Liebster Papa

Liebster Papa!
Ich hoffe, dort wo du jetzt bist, geht es dir gut? Heute habe ich dir vieles zu berichten. Angenehmes, aber auch Unangenehmes. Aber höre selbst. Das Leben hier hat sich, seit du von uns fort bist, sehr verändert. Weiß nicht, ob man sagen kann, zum Vorteil. Oft vermeinte ich schon, den Weltuntergang zu ahnen. Erinnerst du dich, Hemingway: „Aber der Weltuntergang läuft nicht so ab, wie Bobby es auf einem der großen Gemälde projektiert hatte. Er kommt mit einem von den Inseljungen, der die Straße vom Postamt heraufeilt, ein Radiotelegramm bringt und sagt: Bitte unterschreiben Sie hier auf dem abreißbaren Teil des Umschlags. Es tut uns leid, Mr. Tom!“
Zu mir hat der Postmensch nicht gesagt „Es tut uns leid.“ Er hat gar nichts gesagt, außer: „Ein Einschreiben.“ Er hält mir den Stift hin. „Da unten. Fest aufdrücken! Auf Wiederschaun.“ Vom Finanzamt. Ich denke daran, wegzufahren. Auf meine Insel.

Ach, Papa, wer auf meine Insel kommt, macht eine Zeitreise. Die Häuser, die Pflastersteine in den engen Gassen, die kleine Kirche oben am Hügel. Alles ist einige Hundert Jahre alt. In der näheren Umgebung gibt es eine Ölmühle, ein paar Weinkeller und Stallungen, inmitten von Olivenhainen, gesäumt von Orangen- und Zitronenbäumen. Die alten Gemäuer – alles liebevoll restauriert, den alten Stil beibehalten. Nichts, was das Auge stört. Kaum Asphalt.
Nicht so wie hier! Jeder Feldweg zuasphaltiert. Auch die Einfahrt beim Bürgermeister. Aber dort? Alles grün, dahinter das blaue Meer, der azurblaue Himmel, ein paar Federwölkchen, ganz hoch, nur ein Hauch. Eine Oase der Ruhe und Entspannung, geprägt von der Freundlichkeit der wenigen Einwohner, die nie um ein Lachen verlegen sind, wenn ich irgendwo auftauche.
Ach, Papa, ich wollte, du könntest es sehen! Ich weiß, dir wäre es viel zu heiß hier. Hitze konntest du nie ausstehen. Bist mehr der Typ fürs Kühle. Mama wäre gerne hier, denke ich, schon wegen ihrer Gicht. Auf der Insel gibt es kein Gemeindeamt. Überhaupt kein Amt. Gott sei Dank! Die Administration ist weit, weit weg, irgendwo auf dem Festland. Und Exekutive ist nicht nötig hier. Alles geht seinen jahrhundertealten Weg. Einträchtig, besonnen. Der Wein ist leicht und hell, beinahe ein Rosé. Man kann ihn zu jeder Tageszeit trinken, ohne sofort einen Schwips zu kriegen. Und das Brot! Dieses Brot, olivig, mit ein wenig Oregano, himmlisches Manna ganz einfach!

