Vor langer Zeit herrschte in einem von der übrigen Welt bislang völlig unbeachteten Land ein mächtiger und reicher Herrscher. Er war ein Mann, der sehr darauf achtete, dass seine Befehle, die er gab, auch eingehalten wurden und drohte jedem mit der Todesstrafe, der sich seinen Anordnungen widersetzte, aber auch jenen, die über ihn schlecht redeten oder gar über ihn lachten. Als dieser strenge Landesherr nach vielen Jahren absoluter Machtausübung schließlich von ein paar unzufriedenen Untertanen ermordet wurde, eine Tat, die in diesem Lande nichts Besonderes oder gar Seltenes war, übernahm sein Sohn die Macht und wurde mithilfe eines selbst ernannten Kaisers, dem das Votum des Volkes völlig gleichgültig war, an die höchste Position der Politik gesetzt, da er dessen Günstling war.
Er wurde zum obersten Befehlshaber einer Sicherheitstruppe, dem die Menschenrechtsorganisationen im Laufe seiner Amtsperiode die verschiedensten Verbrechen zur Last legten, wie etwa Totschlag, Entführung oder auch Folter, ohne diese jemals beweisen zu können. Kurze Zeit später wurde er auf Vorschlag des Kaisers zum Premierminister ernannt und durch eine Parlamentswahl zum Präsidenten des Landes gemacht, nachdem er das dreißigste Lebensjahr erlangt hatte, das Mindestalter, welches als Voraussetzung dafür galt, ein derartiges Amt auch annehmen zu können. Als solcher versprach er, das Land, das zuvor durch Kriege zerstört worden war, wieder aufzubauen, durch weitreichende wirtschaftliche Hilfe und Reformpläne wieder instandzusetzen und den Terrorismus im Lande zu bekämpfen. Dies alles sollte mit finanzieller Hilfe des Kaisers sowie steigenden Erlösen aus dem Ölgeschäft rasch umgesetzt werden.
Durch den Tod des Vaters und durch die Protektion des mächtigen Landesfürsten war jener nun also an die vorderste Front des Landes gelangt und nicht zuletzt auch für die Sicherheit des Landes verantwortlich. Zu viel Macht für einen einzigen Menschen, wie sich herausstellte, denn es entwickelte sich ein Personenkult um ihn, der darin gipfelte, dass sich von nun sein Portrait in überdimensionaler Größe über das ganze Land verteilt, in Straßen und Städten, an Wänden und Hausmauern, wiederfand.
Vom Größenwahn gepackt, wie schon sein Vater zuvor, umging er in allen Belangen Entscheidungen des Parlaments, um sich selbst den Titel „Präsident“ an die eigene Brust zu heften, oder sich auch noch gleich „Imam“ oder sogar „Vater des Volkes“ nennen zu wollen. Doch der „Vater des Volkes“ handelte nicht wie ein sorgender Vater, sondern unterdrückte seine Mitmenschen aufs Furchtbarste. Auch das hatte immer schon Tradition in diesem weiten Landstrich.
Eines Tages floh ein Mann aus dem Volke, um der Welt da draußen mitzuteilen, welcher Schreckensherrschaft er soeben entronnen war. Er wandte sich an den Europäischen Gerichtshof und legte dort Fotos von Gefolterten in seinem Lande vor, Zeugenaussagen misshandelter Bürger und Berichte über Vergewaltigungen und Entführungen. Monate später wurde er von Agenten des Präsidenten in einer der friedlichsten Städte der Welt am helllichten Tag auf offener Straße erschossen.
Der Präsident, den man international mit dieser Tat in Verbindung brachte, bestritt natürlich jeden Zusammenhang mit diesem Mord. Darüber hinaus war bekannt geworden, dass es im Land zu zahlreichen Frauenmorden gekommen war, welche offiziell als Ehrenmorde bezeichnet worden waren. Der Präsident verdammte solche Morde zunächst in der Presse als unmoralisch und distanzierte sich vehement von derartigen Verbrechen, um sich allerdings in einem darauffolgenden Interview sofort zu widersprechen. Vielmehr müsse sich ein Vater schämen, sagte er, wenn dieser seine Tochter im Falle einer Vergewaltigung nicht auch noch sofort töte. Seinen Feinden jedoch, die Kritik an ihm übten, ließ er ausrichten, sie würden unweigerlich in der Hölle braten, würde er sie eines Tages in die Hände kriegen.
In diesen schweren Zeiten also verließen immer mehr und mehr Menschen dieses Land, um anderswo ein neues, geordneteres und sichereres Leben beginnen zu können. Eine dieser Flüchtlinge hieß Milana. Sie war verheiratet, hatte neun Kinder und lebte glücklich und zufrieden mit ihrem Gatten seit über fünfzehn Jahren in einem großen Haus in einem kleinen Dorf nahe der Grenze zum Nachbarland.
