Auch so eine Geschichte

Die Sachlerin ist eine Frau in den Siebzigern. Sie ist mir schon öfter auf der Straße begegnet und hat mich freundschaftlich mit Griaßde angesprochen. Aha, bist auch wieder mal zu Besuch. Sie lächelt einen offen an. Ihre Augen haben etwas Direktes und Ehrliches, ihre Züge sind einladend. Eine einfache Frau, auf die Verlass ist, die im Leben steht, die nicht so leicht etwas umhaut. Sie ist nicht allzu groß, eigentlich gedrungen, und kräftig gebaut. Vielleicht wirkt sie aber auch nur so, weil ihr im Laufe ihres Lebens einiges unverdaulich war. Diesen ganzen Ballast hat sie sich als Schutzschicht, als Polster gewissermaßen, um die Figur gewickelt. So kann ihr kaum mehr etwas was anhaben. Ich habe sie nur in Stoffhosen mit akkurater Bügelfalte, flachen bequemen Schnürschuhen, weiten Pullovern und Anorak gesehen. Ihre Sach‘ hat sie sauber beieinand‘, der Garten ist gepflegt, das Haus ordentlich, die Fenster geputzt.
Die Sachlerin weiß, was sich gehört, und weiß auch, was sie im Leben zu tun hat. Nie konnte sie faul sein, immer hat sie sich gekümmert, immer war sie mit dem zufrieden, was ihr der Herrgott zugedacht hat, wenn es auch, weiß Gott nicht immer leicht war. Mit vielem hat sie sich abgefunden, mit anderem hat sie sich eingerichtet, aber auch jetzt begegnen ihr noch Situationen, ja Schicksalsschläge, die ihr schwer zusetzen.

Der Hund von der Sachlerin heißt Rexi. Er ist eine Dame, aber als die Sachlerin das feststellte, hatte sie schon ihren männlichen Namen. Ein Name ist ein Name, den kann man nicht mehr ändern. Jetzt läuft die Rexi halt mit einem männlichen Namen durchs Leben. Wen kümmert das schon? Rexi habe ich schon viel früher als seine Besitzerin kennengelernt. Wenn ich bei Monika zu Besuch war, hat sie immer vorbeigeschaut und die Elli besucht. Die Elli ist ein keiner Spitz mit rotbraunem Fell und sehr klugen braunen Augen. Wenn Rexi vor der Haustür stand, lief Frau Elli hin, bellte kurz, damit jemand öffnete. Schnell und energisch wetzte Rexi durch den Türspalt, nahm wenig Notiz von Mensch und Tier, sondern lief schnurstracks zum Futternapf, den sie ratzeputz leer fraß. Dabei beobachtete sie die Elli von oben herab. Sie verachtet es, den niederen Trieben so nachzugeben, ließ Rexi aber gewähren. Sie ist halt irgendwie ganz anders, einfacher, direkter, primitiver, aber wenn sie Hunger hat, soll sie fressen. Die Charaktere sind unterschiedlich und man muss Verständnis für jeden aufbringen.
Wenn die Monika mitbekommen hat, dass Rexi wieder alles aufgefressen hat, hat sie liebevoll verärgert gesagt: Geh Rexi, lass der Elli doch auch noch was übrig. Aber das hat Rexi nicht bekümmert. Vielmehr hat sie Monika bedrängt, Nachschub zu holen. Meist hat sie ihr dann auch noch ein Stangerl gegeben, das ist wahrscheinlich für Hunde so etwas wie für uns Menschen ein Ripperl Schokolade.
Rexi ist eine Promenadenmischung. Kopf und Schweif haben etwas vom Schäferhund, der Körper ist unheimlich lang und kräftig. Deswegen hat Rexi auch unablässig Hunger. Die Beine passen nun überhaupt nicht zum restlichen Erscheinungsbild. Sie sind viel zu kurz, also Stummelbeine. Eine taktlose Cousine von der Monika hat angeblich einmal im Beisein von Rexi laut ausgesprochen, was man nie ausspricht, ja nicht einmal denkt: Was für ein greißlicher Hund! Rexi hat das gehört, hat sich abgewandt und ist heimgegangen. Verständlicherweise war Rexi gekränkt und ist nie mehr gekommen, wenn jene Cousine zugegen war.