Auf meiner Insel ist eben alles anders. Die Jungen, wenn sie Spaß wollen, nehmen ein Boot und fahren ans Festland. Und wenn es daheim Feste zu feiern gibt, bleiben sie alle da. Die Alten, die haben das Sagen. Vor denen hat man Respekt. Nicht wie bei uns. Und die Jungen lassen sich was sagen von ihnen. Hören auf ihre Ratschläge.
Nicht so, wie … aber, höre selbst: Gar nicht so weit von uns beginnen die Jugendlichen zu rebellieren. Sie verwüsten die Innenstädte, zünden Autos an, werfen die Auslagenscheiben ein. Fragt man sich, warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht wollen sie die Kontrolle über die Straße haben. Ein wenig Machtfantasien ausleben. Macht, die sie nicht besitzen. Darum plündern sie, um das alles endlich auch zu besitzen, was die anderen schon lange haben.
Weißt du, ich denke, ihnen fehlt das soziale Bewusstsein. Wir Wirtschaftswunderkinder, wir sind da anders. Wir hatten erst nichts, dann ein wenig und schließlich haben wir alles gehabt. Radio, Fernsehen, Video. Richtig satt sind wir. Denen aber fehlt der Bezug zur Gesellschaft, würdest du sagen. Die Hoffnungslosigkeit hat sie erfasst. Aber diese Modefummel, oder was weiß ich, das alles ist kein Ersatz für das, was ihnen wirklich fehlt. Sie reden verschlüsselt und du kommst nicht ran an sie. Ihre virtuelle Welt ist aus dem Nichts entstanden, nicht gewachsen, wie unsere. Sie praktizieren eine Kultur des Diebstahls und der Fantasie, völlig ohne Regeln. Und weil ihnen niemand zuhört, müssen sie jeden Furz, den sie lassen, auch noch www-mäßig posten.
Aber eine ungeregelte Welt funktioniert nicht. Du weißt das, Papa. Ein Mensch braucht Regeln, hast du immer gesagt, weißt du noch?

Hier, auf meiner Insel, wird nicht viel geschrieben. Alles, was man so hört, lebt aus Erzählungen. Was man wissen muss, wird von Mund zu Mund weitergegeben. Meinetwegen wo’s die besten Fischgründe gibt, wo noch nicht alles leergefischt ist. Oder wo man eine tolle Disco findet. Auch der Mythos lebt aus den Erzählungen der Alten. Gottlob gibt es auf der Insel keine Politiker. Jeder macht seinen Job.
Für Hobbys hat man hier keine Zeit. Auch zum Streiten nicht. Nachdem hier niemand reich ist, gibt es auch keinen Neid, vor allem aber keine sozialen Spannungen und Gegensätze. Kein Stress, wer den größeren SUV hat und so. Weißt du, Papa, als ich damals zum ersten Mal hier an Land gegangen bin, wollte niemand eine Dienstbeschreibung von mir haben. Keiner wollte meine Zeugnisse sehen. Ist vielleicht auch besser so.
Auf ein Glas Wein haben sie mich eingeladen und wir haben gelacht, als ich erzählt habe, wo ich herkomme, wenn auch erst hinterher, denn: „Kommunista! Kommunista!“, hat der Priester gebrüllt, als ich Österreich sagte und ist von seinem Stuhl aufgesprungen und der wilde lange, graue Bart hob und senkte sich rhythmisch mit dem schweren Atem seines Besitzers. Aber der Lehrer hat ihn beruhigt. „No no, Avustria, Kreisky, Kreisky!“, hat er gesagt und ihn mit einer Hand an der Schulter genommen und wieder in den Sessel gedrückt.

Der Lehrer und der Priester, die beiden sitzen immer zusammen vor der Kneipe, sind mittlerweile meine Freunde. Einer der Fischer, Jannis, mit weißen Bartstoppeln im Gesicht und einigen Zahnlücken, hat mich früher immer zum Korallenriff mitgenommen, wo sie meistens fischen. Er ist im vorigen Sommer verstorben.
Dort liegt das Wrack eines alten Frachters. Es hatte Westwind gegeben, damals, sagte er. Die Wellen sollen fünf Meter hoch gewesen sein. Dann sind sie auf dem Riff hier hängengeblieben und schließlich gekentert. Einige aus der Mannschaft hatten sich retten können. Der Steuermann ist nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt, sondern hiergeblieben. Vor zwei Jahren ist auch er verstorben. Wir haben ihn alle sehr gemocht, fügte er hinzu. Portugiese. Er liegt jetzt auf dem winzigen Friedhof hinter der Kapelle, unweit von Jannis´ Grab.
Wenn ich mich so umsehe, denke ich, dass ich auch einmal dort liegen möchte. Es ist ein so friedlicher Ort. Keine aufgeblasenen Grabsteine, mit für sich vereinnahmten Riesenengeln, um die Wichtigkeit der darunter Liegenden pompös zu untermauern, wer sie nicht alle waren, und was sie zu Lebzeiten nicht alles besessen haben. Dort, Papa, spätestens dort sind wir alle gleich.