Eines Tages klopften zwei Beamte des Präsidenten an die schwere Eichentür des Vierkanthofes. Milana öffnete zögernd. Man hätte ihren Mann verhaftet, sagte einer von ihnen, weil dieser sich geweigert hätte, die Zustimmung zum Verkauf eines bestimmten Grundstücks zu geben, welches angeblich für den Bau einer wichtigen Straße gebraucht würde. Aber jeder wusste, dass es auf diesem Grundstück Öl gab. Öl, das kaum einen Meter tief unter der Erde sprudelte. Und solche Grundstücke gab es viele. Milana sagte, davon wüsste sie nichts. Der Beamte drängte sie, anstelle ihres Gatten das Papier zu unterschreiben. Doch Milana meinte, sie würde nie etwas Derartiges ohne die Zustimmung ihres Mannes tun.
Daraufhin kehrten sie Milana den Rücken und stiegen in ihr Auto. In der folgenden Nacht umstellten fünf Militärlastwagen das Gelände um Milanas Haus. Soldaten sprangen von den Ladeflächen, schlugen mit Brechstangen das Tor ein und trieben Milana und ihre Kinder aus den Betten in den Innenhof. Die Frau war im achten Monat schwanger. Einer der Soldaten fragte sie, wo sie das Geld und den Schmuck aufbewahre. Als Milana schwieg, schlug er ihr mit der Kalaschnikow über den Oberarm, sodass dieser auf der Stelle brach. Die Kinder schrien und weinten. Die Kleinen hängten sich an Milanas Beine und die älteste Tochter küsste das schmerzverzerrte Gesicht der Mutter.
Die Soldaten beschlagnahmten das Haus samt Inhalt. Sie luden wertvolle Möbel auf die Wagen und trieben die ganze Familie mit Schüssen aus dem Haus. Mutter und Kinder flüchteten in Panik in den nahen Wald. Zwei der Kinder verliefen sich an einer Weggabelung. Milana sollte sie nie mehr wiedersehen. Unterwegs stießen sie auf zwanzig weitere Flüchtlinge, die ihr berichteten, man hätte ihren Mann in einem Dorf, zwanzig Kilometer von seinem Heimatort, erschossen.
Für Milana brach eine Welt zusammen. Gemeinsam mit den anderen gelang es ihnen, unbehelligt über die Grenze zu kommen. Nach sechs Wochen waren alle an einem sicheren Ort eingetroffen, wo man sich um sie kümmerte. Viele Monate vergingen. Die Gruppe wurde inzwischen in einer Wohnhausanlage auf dem Land untergebracht.
Im Innenhof dieser Wohnhausanlage saß nun Milana eines Nachmittags mit einer Gruppe Frauen, die umständlich nach Sitzgelegenheiten suchten. Hier ein alter Kunststoff-Gartensessel, dort ein ausrangierter Küchenstuhl. Jede fand schließlich irgendwie einen Platz. Der Hof war weitläufig. Eine junge Sozialarbeiterin stellte den Frauen den neuen Deutschlehrer vor. Vierzehn Augenpaare starrten ihn an. Der Fremde hier war er, schien es. Die Frauen sprachen kaum ein deutsches Wort. Kinder tollten im Hof umher, näherten sich zaghaft dem Outdoor-Klassenzimmer.
Milanas dreizehnjährige Tochter ging hier nun schon das zweite Jahr zur Schule. Sie fungierte ausgezeichnet als Dolmetscherin. Manche Frauen hielten die Übungsblätter verkehrt in den Händen und starrten aufs Papier. Alphabetisierungskurs. Eine las langsam und holprig einen kurzen Satz. Sie konnte nur ein Wort darin verstehen: putzen. Ich kann waschen und putzen, hieß der ganze Satz. Die Unterarme dieser Frau wiesen tiefe Narben jüngst verheilter Brandwunden auf. In ihren Augen spiegelten sich die Gräuel eines sinnlosen Krieges wider. Nur manchmal lächelte sie.
Milana war abwesend. Sie starrte auf ihr Handy und betrachtete eine MMS, die sie erst kürzlich aus ihrer Heimat erhalten hatte. Es zeigte den Präsidenten mit seinen Kumpanen auf Tausenden von Dollarscheinen tanzend in einem geschlossenen Raum. Während er über die Scheine sprang, fuchtelte er mit seiner Pistole in der Luft herum. Ein weiteres Bild zeigte ihn, wie er lachend auf die Dollarnoten schoss.
Milana musste an ihren Mann denken und an ihre beiden verschollenen Kinder. Unbemerkt von all den anderen rannen langsam, perlengleich, Tränen aus ihren traurigen Augen über die Wangen, und mündeten salzig auf ihren blassen Lippen.
Es war die Zeit des Ramadan. Die Frauen waren sehr schwach vom Fasten und konnten sich nur mit Mühe konzentrieren. Was ist eine Verbklammer? Was ist die Infinitivform? Der Lehrer blickte ihnen hilflos in ihre dunklen Augen, die ihn verständnislos ansahen. Erst am Abend durfte wieder gegessen werden. Ab einundzwanzig Uhr, bis zwei Uhr dreißig. Dann nicht mehr. In dieser Zeit durfte auch nicht getrunken werden. Nicht einmal ein Schluck Wasser!