An dieser Begebenheit kann man sehen, wie feinfühlig Rexi trotz ihres derben Aussehens ist. Außerdem ist sie unheimlich klug. Sie versteht jedes Wort und kann die Menschen einschätzen. Auf sein Frauchen, die Sachlerin, hört sie. Sie weiß, dass sie sich auf sie verlassen kann. Genauso geht es der Sachlerin mit Rexi. Die Gesellschaft ihres Hundes ist ihr lieber als die von manchem Menschen. Von den Menschen ist sie schon oft enttäuscht, gekränkt und verlassen worden. Rexi wird das nie tun, sie ist treu. Aber beleidigen lässt sie sich nicht und Kraftfutter braucht sie auch regelmäßig. Dafür garantiert die Sachlerin. Die beiden können sich aufeinander verlassen. Oft machen sie zusammen einen Spaziergang durch das Neubaugebiet, am überaus großzügig und praktisch gebauten Feuerwehrhaus vorbei, durch die Felder und Wiesen bis zur Bahnstation und wieder zurück. Rexi geht brav an der Leine, pieselt an so manchen Baum, macht ihr Häufchen, das die Sachlerin dann in ein Plastiksackerl verpackt und mit nach Hause nimmt. Ordnung muss sein!

Der Sohn von der Sachlerin heißt Alois und wohnt noch mit ihr im Haus, obwohl er schon um die fünfzig ist. Oft hört man sie: Geh, Alois! sagen. Er geht zwar fleißig zur Arbeit, ist auch sonst verlässlich, benimmt sich aber insgesamt wie ein Kind. Niemand weiß, warum der Alois nicht erwachsen werden kann. Es ist für eine Frau nicht leicht, sich ihr Lebtag lang um ein dem Alter nach erwachsenes Kind zu kümmern. Da hören das Sorgen und die Plackerei ja nie auf. Davon hat die Sachlerin nun weiß Gott in ihrem Leben mehr als genug gehabt und es wäre an der Zeit, dass endlich einmal Schluss damit ist.

Vor Jahren hat eine der Töchter eine Gehirnblutung bekommen. Es war an einem Sonntagnachmittag am Badesee. Alles ging ganz schnell. Der Annelies wurde plötzlich schlecht, sie wollte mit dem Radl heimfahren und da fiel sie auch schon bewusstlos um. Die Rettung wurde gerufen, brachte sie in die Ambulanz, operierte, versorgte sie und versetzte sie ins künstliche Koma. Am nächsten Tag waren sich die Ärzte sicher, dass da nichts mehr zu machen sei. Sie bereiteten die Sachlerin wenig einfühlsam darauf vor, dass die Annelies nicht mehr ins Leben zurückkehren werde. Aus diesem Grund wollten sie die lebenserhaltenden Maschinen wenige Tage später abschalten. Diese erschütternde Nachricht war sogar für eine gestandene Frau wie die Sachlerin zu viel. Sie wollte auf keinen Fall ins Grab ihres eigenen Kindes blicken. Alles, bloß das nicht!
Die siebenmalklugen Ärzte waren offensichtlich mit ihrem Latein am Ende. Jetzt konnte nur noch der Herrgott helfen. Sie fuhr also am Heimweg vom Spital sofort am Pfarrhof vorbei, läutete den Herrn Pfarrer heraus, erzählte ihm die ganze Geschichte und forderte unerbittlich von ihm, sofort alle verfügbaren Kräfte zum gemeinsamen Gebet zu mobilisieren. Der Herr Pfarrer konnte gar nicht mehr anders, als in der Frühmesse die ganze Gemeinde um das inständige Gebet für Annelies zu bitten. Schließlich ging es um Leben und Tod. Das Dorf betete mit einer bis dato ungekannten und ungeahnten Ernsthaftigkeit. Die Kunde pflanzte sich sogar über das Dorf hinaus fort. Alle beteten ohne Unterlass, stellten sogar die Arbeit hinten an, und, oh Wunder, Annelies erwachte aus dem Koma und wurde erstaunlich schnell gesund.
Die gescheiten Ärzte konnten es nicht verstehen, aber was verstehen die denn überhaupt. Für die Sachlerin war von da ab klar, welche Kraft das Gebet hat, und sie hat sich auch nicht mehr gescheut, sich energisch dafür einzusetzen und selbstsicher über etwaige Widerstände hinwegzusetzen.
So kam es zur Gründung des Gebetsvereins im Dorf. Dreimal wöchentlich treffen sich die eingeschriebenen Mitglieder und beten gemeinsam für Anliegen, die ihnen zugetragen werden. Meines Wissens gehören dem Verein ausschließlich Frauen an, Männer haben ja meist Wichtigeres zu tun. So manche Not konnten sie damit schon lindern, manchen Schicksalsschlag abmildern, Gottes Hilfe herbeibitten und das oft recht schwere Leben erträglicher machen.