Im Norden der Insel liegen noch zwei kleinere Dörfer, mit ebenso malerisch weiß leuchtenden Häusern und einem idyllischen Fischerhafen. Dahinter das karge Felsplateau mit seiner schroffen Steilküste gegen Westen hin. Auf der anderen Seite aber habe ich eine versteckte, traumhaft weißsandige Bucht vorgefunden, mit türkisfarbenem, beinahe cremigem Wasser. Anfangs seicht, so drei vier Meter weit hinein, dann leicht abfallend. Und erst weiter draußen so um die zwanzig Meter tief.
Weißt du, Papa, du hast mir nie das Schwimmen beigebracht. Ich musste es erst viel später mühsam lernen. Das hat dich alles nicht interessiert, ich weiß. Du warst immer nur mit dir beschäftigt, mit deinen Bildern. Wolltest auch hinaus, auf deine Insel. Aber du hast uns dabei vergessen. Deine Frau, deine Kinder, beinahe. Trotzdem. Ich hätte deine Zuneigung so dringend gebraucht. Das Zehngang-Fahrrad! Alle hatten eins, bloß ich nicht. Von meinen Söhnen hat jeder eines von mir bekommen. Ich wollte nicht denselben Fehler machen.

Gestern war ich unten am Hafen. Mit Freunden. Es ist spät geworden. „Wirf diesen ganzen Ballast über Bord, den du da mit dir immer herumschleppst“, hat mir der Hafengjörgi, der Kneipenwirt, geraten. „Deine Notizbücher, die Dose mit den Schlaftabletten und das ganze andere Zeug. Alles Unsinn, Mann! Du nimmst dir für nichts richtig Zeit und dich selbst viel zu wichtig, du Österreicher du“, hat er gelacht! Dann hat er Ouzo für alle gebracht und hat sich eine Zigarette gedreht.
Könnte es sein, dass ich etwas falsch mache? Aber das habe ich alles schon irgendwann einmal gehört, denke ich – in einem anderen Zusammenhang etwa? Der romantische Individualismus wäre tot und so! Wirf diesen Ballast über Bord, Mensch! Einer wie du, der sich schon viel zu lange im Mittelpunkt seines eigenen Interesses aufhält, sollte in die Welt hinaus! Bin ich ja auch, Papa. Aber wie soll ich mich verwirklichen?
Soeben steckt das Finanzamt mein Urlaubsgeld ein. Ich hätte im vergangenen Jahr zu viel verdient! Dass ich nicht lache. Nein, es ist eher zum Weinen. Diese Leute, die wir da immer wählen, und die angeblich so viel Verantwortung für uns übernehmen, stecken sich die Taschen voll und verschwinden einfach, nachdem sie uns per Gesetz das Geld abgenommen haben. Das war schon immer so, höre ich dich sagen. Du musst es ja wissen. Warst ja lange genug hier.

Ach ja, und dieses Haus auf meiner Insel, in dem ich dann immer wohne, wenn ich hier bin, Papa, steht auf der höchsten Stelle, einer Art Landzunge. Es ist stark gebaut, beinah wie – wie eine Festung. Und es hat zwei Hurricans standgehalten. Ringsherum stehen eine Menge Palmen, ein wenig schief gewachsen, wegen des dauernden Westwindes. Wenn ich auf der Terrasse stehe, überblicke ich die Südseite der Insel, den weiten, weißen Strand. Nichts trübt meinen Blick. Nichts ist architektonisch künstlich hineingekleckert, so wie bei uns hier. Alles ist natürlich gewachsen.
Niemand wagt es hier, der Natur ins Handwerk zu pfuschen. Die Häuser, die Wege, die steinernen Terrassen, auf denen der Wein wächst, alles macht optisch irgendwie Sinn. Wirkt nicht so polarisierend wie bei uns. Fünf Bauten nebeneinander. Fünf verschiedene Architekten. Fünf grauenhafte Konstruktionen. Und jeder darf seinen Mist in die Landschaft hineinknallen, wohin, und wie er will, und die Gesetzeslage ermöglicht es auch noch. Alles gefördert, versteht sich! Scheißegal, wie das aussieht. Hauptsache, es ist lukrativ. Und wenn nicht, wird der ganze Plunder an jemanden verkauft, der angeblich noch Geld hat, und die Sache läuft munter weiter. Die Kunst, in der sich diejenigen üben, denen wir unser Vertrauen geschenkt haben, hat immer schon darin bestanden, dem dummen Volk einen stinkenden Misthaufen als Rosenbeet zu verkaufen. Und wir haben ihnen auch noch vertraut. Sie haben uns bitter enttäuscht.

