Die Krise 2 - Der Bürokrat

Ja, in Krisenzeiten hätte kritische Kunst vielleicht wieder so etwas wie Konjunktur erlangt. Vielleicht, könnte sein, meinte der Bürgermeister. Jedenfalls müsste man schon froh sein, wenn einmal etwas in Farbe wäre, meinte der Bürgermeister zu Stefanie Raymundo, die ihm am nächsten stand, und das müsse man der Künstlerin zugutehalten. Raymundo hob erstaunt ihren Kopf, als wäre sie von dieser Frage plötzlich überrascht worden. Mirando packte die Gelegenheit sofort beim Schopf. Schließlich war man hier in Zwicklingsau und nicht irgendwo! Das musste man doch klären. Seht doch, wie sie gleich erschrocken sei! Wer wüsste schon, woran sie gerade gedacht hätte?, sagte er. Und er, Mirando, setzte sein unverschämtestes Grinsen auf, das er in seinem Repertoire hatte, an welchem unschwer abzulesen war, woran er eben gedacht hatte.

Ob er sie zum Buffet begleiten dürfe?, nutzte Mirando sofort die kurze Ohnmacht Stefanie Raymundos aus, die, völlig perplex über dessen mehrdeutige Anspielung, kein Wort herausbrachte. Beinahe ferngelenkt willigte sie doch ein und ärgerte sich gleich darauf maßlos darüber, wie blöd sie eigentlich sei, diesem Idioten auch noch zu folgen. Sie ließen den Bürgermeister und Escortin ganz einfach stehen und gingen zum Buffet hinüber. Die Front der Gattinnen hatte sich vorübergehend in ein lockeres Gemenge aufgelöst, welches gut verteilt im Raum herumstand und vor allem den beiden keine Beachtung schenkte. Und das war vorläufig auch gut so. Mirando bat die Buffetkraft um zwei Gläser Sekt, schließlich war alles hier gratis. Ob sie Orangensaft dazu möchte, fragte er Stefanie. Ja bitte, aber nicht zu viel. Rembert Mirando goss etwas gepressten Orangensaft aus der gläsernen Karaffe in ihr Glas. Sie sahen sich in die Augen. Man prostete sich zu. Die Gläser stießen klirrend zusammen. So übel war er vielleicht gar nicht, durchfuhr es Stefanie, bis auf seine blöden Witze vielleicht, na, und das dämlich Grinsen. Aber sonst? Vielleicht ließe sie sich eines Tages zu einer Dummheit überreden, wer konnte es wissen? Schließlich war Rembert Mirando ein attraktiver Mann, und begehrenswert, zumindest wenn er den Mund hielt.
Kurze Zeit später wandelten Stefanie und Rembert mit ihren Sektgläsern interessiert von Bild zu Bild. Als sie an der Künstlerin Eva Vanin vorbeikamen, löste sich diese vom Kreise ihrer Bewunderer und streifte wie zufällig mit ihrem Handrücken der rechten Hand an jenen der linken Stefanies. Niemand der Anwesenden könnte etwas bemerkt haben, so zart, so unauffällig, so zufällig war dies geschehen. Wer denn der schmucke Amigo an ihrer Seite wäre?, fragte Eva, deren Tonfall man beinahe etwas Zynismus entnehmen konnte, neugierig. Oder sollte man Eifersucht sagen? Stefanie zeigte ihr makelloses Gebiss. Es sollte ein Lächeln darstellen. Der hier hieße Rembert Mirando. Ein aufdringlicher Bursche, wie sie nach kurzer Überprüfung sofort festgestellt habe. Solcher Menschen könne man sich in Gesellschaft unschwer rasch entledigen, ohne dabei nicht gleich einen Skandal nach sich zu ziehen. Aber Eva sollte sich keine Sorgen machen, wenn sie ginge, bliebe er noch hier! Diese Aussage schien die Künstlerin zu beruhigen, denn sie versuchte sich in einem gütigen Lächeln, hinter dem sich gelbe Eifersucht verborgen hielt.
Stefanie Raymundo ließ sie keinen Augenblick unbeobachtet, als sie sagte, man sollte vom Staat ein Konjunkturprojekt für Künstler einfordern, etwa in der Höhe von einigen Hunderttausend Euro und endlich von den Unsinnigkeiten des Deficit Spending für Autohäuser und Verkehrswege absehen. Etwas mehr Kultur hätte der Menschheit noch nie geschadet. Daraufhin meinte Mirando, er verstünde, dass man heutzutage von der Kunst allein nicht leben könne. Andererseits jedoch führte, wie man weiß, eine angemessene Enthaltsamkeit bei Künstlern zu einem gewissen Zweck. Dann fügte er noch rasch hinzu, sie wisse doch, nur ein hungriger Künstler sei ein guter Künstler. Stefanie verdrehte höchst gelangweilt ihre Augen und versuchte, Eva Vanin in Schutz vor Mirandos bösem Mundwerk zu nehmen, indem sie meinte, Gott sei Dank gäbe es zwischen den unzähligen Langweilern in diesem Ort auch solche, die sich nicht bloß mit Fernsehen und Fußball zufriedengeben würden. Eva Vanin, zu Stefanie gewandt, flüsterte, sie stünde zwar immer noch unter ihrem eigenen Geburtsschock, und es wäre überhaupt ein Wunder gewesen, diesen überlebt zu haben, aber der Kerl hier wäre geeignet, sie erneut an die Gräuel des ungewollt In-die-Welt-geworfen-Seins zu erinnern.
Rembert Mirando lächelte sicherheitshalber trotzdem, obwohl er etwas verunsichert war und fügte hinzu, dass man der Wahrheit ins Auge sehen müsse und den Tod nicht verdrängen dürfe. Dies würde helfen, bewusster zu leben. Und er bewundere trotz allem ihre Streich- und Pinselarbeiten, als er Eva Vanin tief in die Augen blickte, um sie ein wenig aus der Reserve zu locken. Allerdings nur ihm, als Einzigem, war der zarte Berührungsaustausch zwischen ihr und Stefanie vorhin, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Evas, aufgefallen, als seine Blicke die beiden zufällig gestreift hatten. Zwei Lesben treffen sich, begann er plötzlich, und grinste dämlich, sagt die eine … Stefanie, die jetzt ganz nahe vor ihm stand, hob reflexartig ihr rechtes Knie in Richtung Mirandos Gemächt und traf. Dieser, kurz in leicht gebückte Haltung zusammenknickend, beendete seinen vermutlich gezielt beabsichtigten und höchstwahrscheinlich anzüglichen Scherz damit, indem er schmerzverzerrt stöhnte, sie solle sich nichts daraus machen, dieser Zustand wäre heilbar. Das hätte ihnen der Klerus neulich offiziell bestätigt. Dann lachte er nur noch gequält und verabschiedete sich in Richtung Herrentoilette, in der er für eine ganze Weile verschwunden blieb.