Die Sachlerin kann also so manches in die Wege leiten. Sie verfügt über beträchtliche Energie und schafft es auch, Menschen für sich und ihre Anliegen zu gewinnen. Darüber hinaus kümmert sie sich und hilft gern, wo Not am Mann ist. Sie ist keine, die man bitten muss, sie sieht selber, wo sie gebraucht wird, wo sie Hand anlegen muss. Viele waren schon oft froh über ihre unkomplizierte Hilfe. Die einen lädt sie zur Leberknödelsuppe ein, den anderen putzt sie die Stube oder übernimmt die Wäsche. So ist die Sachlerin!

Im vergangenen Sommer hatte sie mit dem Alois einen großen Ärger, ein ziemliches Gescherr sozusagen. Da hat ihm doch tatsächlich eine blondierte Tschechin den Kopf verdreht. Der dumme Bub hat sich in das Frauenzimmer verliebt, und keiner konnte ihm die Sache ausreden. Auf seine Mutter, die Sachlerin, hat er überhaupt nicht gehört. Die flotte Tschechin ließ sich sogar von einem Zuhälter vorbeibringen, machte dem Alois schöne Augen, ging mit ihm spazieren und ließ sich von ihm alles bezahlen. Alois zahlte gern, gab ihr sogar mehr, als sie wollte, bis seine Ersparnisse aufgebraucht waren. Alle warnten ihn, alle sagten ihm klipp und klar, was das für ein Weiberleit sei, aber der einfältige, verliebte Bub glaubte niemandem.

Die Monika meint, dass das so offensichtlich gewesen sei, aber man hat nichts machen können. Plötzlich ist die hübsche Tschechin nicht mehr gekommen, und beim Alois hat der Liebeskummer angefangen. Niemand hat ihn mehr trösten können. Dabei war ihm gar nicht um das Geld und das Auto leid, das er dem niederträchtigen Frauenzimmer so leichtfertig angehängt hat. Vielmehr litt er so unbeschreibliche Qualen, weil sich diese Frau in seine Seele eingeschlichen hat. Er hat ihr, wie es seine Art ist, alles geglaubt, und dabei hat sie es gar nicht ernst gemeint. Sie hat ihn belogen, hat ihn ausgenützt, hat ihn zutiefst verletzt. So etwas tut man nicht, aber es gibt Menschen, die schrecken nicht vor derart gemeinen Handlungen zurück, wenn für sie ein Vorteil herausschaut.
So muss der Alois nun mit seinem verwundeten Herzen durchs Leben gehen, und seine Mutter kann ihm auch nicht mehr helfen. In der Sonntagsmesse traut er sich gar nicht mehr zur Kommunion zu gehen, weil er sich vor Gott schämt und vor sich selbst und vor all den anderen, die ihn scheinheilig fragen: Na Alois, wie geht’s dir denn? Ja, geht schon, antwortet er kurz angebunden und lächelt jenes verzweifelte Lächeln. Beim Alois ist etwas ganz empfindlich aus dem Lot geraten und er muss mit diesem gewaltigen Kummer seine Tage verbringen, und die Sachlerin muss zuschauen und kann ihrem Bub nicht helfen. Dabei hat sie in der Tat schon mehr als genug mitgemacht.

Ihr Mann hat sie bereits vor Jahren verlassen. Eines Morgens hat sie ihn erhängt im alten Stall gefunden.

Hängt sich der einfach auf und lässt mich mit all der Mühsal allein zurück. Das schaut ihm ähnlich, einfach abhauen, wenn es schwierig wird. Hängt sich der doch tatsächlich auf! Mein Gott, so was tut man nicht. Warum hat er denn nicht geredet?  Ich hatte ja keine Ahnung! Warum hat er denn sein Maul nicht aufgemacht? Ich hätte doch für ihn beten können. Aber nein, stur wie er ist, hängt er sich einfach gleich auf. Ich kann schauen, wie ich zurechtkomme. Als ich ihn so hängen hab' sehen, hab' ich mit ihm geschimpft, aber dann hat er mich auch gleich wieder erbarmt. Leicht hat er es ja auch nie gehabt. Von jung auf hat er schwer gearbeitet, dass wir es zu was gebracht haben und dann ist ihm alles zu viel geworden und er hat das Saufen angefangen. Irgendwann hat er gemerkt, dass er so auch nicht mehr weitermachen kann und dann hat er von einem Tag auf den andern mit dem Saufen aufgehört. Da war er dann ständig so niedergedrückt und er hat an überhaupt nichts mehr eine Freude gehabt. Die feinsten Sachen hab' ich ihm gekocht, ein Rindfleisch mitten in der Woche, aber auch das hat ihm nicht mehr geschmeckt. Arbeiten hat er nicht mehr wollen und Fernsehen auch nicht mehr. Ich hab' nicht mehr gewusst, was ich noch machen soll. Das ist einige Zeit so gegangen und dann hab' ich ihn im Stall gefunden.