Ich kann mich heute nicht entspannen, Papa. Andauernd denke ich an dich, was du zu all dem sagen würdest. Ja, ich weiß, du hast Schlimmeres erlebt, damals, an der Maginot-Linie.

Übrigens, wenn ich so von meinem Hügel hinunter aufs Meer schaue und den weißen Sand sehe, da fällt mir ein, wie ich eines Morgens alleine schwimmen war. Ich bin nicht weit hinausgeschwommen, weil ich ziemlichen Respekt vor Haien habe. Die Sonne war schon etwa dreißig Grad hochgeklettert, als ich einen Blick nach unten werfe. Ein langer, dunkler Schatten. Ich hebe den Kopf, angespannt wie ein Drahtseil. Schaue wieder ins Wasser. Der Schatten folgt mir. Wohin ich auch schwimme. Durch die kabbelige See ist die Sicht etwas behindert. Ich schwimme wie verrückt, um ans Ufer zu gelangen. Atemlos und völlig erschöpft laufe ich die letzten Meter im seichten Wasser auf den sicheren Strand zu, falle hin, schaue zurück und suche das Wasser ab nach dem Furcht einflößenden Schatten. Nichts zu sehen, denn es war mein eigener gewesen! Was bin ich nur für ein Trottel, dachte ich.
Was sagst du, Papa? Du warst nur selten mit mir im Strandbad. Und das mit dem Schwimmen, du weißt ja. Später, beim Frühstück, habe ich alles der alten Alina und dem Hafengjörgi erzählt. Was haben die gelacht! Und ich habe mitgelacht. Ach, was waren das für herrliche Tage! Ich wollte, du wärest hier. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie´s damals war, zu Hause, mit dir und Mama, den Schwestern. Ich habe noch den Schaum von Badedas in den Ohren, wenn ich daran denke, und meine nackten Füße laufen über grünes Linoleum. Mutter hat gerne immer das „e“ in Linoléum betont.
In Nachbars Garage stand ein DS 19, mit hydropneumatischer Federung und unsere Haushaltsgeräte waren allesamt von BBC. Nur das Radio war von Philips. Im halb verdunkelten Wohnzimmer hast du Dietrich Fischer-Dieskau gelauscht, begleitet von Jörg Demus am Klavier. Die kennt kein Mensch heute mehr. Und ich habe noch deine Stimme im Ohr, wenn du uns vorm Schlafengehen aus dem Märchenbuch vorgelesen hast. Man sagt, Kindern, denen man Märchen vorenthält, wird die Hilfe zur Aufarbeitung unbewusster Spannungen in der Fantasie versagt. Dadurch könnten sie angeblich emotional gestört bleiben.
Stimmt das? Was meinst du? Wenn ich so über uns als Familie nachdenke, haben wir eigentlich kaum Probleme gehabt. Ich habe dir bereits erzählt, wie´s anderswo derzeit so aussieht, mit den Jungen und so. Ich denke, wir haben uns natürlich auch alle am Materialismus orientiert. Vielleicht noch eine Nuance bescheidener. Aber bei uns hat es noch Geschichten gegeben, nicht war, Papa? Ich danke dir dafür. Ich fühle deine warmen Hände an den meinen, und wie du mich zugedeckt hast.