Stefanie schob Eva beiseite, um mit ihr kurz allein zu sein. Die Gatten hatten sich indes ein wenig zerstreut. Mochte sein, dass sie den auf ihren Häuptern lastenden Druck ihrer Gattinnen nicht länger ertrugen. Schließlich war man ja gemeinsam hierhergekommen. Es schien also angebracht, mit diesen hin und wieder auch ein paar Worte austauschen zu wollen und so trank man eben ausreichend Sekt und genoss die bereitgestellten Brötchen. Was das Buffet anlangte, war von einer Krise nichts zu bemerken. Wie überhaupt man diesen Menschen nicht ansehen konnte, dass sie auch nur im Geringsten mit einer solchen zu tun hätten. In der Krise lässt sich eine große Verunsicherung der Bevölkerung beobachten. Gängige Trends nehmen oft unerwartete Wendungen. Man beginnt, sich mehr an der Meinung von Leuten zu orientieren, von denen man glaubt, dass sie eine Ahnung haben. Und es kommt zu einem vermehrten Auftreten von Depressionen. Von alledem war hier nichts zu spüren. Vernünftigerweise hatte man sich in früheren Zeiten näher zusammengerottet, sagte man, aber heute wäre man isoliert, säße paralysiert vor der Glotze und warte auf bessere Zeiten. Auch davon war hier nichts zu bemerken.

