeugenaussagen angeblich seit Jahren von Zeit zu Zeit im neuen Supermarkt gesehen worden, wo er sich mit einigen langlebigen Lebensmitteln und alkoholischen Getränken eingedeckt hat, die er dann in einem alten Einkaufswagerl abtransportiert hat. Mehr ist aber aus den Leuten nicht herauszukriegen, keiner will sonst etwas über den Mann wissen, niemand hat ihn persönlich gekannt.
Koller und Hauer nehmen die Informationen lustlos auf, betreiben ein paar Tage lustlos Recherchen und schließen nach wenigen Tagen lustlos die Akte – schließlich gibt es in einem Kommissariat Besseres zu tun, als sich mit unlösbaren Fällen aufzuhalten. Koller öffnet also die Lade mit der vergilbten Aufschrift: ‚Ungelöste Fälle‘.
Im selben Augenblick – der Fall Obernhuber fliegt gerade auf einen Stapel alter vergammelter Akten zu – läutet das Telefon. Hauer hebt gelangweilt ab, wirkt aber nach wenigen Sekunden plötzlich hellwach. Geistesgegenwärtig schaltet er die Mithöreinrichtung an: ‚Ich war‘s, der den Obernhuber runtergekippt hat!‘ ruft ein Mann ins Telefon, den Verkehrslärm übertönend. Es raschelt in Hörer und Lautsprecher und eine andere Stimme ertönt aus dem Hintergrund: ‚Nein! Ich war es! Glauben Sie ihm nic ...!‘. Die Beamten vernehmen ein dumpfes Geräusch, nach einiger Zeit meldet sich wieder der ursprüngliche Anrufer und spricht jetzt leise, aber eindringlich: ‚Glauben Sie mir: Ich war es. Ich hab den Obernhuber noch nie leiden können. Sie können den Fall abschließen – ich komme ins Kommissariat. Ich bin gleich da.‘
Der Anrufer legt auf, Hauer sieht zu Koller, der achselzuckend die Akte Obernhuber wieder aus der Lade holt. Nachdenklich legt er sie auf seinen Schreibtisch und schlägt sie wieder auf.
‚Naja,‘ meint er ‚da wird der Oberkommissar ja sehr zufrieden mit uns sein. Erfolgreiche Lösung eines Gewaltverbrechens in ...‘, er macht einen Blick auf den Kalender der örtlichen Sparkasse, blättert zwei, drei Mal ... den wievielten haben wir eigentlich?‘
Koller blättert vor und zurück und fasst dabei den begonnen Satz noch einmal zusammen: ‚Naja, da wird der Oberkommissar ja wirklich sehr zufrieden mit uns sein. Erfolgreiche Lösung eines Gewaltverbrechens in ein paar Stunden. Das soll uns erst einmal wer nachmachen.‘
Wenige Minuten später klopft es an der Tür. ‚Herein‘ sagen Koller und Hauer ungewollt unisono. ‚Grüß Gott.‘ – Ein Mann, so um die fünfzig, tritt ein, seine Haare sind es, die sein Alter vermuten lassen, es sind nicht mehr so viele, wie es einmal gewesen sein mussten, sind sicherlich heller, als sie einmal waren, auch die Spannkraft hat mit der Zeit gelitten.
‚Sie heißen?‘
‚Ewald Baumann‘ antwortet Ewald Baumann und nimmt seine saubere Brille ab, um sie zu putzen. ‚Und Sie wünschen?‘, fragt Koller, der nach den Regeln im Polizistenspiel ‚Der Aggressive und der Verständige‘ den Verständigen spielt.
‚Ich möchte eine Selbstanzeige erstatten.‘
‚Dann nehmen Sie doch bitte Platz‘, fordert Koller Baumann auf, während er einen zerbrechlich wirkenden Stuhl, der schon viele andere Kommissare gesehen haben muss, neben seinen Schreibtisch schiebt: ‚In welcher Angelegenheit wollen Sie Selbstanzeige erstatten?‘, fragt Koller freundlich.