Normalerweise lese ich beim Frühstück gerne Zeitung. Gottlob gibt es auf der Insel nur einmal pro Woche eine, und die ist von der vorigen. Ich höre erst darin zu lesen auf, wenn ich gesättigt bin von den Negativschlagzeilen und den Sommerlochirritationen. Dann wird mir die Kluft zwischen dem, was uns vorgegaukelt wird und der Wirklichkeit wieder bewusst. Wenn einem ständig vorgekaut wird, was man haben muss, kann man sich gut vorstellen, dass manche an der Tatsache, nicht dabei zu sein, ganz einfach scheitern.
Plötzlich begreifen, dass man nicht hat, was andere längst haben. Zähneknirschend zur Kenntnis nehmen müssen, womit Eliten sich die Zeit vertreiben, wenn es im eigenen Bereich zum Nötigsten nicht reicht! Wo bloß falsche Versprechungen gemacht und keine Lösungen angeboten werden und die Raffgier und der Geiz zum Antrieb der Ökonomien verkommen sind, die sich im Spinnennetz der Korruption verfangen haben, tagaus tagein auf neue Beute wartend. Wo flotte Sprüche anstatt Sensibilität regieren. Dort ist der ideale Nährboden für das Entstehen einer maßlosen Wut. Kannst du das verstehen, Papa?

Ach, Papa, immer, wenn ich auf meine Insel komme, mache ich eine Zeitreise. Es sind nicht nur die Häuser, die Pflastersteine, die engen Gassen, die kleine Kirche am Hügel, die mich alles vergessen lassen, was die andere Welt so grausam macht. Alles hier atmet eine Zeit des Friedens aus. Gerne gehe ich an der Ölmühle, den Weinkellern und Stallungen, die inmitten der Olivenhaine liegen und gesäumt sind von Orangen- und Zitronenbäumen, vorüber. Lasse sie vorbeiziehen, wie einen Film, in dem ich keine Rolle spiele, nur Beobachter bin. Die alten Gemäuer – alles liebevoll restauriert.
Man hat den alten Stil ganz selbstverständlich beibehalten. Nichts gibt es, was das Auge stört. Alles grün, im Sommer vielleicht etwas brauner, von der Sonne ausgedörrt, aber sonst? Dahinter das blaue Meer, der azurblaue Himmel, ein paar Federwölkchen, ganz hoch, gerade noch zu sehen. Ein Ort der Ruhe und Entspannung, geprägt von der Freundlichkeit der wenigen Einwohner, die nie um ein Lachen verlegen sind, wenn ich irgendwo auftauche. Ach, Papa, ich weiß, ich habe dir bereits davon berichtet. Der Wein ist leicht und hell, beinahe ein Rosé und, wie du ja schon weißt, man kann ihn zu jeder Tageszeit trinken, ohne gleich betrunken zu sein.

Erinnerst du dich, wie du mir immer erzählt hast, als du mit dem Dr. Scheuhammer in Klöch warst? Du hast vom Rotwein dort geschwärmt. Und dass ihr zusammen einmal ein Glas zu viel getrunken hattet. Der Doktor, mit seinem alten VW Kübelwagen, es hat geregnet und das Verdeck klemmte. Ich habe dich noch nie so triefnass heimkommen sehen wie damals. Mama war in Sorge. Sie war ja stets in Sorge um uns, um dich. Du hättest dir in den nassen Sachen den Tod holen können, hat sie gesagt. Aber du hast bloß gelacht. Ich kann dich gut verstehen. Dieses Brot hier, Papa! Irgendwie olivig, mit wenig Oregano, wie himmlisches Manna, wirklich! Auf meiner Insel ist eben alles anders.