Rembert Mirando war von der Toilette zurückgekommen und sah sich um. Stefanie und Eva standen jetzt drüben, zusammen mit dem Bürgermeister und Escortin, jenem Mann also, der hier das Geld hatte und daher auch die Macht. Und Macht bedeutete, zu wissen, was für das Land gut ist und vor allem galt hier wie auch anderswo, wer Geld hatte, schaffte an. Besonders das, was für einen selbst gut war. Aber trotzdem war Temperament gefragt. Übervorsichtige wären von vornherein verdächtig. Man müsse dynamisch, ehrgeizig und konsequent sein. Auch unbequeme Entscheidungen treffen können. Kein Intrigant sein, wissen, woran man mit jemandem war. Und so einer wollte Mirando werden. Und es war höchst an der Zeit, sich endlich an Escortin heranzumachen, ihn weichzukriegen, sodass er etwas Geld ausließe, mit dem die Partei für den kommenden Wahlkampf finanziert werden könnte. Im Laufe des Abends gewann Rembert Mirando bei Escortin nun schließlich doch etwas Boden unter den Füßen. Escortin, anfangs ein wenig brummig, aber doch stolz auf seine Position, lauschte irgendwann etwas aufmerksamer als sonst den gezielten Ausführungen des Bittstellers, als ihn dieser in einer schwer zugänglichen Nische des Ausstellungsraumes förmlich festgenagelt hatte und ihm den Ausgang verstellte.
Würde er, Escortin, sich bereit erklären, der Gemeinde einen Betrag von einhundertfünfzigtausend Euro zur Verfügung stellen, könne man über das bislang noch nicht umgewidmete Bauland, auf dem Escortin seine neue Villa zu bauen beabsichtigte, ernsthaft reden. Bauland, welches sich so ganz nebenbei in einem Natur- und Wasserschutzgebiet befand. So jedenfalls lautete der Auftrag des Bürgermeisters an Mirando. Ins Boot holen, hatte er es genannt, der Bürgermeister. Escortin kratzte sich an seiner schwitzenden Glatze und steckte sich sofort wieder eine neue Zigarre an. Es würde ihm zwar gerade jetzt sehr gut passen, meinte er, denn es gäbe bereits Pläne eines bekannten Architekten, der für ihn eben auch nur jetzt Zeit haben würde, ein Konzept zu erstellen. Und er werde sich die Sache mit der Finanzierung bis morgen Abend überlegen, aber, na ja, mal sehen. Schließlich sei dieser Betrag selbst für einen Escortin keine Kleinigkeit und es galt, so eine schwerwiegende Entscheidung sorgfältig zu überlegen. Überdies war da noch seine ehrgeizige Gattin, die längst in ein neues Haus zu ziehen gedachte und es läge an dir, Hase, hatte sie schon vor längerer Zeit geäußert, mich ganz glücklich zu machen. Da war Escortin klar geworden, dass es wahrscheinlich kein Zurück in dieser Angelegenheit mehr gab. Was sein musste, musste eben sein!

 