Jetzt ist die Sachlerin schon jahrelang Witwe, und auch daran hat sie sich gewöhnt. Als ich sie beim Spazieren gehen treffe, sagt sie, dass sie von ihrem Mann noch den schönen Trachtenanzug im Schrank hängen hat. Auch die Feuerwehruniform hat sie aufgehoben genauso wie den leichten Sommeranzug. Sie habe es einfach nicht übers Herz gebracht, alles wegzugeben. Es dauert, bis man sich an jemanden gewöhnt, und es dauert auch, bis man sich von jemandem trennt, bis man ihn loslassen und verabschieden kann. Bis dahin soll sein Gwand im Schrank hängen bleiben. So ist das.

Als die Totenmesse für Frau R. gelesen wurde, habe ich die Sachlerin von einer ganz anderen Seite kennengelernt. Selbstbewusst trat sie ans Lesepult, streckte sich nach dem Mikrophon, faltete ihre Notizen sorgfältig auseinander und sprach mit fester Stimme, indem sie liebevoll auf den vor ihr stehenden Sarg mit der verstorbenen Freundin blickte. Aus tiefstem Herzen brachte sie viele bewundernswerte Begebenheiten zur Sprache, die Frau R. im Laufe ihres Lebens ganz selbstverständlich vollbracht hat. Niemals hatte sie darüber auch nur ein Wort verloren, weil sie ihr so unbedeutend erschienen. Sie sollen und dürfen aber nicht vergessen werden. Überall hat Frau R. geholfen. Sei es bei Familien, denen die Mutter weggestorben ist, oder bei hinfälligen alten Leuten. Die Sachlerin vergisst nicht darauf zu verweisen, dass sie selber einmal nach einer schweren Operation nahe daran gewesen sei, die Lebensfreude und vor allem auch die Lebenskraft gänzlich zu verlieren. Die Ärzte haben ihr nicht mehr helfen können, wie denn auch? Nerventabletten haben sie ihr verschrieben, aber das sei auch kein Leben mehr gewesen. Völlig verzweifelt sei sie gewesen.
Da ist Frau R. immer wieder gekommen und hat mit ihr gesprochen, hat ihr von den Rosen und vom Sommer und den Enkelkindern und all den schönen Dingen erzählt, und man kann es kaum glauben: Langsam ist das Leben zur Sachlerin zurückgekehrt, und sie hat keine Nerventabletten mehr gebraucht und hat wieder angefangen all das zu machen, was man tagtäglich machen muss, weil es sonst ja auch nicht geht. Inzwischen sind Jahre vergangen, die Sachlerin hat wieder so viel Kraft bekommen, dass sie nun auch der Frau R. beistehen hat können in ihrer schweren Krankheit und auf ihrem letzten Weg. Das musste unbedingt noch gesagt werden. Vergesst es ja nicht!

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15038

 

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2 Gedanken zu „Auch so eine Geschichte

  1. Mag. Robert Müller

    Der Text ist wie Frischluft in ein verrauchtes kaltes ZImmer! Schöne schlichte Sprache! Wohl nur für älteres Publikum verständlich.

    Antworten
  2. Claudia Kellnhofer

    Sehr geehrter Herr Magister Müller,
    ich freue mich über Ihren Kommentar. Ihre Formulierung „wie Frischluft „ gefällt mir.
    Allerdings kann ich nicht ganz nachvollziehen, warum meine Geschichte nur für älteres Publikum nachvollziehbar sein soll. Abgesehen davon, dass junge Leute wahrscheinlich gar nicht mit meinen Texten in Berührung kommen, weil sie ja keine große Verbreitung finden, denke ich, dass meine Sprache durchaus auch jungen Leuten zugänglich ist.

    Viele Grüße

    Claudia Kellnhofer

    Antworten

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