Zuhause besuche ich gerne den jüdischen Friedhof. Warst du jemals dort, Papa? Die Wege dort sind nicht asphaltiert, sondern mit Gras bewachsen. Ich gehe ganz vorsichtig. Meine Schritte sind nicht zu hören. Gelbe Blümchen wachsen auf den Wegen. Zwischen den Grabsteinen rankt sich Efeu, erklimmt die Grabsteine wie zum Schutz vor neugierigen Blicken und den Erinnerungen an die Vergangenheit. Der Zauber der Erinnerung - verblasst. Unten, am Sockel eines Steines ist zu lesen: Hier ruht mein liebster Gatte, von den Nazis im Konzentrationslager ermordet. Ich muss dann immer tief Luft holen. Bleibe stehen. Der Zauber der Erinnerung, denke ich dann, heiliger Wehmut süßer Schauer, haben innig uns durchklungen, kühlen unsre Glut. Ist nicht von mir, Papa, Novalis! Langsam gehe ich dann weiter. Über mir im Minutentakt Flugzeuge. Komisch ist das, mit den Namen hier.

Weg von den Josefs, den Karls und Franzen, den Pichlers, Schwarz und Krenns. Hier ruhen Jenni Goldschmidt, Sigmund Blau, Moses Grünbaum. Irgendwie – ich spüre eine Art Bruch. Es ist nicht wegen des Vorwissens. Die Gräber atmen etwas anderes aus, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es sind so viele Grabsteine, unglaublich. Ich denke, Sterben ist etwas Selbstverständliches, obwohl ich es nicht glauben kann, dass ich eines Tages … aber Leben, Leben ist etwas ganz Besonderes. Ich muss es für mich nützen, denke ich, nach den Erschöpftheiten mancher Hoffnungslosigkeit.

Die meisten Grabsteine sind aus schwarzem Marmor, ragen hoch empor, spitz, wie Obelisken. Nur wenige sind aus Sandstein, Biedermeier, mit Blumenranken. Manche sind umgefallen. Haben das schmiedeeiserne Gitter um sich herum erdrückt. Brennnesseln, wohin das Auge reicht. Noch nicht hoch. Jeden Schritt setze ich behutsam.

Mein Rücken schmerzt vom vielen Gehen. Ich lasse mich auf einem umgefallenen Grabstein nieder und raste eine Weile. Dieses Licht, das durch die hohen Thujen scheint, die zahlreich, gleich einem stillen Hain das ganze Areal mit ihrem Immergrün und den weit ausladenden Ästen bestimmen, taucht das Schwarz und Grau der Steine in wärmenden Frieden. Eine süße Sehnsucht ergreift mich, beinahe neidvoll denen gegenüber, die hier ungestört Teile des unendlichen Universums sind.
Vor mir das Grab eines Dr. med. Carl Robitsek. Ich muss unweigerlich an die Pension Schöller denken und schmunzle, (Max Böhm als Onkel Robitschek). Der Ehrgeiz plagt mich und ich versuche, die verwitterte Schrift auf dem Stein zu entziffern: „Wehklagt - die ihr - Talent und Tugend – und Kunst und Wissen ehret – immer redlich lobt. Der liebe Vater starb mir (Dativus ethicus) seinen Kindern – der liebevolle Gatte seinem Weib. Ein wacker Forscher in dem Dienst des Wissens – ein Menschentraum in diesem Grabe …“

Ach, Papa, nächste Woche, wenn ich auf der Insel bin, kann ich eine Zeit lang nicht mehr herkommen. Du verstehst? Wahrscheinlich bleibe ich drei Wochen hier. Und heute bitte, verzeih mir, ich werde auch schon so vergesslich, ich habe das Windlicht zu Hause vergessen. Die Streichhölzer auch. Aber ich habe noch rasch einen kleinen Strauß Magnolien mitgebracht. Hier! Gefallen sie dir? Die hast du doch stets am liebsten gemalt. Es sind auch ganz dunkelviolette dabei. Die Vase sollte man wirklich austauschen, die macht es nicht mehr lange.

Bitte, ich stelle sie ganz nahe an deinen Grabstein, damit sie nicht umfällt, sollte ein Sturm kommen. Ich küsse und denke an dich. Also dann, bis bald, wenn ich wieder zurück bin! Mach´s gut!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 15040

 

 

 

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