Auf sein heftiges Drängen hin hatte Rembert Mirando vor längerer Zeit eine Sekretärin zugeteilt bekommen. Der Bürgermeister hatte nachgegeben. Erst war Harald Rahmani für diese Tätigkeit vorgeschlagen worden. Ein stiller, junger Bürolehrling. Etwas blutarm, aber fleißig und nicht allzu klug, sodass Mirando sich als Vorgesetzter ihm gegenüber an Know-How und Wissen doch immer noch überlegen hätte fühlen können. Aber Mirando wollte partout eine weibliche Hilfskraft haben. Und er hatte sie ganz gegen den Willen des Bürgermeisters durchgesetzt, wobei er sich bereits im Geheimen der Hoffnung hingab, alle unangenehmen Arbeiten leichter an eine Frau delegieren zu können als an Rahmani, der trotz seines stillen Wesens ein wenig aufmüpfig sein konnte, wie man schon öfter aus der Kanzlei gehört hatte. Da saß sie nun, seine Sekretärin, Fräulein Charlotte Mileva. Blond, vollschlank, hätte man vor dreißig Jahren gesagt, mit aufgesetzten Fingernägeln, die beim Tippen in die Tastatur des PC vernehmlich klapperten. Sie trug stets einen kurzen Rock. Und wenn Mirandos Zimmertüre offen stand, konnte er, wenn er mit seinem Bürosessel etwas zurücksetzte, ganz leicht bis zu ihren Schenkeln hoch sehen. Mehr wäre nicht möglich gewesen, da ihre kräftigen Oberschenkel alles andere, was es sonst noch zu entdecken gegeben hätte, verdeckt hielten. Neulich, als gerade ein junger Techniker dabei war, die Jalousien im Büro zu reparieren, machte Mirando so eine Bemerkung, dass jener aufpassen müsse, denn Fräulein Mileva hätte eine perverse Neigung jungen Männern gegenüber und er solle sie nicht von ihrer Arbeit ablenken. Aber Fräulein Mileva hielt das gar nicht für einen gelungenen Scherz. Ohne darüber zu lachen, verharrte sie tippend mit gesenktem Kopf über ihrer PC-Tastatur.

Fräulein Mileva hatte immer viel zu tun. Ihre eigentliche Aufgabe bestand primär darin, den dichten Veranstaltungskalender der Kulturabteilung zu aktualisieren, Einladungen zu schreiben, diese zu kuvertieren und mit Hunderten von Adressen aus der Adressatenkartei zu bekleben. Zwischendurch hielt sie Nagelpflege und legte zahllose Kaffeepausen ein, in denen sie manchmal mitgebrachte Cremeschnitten mit Heißhunger verspeiste. Sekundär, aber ebenso wichtig, oblag ihr die Pflicht, unangenehme Telefonanrufe an ihren Vorgesetzten Mirando abzufangen und nicht weiterzuleiten, wenn er es signalisierte.

Mirando hingegen hatte schließlich Wichtigeres zu tun, als sich mit dem gemeinen Volk herumzuschlagen. Er war für die PR verantwortlich, bastelte stunden- und tagelang an Plakaten herum, deren Schriftteile er abwechselnd vergrößerte, dann wieder verkleinerte, neu formatierte, verschob und alles wieder rückgängig machte. Zwischendurch betrachtete er sein Werk mittels Gesamtansichtstaste solange, bis es ihm angemessen schien, es auszudrucken. Dann wurde kopiert. Mirandos Zeitaufwand, dafür das geeignete Papier zu wählen, vor allem, welche Farbe wohl für das jeweilige Plakat am besten geeignet wäre, war enorm. Seiner Gattin, die Professorin am hiesigen Gymnasium war, teilte er stets mit, wie wichtig er sei und wie überfordert von der Fülle seiner Aufträge und dass er keine Zeit nebenher für nichts hätte, weder fürs Staubsaugen noch für sonst unnötige Tätigkeiten im Haushalt. Und er trug die Zeiten, die er in seinem Büro verbrachte, minutiös in sein Stundenbuch ein, um bei einer eventuellen Recherche über seine Anwesenheit allenfalls gerüstet zu sein.
Überhaupt führte er über alles Buch, was nur irgendwie mit Zahlen zu tun hatte, und sei es der Kilometerstand seines Autos, den er stets ins Tankbuch eintrug, immer dann, wenn er tankte. So füllte er bereits seit Jahren Büchlein um Büchlein mit diesen Eintragungen und dachte insgeheim daran, dieselben eines Tages drucken zu lassen, damit man ersehen konnte, was für ein pünktlicher, gewissenhafter und umsichtiger Mann er im Grunde doch sei. In dieser Zufriedenheit wähnte er sich zu Recht als einen vom Schicksal Auserwählten für das Amt eines politischen Mandatars, wie auch sein Inneres ihm bestätigte, dass man mit seiner Wahl sicherlich einen guten Griff getan hatte.
Und er war auch Musiker, aus tiefster Überzeugung, und hatte es als Klarinettist zumindest in die Blasmusik des Ortes geschafft, wenn es schon zur Philharmonie nicht gereicht hatte, und er war Dirigent, wenn man ihn dirigieren ließ. Erst kürzlich durfte er zum Dirigentenstab greifen, als die neue Kulturhalle eingeweiht worden war. Zuvor hatte ihm der Bürgermeister gestattet, ein paar Worte an die zahlreichen Anwesenden zu richten, was er dazu benutzt hatte, den sich darunter auch befindenden Bediensteten des hiesigen Gemeindeamtes budgetäre Zugeständnisse für ihre Ressorts zu machen. Mirando hatte in irgendeiner Sitzung der letzten Wochen nicht aufgepasst und überhört, dass in dieser Angelegenheit genau das Gegenteil eintreffen würde, nämlich dass man Posten streichen und Budgets kürzen werde.