‚Ich habe den Obernhuber umgebracht.‘
‚Warum?‘, knurrt nun Hauer von seinem Arbeitsplatz herüber – doch er wird keine Antwort auf diese Frage bekommen: Vor dem Büro gibt es einen unüberhörbaren Tumult, schon wird die Tür aufgerissen und ein unrasierter älterer Herr in einem vergammelten Mantel stürmt herein: ‚Ich hab Sie vorhin angerufen. Ich war es. Wenn Sie mich jetzt bitte festnehmen würden.‘
Die beiden Kommissare sind kurz sprachlos und perplex und verwundert und irritiert. Koller fasst sich zuerst, erkennt aber auch gleich, dass es keinen Sinn hat, die beiden mutmaßlichen Täter parallel zu befragen und meint daher: ‚Dann … kommen Sie doch bitte mit.‘
Koller verlässt mit einem der geständigen Mörder das Büro, Hauer weiß nun nicht recht, wie er dieses seltsame Verhör alleine bestreiten soll und ist so fast erleichtert, dass jetzt wieder das Telefon läutet. ‚Oberinspektor Hauer, hallo?‘
‚Guten Tag, mein Name ist Unterbrunner. Ich bin die Mörderin vom Obernhu ... ‚ ertönt eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher, den Kropatschek geistesgegenwärtig aber etwas zu spät abschaltet. Konzentriert hört er der Anruferin zu, meint schließlich zu ihr: ‚Dann kommen Sie bitte aufs Kommissariat.‘
Noch im Auflegen blickt Hauer Herrn Baumann konzentriert und lauernd in die Augen, beginnt langsam und leise: ‚Nun zu Ihnen, Herr Baumann ...‘
‚Die Anruferin lügt. Ich war es ... ich kann Ihnen die ganze Geschichte erzählen.‘
In diesem Augenblick kommt Koller zurück, meint an Baumann gewandt: ‚Warten Sie bitte einen Moment draußen bei den anderen – ich muss kurz mit meinem Kollegen sprechen.‘
‚Aber, ...‘
‚Nix da! Raus!‘
Widerwillig verlässt Herr Baumann das Büro, Hauer wartet einige dramatische Sekunden und enthüllt schließlich seinem Kollegen die neuesten Informationen: ‚Eben hat wieder wer angerufen. Eine Frau. Sie will die Mörderin vom Obernhuber sein.‘
‚Draußen warten auch schon fünf oder sechs. Ganz versteh‘ ich das nicht: Warum wollen die alle den Obernhuber umgebracht haben?‘
‚Keine Ahnung – normalerweise bin ich froh, wenn wir einen Verdächtigen haben. So viele vereinfachen die Sache nicht wirklich.‘
‚Und – wie geht‘s jetzt weiter?‘
‚Na, was sollen wir schon machen? Wir werden sie der Reihe nach verhören, die Aussagen protokollieren, unterschreiben lassen – und sie bei einem Geständnis nach Neustadt bringen. Ich erwarte mir zwar außer viel Arbeit von der Aktion nicht viel, aber – was sollten wir sonst tun?‘
‚OK. Mir fällt auch nix Besseres ein.‘
Es wird ein anstrengender Abend im Kommissariat Reichenau. Es melden sich weitere Geständige, es gibt ein unüberschaubares Gedränge – schließlich müssen Nummernzettel für die Reihenfolge der Verhöre verteilt werden. Einige Mörder gehen dann doch nach Hause, versprechen aber, am nächsten Tag wiederzukommen, wenn nicht mehr so viel los ist. Dabei ist das Spektrum an Mördern weit gestreut: Ursprünglich vor allem der Sandlerszene und dem Rotlichtmilieu zuzuordnen, kommen schließlich auch immer mehr Handwerker, Kaufleute, Gastronomen, Architekten, Behördenvertreter, Künstler, Bankangestellte, Hausfrauen, Anwälte und sonstige Vertreter bürgerlicher Berufe – auch ein Bürgermeister einer angrenzenden Gemeinde ist dabei und ein Landtagsabgeordneter.
