Das Schiff

Das Leben ist eine immerwährende Verwandlung. Dennoch besteht unser Hauptbemühen darin, den flüchtigen Augenblick festzuhalten und zu bewahren. Wir suchen Sicherheit gegenüber Veränderungen, die unweigerlich über uns hereinbrechen. Wie jämmerlich ist unsere Angst, wie überflüssig unsere Anstrengung, wie lächerlich unsere Hybris.
Verwandlung geschieht unmerklich und ständig, auch wenn wir die Augen davor verschließen und uns festhalten wollen am Bekannten und Sicheren.
Dabei ist die Fähigkeit zur Verwandlung unser größtes Geschenk. Nehmen wir es an, wird uns der Himmel zuteil, verweigern wir uns ihm, bleiben wir gefangen oder binden uns selbst die Fesseln. Wollen wir die Zeit nützen, machen wir uns zu Sklaven. Lernen wir, uns verwandeln zu lassen, werden wir frei.

In meiner Kindheit gab es eine entlegene Einöde, in der ein Mann lebte, der eines Tages damit begann, ein Schiff zu bauen. Man redete davon, wie verrückt es sei, an einem Hang, einem sanften Hügel im Bayrischen Wald ein Schiff zu bauen. Trotzdem ließ der Pionier sich nicht beirren und werkelte unverdrossen auf der Wiese neben seinem Haus. So entstand eine Arche. Das ging langsam vorwärts und zog sich jahrelang hin. Er muss Pläne studiert und Bücher gewälzt haben, um diese Idee in die Tat umsetzen zu können.
Lange habe ich nur davon gehört und mir das Wachsen dieses Schiffes in meinem Inneren ausgemalt. Es ergab sich keine Gelegenheit, es anzuschauen. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht ansehen. Mir genügte das Bild, das ich davon im Kopf hatte. Davon ging so viel Kraft aus und es lebt bis heute in mir.

Ich stellte mir vor, im Bauch dieses Schiffes zu sein, als eine Passagierin im Zwischendeck. Im Deutschen Museum in München gibt es dazu eine eigene Abteilung, die meine diesbezügliche Vorstellung speiste. Ärmliche Familien, die nach Amerika auswandern und wochenlang darben. Ich bin an Bord und breche in die Neue Welt und ein neues Leben auf, voller Hoffnung, dem alten für immer zu entrinnen, sobald Manhattan am Horizont erscheint. Dabei gibt es keinen anheimelnderen Ort als den Bauch des Schiffes, der trotz der Enge, der Dunkelheit und des Dröhnens so viel Geborgenheit besitzt. Auch der Ozean erscheint mir nicht als Gefahr. Das Wasser schaukelt meist sanft, manchmal auch etwas fester, auf dass ich seekrank werde, aber das macht mir keine Angst. Das Schiff trägt mich über den Ozean und eigentlich will ich nie ankommen. Die Bilder der Neuen Welt können gar nicht so verlockend sein.

Einmal kam ich aber dann doch am Schiff auf der Wiese vorbei. Es war auch schon fast fertig und grau verschmiert. Ich wunderte mich über die Höhe des Rumpfes. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie tief ein Schiff im Wasser liegt. Ich sah es auf der Wiese neben dem kleinen Wohnhaus stehen, festgezurrt, allzeit bereit zum Stapellauf. Dieses Bild hat sich eingeprägt. Ob es jemals zum fernen Meer gelangt ist, hab' ich nie mehr erfahren. Ich wollte es auch nie mehr wissen. Vielleicht steht es ja immer noch dort und wartet auf den rechten Augenblick. Was kann einem noch passieren, wenn man ein Schiff im Garten hat, wohlgemerkt ein seetaugliches.

Jahre später las ich den Leviathan von Joseph Roth und erinnerte mich wieder an das Schiff auf der abschüssigen Wiese. Der Korallenhändler Nissen Piczenik aus Progrody will nach Kanada auswandern, um dem Unglück zu entfliehen, aber es kommt zum Schiffbruch. Anstatt sich zu retten, folgt er dem Sog der Korallen, um neben dem Leviathan Frieden zu finden. Wie fix kann doch eine Idee werden, dass man der rufenden Stimme folgen muss, und sei es bis auf den Grund des Meeres. Auch den Schiffbauer aus dem Bayrischen Wald muss ein ähnlicher Ruf erreicht haben.

Insgeheim hoffe ich, dass der graue Rumpf unverändert auf der Wiese wartet, inzwischen schon verwittert und etwas morsch geworden. Das Schiff steht sicher da und kann keinen Passagier der Verlockung der Fluten aussetzen und dem Ruf der Meerestiefen. Und dann möchte ich wieder darin wohnen, losgelöst von der Zeit, im seligen Dämmern des Halbdunkels, ohne das geringste Bedürfnis, nach draußen zu gehen.
Einfach zu stehen, zu sitzen, zu liegen und zu horchen. Den anderen Sinnen bieten sich keine Reize. So höre ich auf ein Knacksen im Holz als Zeichen der Bewegung im Außen. Ein Klopfen macht mich neugierig und ich bewege mich in die Richtung, aus der es kommt. Vielleicht klopfe ich zurück, aber ich glaube eher nicht. Ich fühle mich ja nicht gefangen, sondern geborgen. Dann höre ich ein sanftes Rauschen, ein Wind streichelt die Außenwand. Die Umarmung ist auch innen zu spüren. Selbst ein Sturm kann dem Schiff nichts anhaben, er will nur auf sich aufmerksam machen. Es gibt die Bewegung im Außen, das darf man nicht vergessen.
Und nach dem Hauch sehne ich mich dann auch, so wie der Korallenhändler Nissen in Joseph Roths Geschichte sich nach dem Leviathan sehnt.

So kehre ich immer wieder mit meinen Gedanken zu dem Schiff auf der Wiese zurück und habe mich dort längst eingerichtet. Zu einem Stapellauf wird es wohl nie mehr kommen, der wird ja auch von niemandem mehr erwartet.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15006

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