Kurzum, die Sache war ziemlich peinlich, denn der Bürgermeister, der diesen Entschluss höchstpersönlich mitgetragen hatte, saß mit hochrotem Kopf selbst in der ersten Reihe. Er starrte abwechselnd beschämt zu Boden, dann wieder auf Mirando. Als dieser geendet hatte, eilte der oberste Musikmeister auf ihn zu, um ihn zu bitten, den nun folgenden Marsch der Stadtkapelle zu dirigieren. Und Rembert Mirando ließ sich nicht zweimal bitten. Fest entschlossen, seinen Auftritt zu einem kulturellen Erlebnis für alle hier zu machen, gab er mit hocherhobenen Händen den zackigen Auftakt. Die Musik setzte auf sein Kommando ein. Was für ein erhebender Augenblick, wenn plötzlich zweiunddreißig Menschen, darunter auch zahlreiche junge Mädchen, seinen Bewegungen Folge leisteten. Mirando genoss diesen Augenblick ganz ungemein, in dem er sich so voll und ganz in Szene zu setzen wusste, während sein Inneres nach mehr verlangte. Er wollte diesen Ort dirigieren. Warum nicht gar die ganze Welt? Ein ungemein erhebendes Gefühl bemächtigte sich seiner, nämlich jenes, als würden alle hier im Saal nach seiner Pfeife tanzen, wenn und wann er es wollte. Alle, bis auf den Bürgermeister, der ohnmächtig vor Zorn vor sich hinstarrte.

Nach seinem gelungenen Auftritt begab sich Mirando hinter die Bühne, wo der Finanzsekretär sich eben anschickte, für seine Rede nach draußen zu gehen. Ob er gut gewesen sei, fragte ihn Mirando. Doch dieser sah Mirando nur scharf an, bevor er sich entschloss, die Bühne zu betreten, um ihn rasch noch ganz diskret zu fragen, ob er denn verrückt geworden sei und wie er es wagen könne, so einen Unsinn zu verbreiten? Mit diesen Worten stieg der Finanzsekretär die Treppen zur Festbühne hinauf. Das hatten einige der Anwesenden gehört. Mirando suchte nach einem Mauseloch, in das er sich hätte verkriechen können. Aber was geschehen war, war nun einmal geschehen. Nach Beendigung dieser Veranstaltung, und nachdem ihm letztendlich auch noch der Bürgermeister den Kopf gewaschen hatte, zog sich Rembert Mirando in die heiligen Räume seiner kleinen Wohnung zurück und dachte erst einmal nach, wann seine Gattin denn wieder von der Exkursion zurückkäme, die sie mit ihrer Klasse seit mehr als einer halben Woche machte, als das Telefon läutete. Rembert klappte das Handy auf. Anica Escortin! Er erstarrte. Wo er denn geblieben sei? Und warum er so rasch entschwunden sei? Und ob er sie nicht im Saal hätte sitzen sehen, in der zweiten Reihe?

