Der Vater ist vom Kirschbaum gefallen, erzählt mir R., der mit mir vor mehr als dreißig Jahren das Gymnasium besucht hat. Drei Tage war der Vater erst in der Rente gewesen. Zum Kirschenpflücken ist er in den Baum gestiegen. Welch wunderbares Bild, das vor meinen Augen auftaucht. Was kann es Schöneres geben als Kirschen zu pflücken, wenn man das Erwerbsleben beendet hat! Aber R.s Vater erlitt einen Herzinfarkt, wie der Arzt später feststellte, und fiel vom Baum. Seine letzte Tätigkeit auf Erden war das Kirschenpflücken gewesen.
Die Mutter hat das nicht verkraftet. Kaum war die Beerdigung vorbei und der Mann unter der Erde, hat sie die Tür zu ihrer Wohnung gut abgeschlossen und sich im letzten Winkel verborgen. Alleine wollte sie sein und ungestört, um sich das anzutun, was den Mut der Verzweiflung erfordert und einzig Linderung all des Schmerzes zu versprechen scheint. Sie nahm das scharf geschliffene Messer zur Hand, das ihr in früheren, besseren Zeiten als Wirtin so gute Dienste geleistet hatte, fasste sich ein Herz, ließ noch einmal ihr ganzes Leben Revue passieren und kam zu dem Entschluss, dass nun Schluss sein muss.
Alles ist genug, mehr als das, es ist sogar zu viel. Es reicht. Rien ne va plus. Das Leben ist gelebt. Tief holte sie Luft, der Lebensatem strömte in ihre Lungen und ließ das Herz schneller schlagen. Leicht ging es, die Klinge an das linke Handgelenk zu führen und die blau durchschimmernde Schlagader zu öffnen. Kein Schmerz war zu spüren, überhaupt keiner. Rot drang das Blut heraus. Die Wärme aus dem Inneren war nun außen auf der Haut. Seltsam. Nun war es an der Zeit, das Messer in diese Hand zu nehmen. Noch war genügend Kraft in ihr. Ungelenk fühlte sich das an, aber es ging nicht anders. Entschlossen führte sie die Klinge an die Pulsader des rechten Innenarms. Nur ein leichter Druck war notwendig, der Vater hat das Messer gut geschliffen.
Daran muss sie jetzt wieder denken. Das war immer seine Aufgabe gewesen. Damit wollte er seiner Frau die Arbeit in der Wirtsküche erleichtern. Ob er wohl weiß, was er ihr damit für einen Dienst erwiesen hat? Bestimmt weiß er es, bestimmt schaut er ihr sogar aus dem Jenseits zu. Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange. Ich bin auf dem Weg. Warm und behäbig fließt das Blut über den Arm und über die Hand. Das Messer hat seine Bestimmung erfüllt und kann beiseitegelegt werden.
Es ist die ruhige Stunde vor Tagesanbruch, die jetzt geheiligt ist. Früher musste um diese Zeit viel gewerkelt und vorbereitet werden für den bevorstehenden Tag, für die Kinder, für die zu erwartenden Gäste. Das war jetzt vorbei. Nichts gab es mehr vorzubereiten, nichts gab es mehr zu tun. Alles war getan, alles war erledigt. Ein gutes Gefühl stellte sich ein, ein Gefühl der inneren Zufriedenheit. Es war vollbracht, das Leben war gelebt.
Die Mutter lehnte sich zurück und ließ den Dämmer von ihr Besitz ergreifen. Wohltuend legte er sich auf sie, schluckte alles Wissen und alle Erinnerung, sodass der Kopf leer und frei wurde. Müdigkeit senkte sich herab und wohlig gab sie sich ihr hin. Was konnte es Schöneres geben? Einschlafen, wenn der Morgen graute. Ein anderer Tag erwartete sie, ein anderes Leben, das nicht so schwer sein wird. Ein Leben ohne Schatten, ja das ist es, ein Leben ohne Schatten. Wenn die Sonne genau über einem steht, wirft der Körper keinen Schatten. Man ist richtig bei sich, man ist bei sich zu Hause.
Aber so weit sollte es noch nicht sein. Die Vorsehung schaltete sich ein. R. erzählt mir, dass er auf dem Weg zur Arbeit gewohnheitsmäßig die Türklinke zur Wohnung der Mutter drückte. Als er sie verschlossen vorfand und sein Rufen keine Antwort erfuhr, trat er die Tür ein. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass der zurückhaltende Mann mit der ruhigen und sanften Stimme mir gegenüber, der vor Jahrzehnten mein Klassenkamerad gewesen war, eine Tür eintreten kann. Aber außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Taten.
R. lächelt, als er davon spricht, wie er die Mutter gefunden und alles veranlasst hat, um sie ins Leben zurückzuholen. Diese Aufgabe ist ihm zuteil geworden, zweifelsohne eine schwere. Wenn ich ihn anschaue, lese ich in seinem Gesicht, dass es nicht die einzige schwere Aufgabe in seinem Leben gewesen ist. Man kann es sich nicht aussuchen. Wenn ich ihn so anschaue, so denke ich, er ist nicht für schwere Aufgaben geboren, aber wen kümmert das. Trotzdem lächelt er, wenn auch nicht unbeschwert.
Und ich denke, das verbindet uns. Wir waren beide nie unbeschwert. Wir mussten uns wieder begegnen, um uns die Geschichten vom gescheiterten Selbstmord unserer Mütter gegenseitig zu erzählen. Seltsam. Und jeden Morgen bricht ein neuer Tag an und jedes Jahr im Mai blüht der Kirschbaum.
Claudia Kellnhofer
www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15080