Und sie alle behaupten, ein Tatmotiv zu haben, aber kein Alibi, alle wollen es gewesen sein. Die Verhöre reduzieren sich schon aus Zeitgründen bald auf die beiden Fragen ‚Waren Sie es?‘ und ‚Warum?‘, gefolgt von der Aufforderung, das Protokoll mit dem Geständnis zu unterschreiben.
Die meisten unterschreiben auch gleich, einige bestehen darauf, dass auch Details der Tat ins Geständnis aufgenommen werden, was die Prozedur weiter verzögert. Manche melden Sonderwünsche an wie beispielsweise der Anwalt, der sich selbst verteidigen will – zum Zeitpunkt aber über seine Verteidigungsstrategie noch nichts verraten will: Er will sie sich in den Wochen der Untersuchungshaft zurechtlegen. Oder der Bauarbeiter Franz Holler, der zusammen mit dem Lindorfer Eduard eingesperrt werden will: ‚Ich war´s und der Lindorfer Eduard auch.‘
Schließlich überschwemmt eine Welle an Selbstbezichtigungen Reichenau: zuerst regional, später landesweit, schließlich international: Die Mordkommission hat es schließlich mit um die 17.800 Menschen zu tun, die sich selbst der Mordtat bezichtigen – Stand: Ende Jänner. Anfang März sind es bereits 96.700 Täter, die schwören, Manfred Obernhuber in jener trüben Nacht den entscheidenden Stoß versetzt zu haben.
Es ist kein Fall wie jeder andere, noch nie hatte es eine derart unglaublich große Anzahl an Geständnissen gegeben. Am 5. März ist die 100.000er-Marke erreicht, der glückliche Jubilar ist ein 84-jähriger Eskimo – die Bilder der Unterzeichnung seines Geständnisses gehen um den Erdball.
Auch sonst lauert in diesem Fall natürlich überall die Presse: Hauers stereotyp-bissige Antwort auf die bohrenden Fragen der Journalisten ist jeweils: ‚Den Großteil der Täter haben wir bereits gefasst.‘
Anfang April brüstet sich auch der Gouverneur von Ohio, ein ehemaliger Sheriff namens Links, bei den Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen für die Liberalen mit dem Slogan ‚I did it‘ und erreicht mit dieser Aussage eine überwältigende Mehrheit, obwohl ihm davor von den Meinungsumfrageinstituten keinerlei Chancen, auch nur die 2%-Marke zu erreichen, eingeräumt worden waren.
Hierzulande beteiligen sich nahezu alle Leser an einer Umfrage der reichweitenmäßig größten Tageszeitung und knapp über 8o Prozent davon wollen den Mord selbst begangen haben, der Rest bezichtigt sich zumindest der Mittäterschaft.
Ende August legt sich die Aufregung etwas, nachdem sich herausstellt, dass die ermittelnden Behörden schlampig gearbeitet haben: Manfred Obernhuber selbst war schon Jahre zuvor im Allgemeinen Krankenhaus eines natürlichen Todes gestorben, wenn Leberzirrhose aufgrund unmäßigen Alkoholgenusses als natürlicher Tod bezeichnet werden kann. Bei dem Toten aus der Pitten handelt es sich vielmehr um Friedhelm Pflaster, einen depressiven Lehrer, der einen mehrere Seiten langen Abschiedsbrief hinterlassen hat, den er persönlich seiner Frau – und in Kopie auch seinem Anwalt und der Polizeidienststelle – zukommen hat lassen. Die Verletzungen hatte er sich auf seiner Unterwasser-Flussfahrt zugezogen, das Blut am Brückengeländer stammt nicht von ihm, sondern von einem Jugendlichen, der mit seinem Moped und überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen war.
Koller und Hauer werden vom Dienst suspendiert und später – auch aufgrund von weiteren haarsträubenden Ermittlungsfehlern – selbst angeklagt und sind so im Dezember die Einzigen, die im Zusammenhang mit dem Fall Obernhuber inhaftiert werden.
Christoph Stantejsky
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