Ja, Herrgott, er hätte sie bemerken müssen! Schließlich war sie ja nicht zu übersehen. Schon wegen ihrer imposanten Erscheinung nicht und schon gar nicht wegen dieses affigen gelben Seidenschals, den sie locker um ihren fetten Hals geschlungen hatte, knallgelb! Ja, da war sie gesessen, inmitten der Loden- und Leinenensembles der übrigen Anwesenden! Ob man sich heute noch sehen würde. Rembert wand sich wie immer wurmartig, sein einziger Sport. Irgendwie hatte er heute genug von Gesellschaft und dem Posierenmüssen. Morgen wäre schließlich auch noch ein Tag. Aber Anica Escortin gab nicht auf. Gut, also, wenn es sein müsste, sie könne ja herkommen. Er hätte noch etwas Huhn im Kühlschrank und Mayonnaise. Essiggurken wären auch da.

Die Escortin warf einen Blick ins Wohnzimmer, in dem ihr Hase tief und fest vor laufendem Fernseher eingeschlafen war. Und es konnte geschehen, dass Denis Escortin in dieser Stellung dort oftmals bis zum nächsten Morgen ohne aufzuwachen verharrte. Anica Escortin nahm ihre Handtasche, steckte ein Päckchen Zigaretten ein und ließ die Autoschlüssel zu ihrem A3 in die Manteltasche gleiten. Dann eilte sie die Holztreppen hinunter. Sie überquerte den mit weißem Kies geschotterten Weg zur Doppelgarage.

Rembert Mirando hatte alle Hände voll zu tun. Es war nicht aufgeräumt, das Geschirr war nicht abgewaschen und die Toilette schon lange nicht geputzt worden. Wie denn auch, wenn er jeden Tag bis zwanzig Uhr und oft auch später im Büro oder auswärts zu tun hatte und die Frau Professor verreist war. Sie ist sicher eine verwöhnte Frau, dachte er, und er strengte sich mächtig an, in dieser kurzen Zeit alles so gut wie möglich in Ordnung zu bringen. Und kaum dass er mit dem Quickputz fertig war, läutete es auch schon unten an der Tür.

Himmelherrgott, fluchte Mirando erneut und ausführlicher, ich komme ja schon! Er öffnete. Da stand sie nun, die First Lady, mit Mantel, Hut und Seidenschal. Diesmal in Grün, aber genauso scheußlich wie der gelbe, den sie am Nachmittag in der Kulturhalle getragen hatte.

Da sind Sie ja, Sie Schlawiner, begrüßte sie ihn und drängte ihn ins Innere seiner Wohnung. Mirando hatte von Anfang an durchschaut, warum sie so rasch bei ihm aufgetaucht war und so ersparte er sich für dieses Mal die kleinen Lügen, die er für solche Fälle stets bereithielt. Vielmehr gab er ihrem Drängen eine bestimmte Richtung vor, sodass sie, scheinbar völlig unbeabsichtigt, plötzlich vor der breiten Couch im Wohnzimmer gelandet waren. Anica riss ihm förmlich die Kleider vom Leib, so wie er es mit den ihren tat. Beide fielen sie schwer auf das überbreite Lager hin, keuchend und stöhnend und nahmen sich kaum Zeit, sich völlig zu entkleiden, bis auf das Notwendigste, als es auch schon zum Äußersten gekommen war. Ihr delliger, großer weißer Hintern sauste ohne Unterlass wie wahnsinnig auf Mirando auf und nieder. Das Läuten seines Handys just zu diesem Zeitpunkt drängte irgendwie, die Sache so rasch wie möglich zu beenden.
Es mochten fünf Minuten vergangen sein, damit war der erste Akt vorbei. Schwer atmend lagen beide auf dem Rücken, so, als ob ihre letzte Stunde gekommen wäre. In Remberts Gehirn drehte sich alles wie ein Karussell. Mein Gott, wenn der alte Escortin etwas erfuhr! Wo doch jetzt die Sache mit dem Grundstück und der Finanzierung der Partei über die Bühne gehen sollte. Schon morgen war ein Termin fällig. Der Bürgermeister würde ihn fristlos hinausschmeißen, wenn der Deal nicht zustande käme! Die Escortin, immer noch nach Luft ringend, schwitzte, während ihr die Schweißperlen in kleinen Tropfen übers Gesicht liefen, den Hals hinunter, wo sie in den dunklen Tiefen ihrer rasierten Achselhöhlen versickerten. Sie verlangte nach einer Zigarette. Rembert musste eine aus ihrem Handtäschchen holen. Einen Aschenbecher auch, und Streichhölzer natürlich! Gierig sog sie den Rauch der Marlborough Light in sich hinein. Rembert war zum Schrank hinübergegangen, in dem die Hausbar integriert war und entnahm dieser eine Flasche Martini, extra trocken. Sie tranken aus flachen Cocktailgläsern. Ob er nicht noch eine Olive für sie hätte, fragte sie? Diesmal brachte er gleich das ganze Glas mit aus dem Kühlschrank. Er saß, sein Glas in der Hand, mit dem Rücken ihr zugewandt und starrte aus dem Fenster, während Anica Escortin seine Schultern ab und zu mit sanften Küssen bedeckte, aus spitzen Lippen fahle Rauchwölkchen auf seine pickelige Haut absetzend.

Nachdem Mirando nun in Sekundenschnelle fieberhaft seine Situation überdacht hatte, resümierte er, dass diese Frau zum derzeitigen Augenblick offensichtlich unentbehrlich für ihn sein würde. Wenn sie ihrem Gatten gezielt solange zusetzte, dass er die Parteispende ausspuckte, wäre sein Leben als Mandatar und Referent gerettet. Der Bürgermeister hätte keinen Grund, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln, vergaß man die Sache neulich mit den Budgetversprechungen. Aber wer von ihnen war schon ohne Makel? Ja, es stimmte. Dieser Escortin war wohlhabend. Er hingegen eher wohl nichtshabend. Aber die kleine Summe von hundertfünfzigtausend stellte ja doch bloß einen Kratzer auf dessen Bankkonto dar und mit dieser Summe ließe sich ein Wahlkampf hier in Hintertupfing, oder wie der Ort in Wirklichkeit auch heißen mochte, organisieren, der seinesgleichen würde suchen müssen.

Dann kriegte Escortin sein aufgeschlossenes Grundstück und er selber würde zusätzlich zu seinem Beamtengehalt eine Politikergage bekommen. Es gab viel zu tun. Also musste man mit Anica Escortin auch jenseits der Bettkante kooperieren.

Ob sie nicht noch einen Martini möchte, fragte er beflissen. Das sei sehr aufmerksam, sagte sie, vielleicht einen kleinen, denn schließlich müsse sie noch mit dem Wagen fahren. Oder ob sie nicht vielleicht … ihr Hase wäre ohnedies bereits hinüber, wie sie das beschrieb, und ob sie nicht etwa hier, bei ihm übernachten könne? Sie würde diese Nacht niemandem abgehen, lachte sie. Rembert Mirando wurde etwas schwach bei dem Gedanken, seine heilige Ruhe einbüßen zu müssen, und überdies würde sie mit Garantie noch einmal über ihn herfallen wollen, wurde ihm dabei klar. Aber was sollte er tun? Er brauchte sie. Also willigte er ein. Die Escortin tat einen Freudenschrei und drückte ihn an sich, fasste ihn mit ihren kräftigen Händen am Hintern und zog ihn zu sich auf die Couch. Die Zweite, durchzuckte es Mirando, der mit Sorge an seine geröteten Hautirritationen dachte. Aber es sollte noch nicht so weit sein. Darling, flötete Anica Escortin zuckersüß, du hast vorhin am Telefon etwas von Kartoffelsalat und Hühnchen erzählt. Ist da was Wahres dran?

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15048

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