Die Frauen hier hatten in der Heimat alles verloren. Die Eltern – erschossen. Die Brüder – bei einem Angriff umgekommen. Die Häuser verbrannt. Nur wenige von ihnen hatten sich mit ihren Kindern in Sicherheit bringen können und waren froh, dieses Wild-Ost-Szenario überlebt zu haben.
Hier waren sie sicher. Vorerst zumindest. Ich habe Angst um meine Kinder, sagte eine Anrainerin, wenn die hier sind. Die geflüchteten Frauen hatten auch Angst. Aber wir sind doch Christen, erwiderte die Sozialarbeiterin der Einheimischen. Ist es nicht unsere Pflicht als Christenmenschen, Notleidenden, Hilfesuchenden die Hand zu reichen? Ja, schon, aber, warum müssen sie ausgerechnet zu uns kommen?, fragte die Nachbarin.
Wenige von den Frauen hatten schon Arbeit. Ihr größtes Problem war die deutsche Sprache. Die Arbeitgeber sprachen noch dazu alle im Dialekt. Viele Wochen vergingen mit Lesen oder mit Zeichnen, oft einziges Kommunikationsmittel, wenn etwas nicht verstanden wurde. Tausendmal wurde im Wörterbuch nachschlagen. Eine hatte ihr Baby mitgebracht und stillte es während des Unterrichts. Der Lehrer hatte gewonnen. Er war akzeptiert worden, und das als einziger Mann hier herinnen. Am anderen Ende des Hofes trieben sich die Ehemänner der Frauen herum. Unrasiert, die meisten ohne Arbeit, oder bloß geringfügig beschäftigt. Es passte ihnen überhaupt nicht, dass ihre Frauen den Deutschunterricht für sich selbst durchgesetzt hatten. Misstrauisch sahen sie zum Lehrer und zu den Frauen herüber. Er verkörperte das Fremde, das Unbekannte, das Unverständliche. Sind die gefährlich?, fragte sich der Deutschlehrer. Ein verzweifelter Gatte lieferte ein schreiendes Kind ab, das zu seiner Mutter wollte. Das Kind beruhigte sich, als sie es auf den Arm nahm. Die Mütter schienen streng zu ihren Kindern, aber gleichzeitig auch wieder liebevoll. Die Kinder waren allesamt sehr diszipliniert. Überhaupt kein Störfaktor während des Unterrichts.
Der Vermieter der Wohnhausanlage wollte die Miete erhöhen, erklärten die Frauen dem Lehrer umständlich. Wovon sollte man das bezahlen, und wie soll man das dem Vermieter erklären? Sie wären hier in der Fremde. Müssten sich den Gegebenheiten anpassen. Wenn euch was nicht passt, sagte der Vermieter, zieht eben anderswo hin. Punktum! Nach einigen Wochen klappte das Notwendigste zur Kommunikation. Einer der Männer hatte Asthma. Giftgas, sagten die Frauen. Seitdem hätte er diese Beschwerden.
Einmal begann der Unterricht damit, dass alle gemeinsam die Tasche einer Kursteilnehmerin trockenlegten, weil die Trinkflasche ihres Babys ausgeronnen war. Ein andermal forderte die Behörde von einem eine plausible Erklärung, weil er, ohne zu fragen, für eine Woche in die Heimat gefahren war, unter Lebensgefahr. Sein Bruder war verunglückt, so sagten sie. Das Unglück aber war eine Kugel aus einem Soldatengewehr. Ein Ansuchen hätte drei Wochen gedauert, dann wäre das Begräbnis längst vorbei gewesen. Gemeinsam entwarfen sie mit dem Lehrer ein Schreiben.
Auf Fragen, was für die Flüchtlinge hier anders wäre, antworteten sie einstimmig, die Ordnung. Was für eine Ordnung? Der Straßenverkehr, sagte eine. Alle hielten sich an die Ampelregelung, niemand fuhr bei Rot. Sie schüttelten die Köpfe und lachten. Befremdend offensichtlich. Geregelte Öffnungszeiten! Daheim wäre das nicht so. Anpassung würde von ihnen verlangt, sagte man ihnen bei den Behörden. Integration. Manchmal wäre es das Wetter, das sie irritierte. Der heiße Sommer, meinte eine. Aber natürlich die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, dem Artikelwirrwarr und den unregelmäßigen Verben. Alles wäre anders. Es würde Generationen dauern, hier zu Hause zu sein, heimisch zu werden.
Ob sie etwas vermissten, was sie zurücklassen mussten? Ja, die Eltern, sagten mehrere Frauen. Milana schluckte. Sie schwieg. Was wäre noch anders hier? Die Natur. Die Pflanzen, antwortete Milanas Tochter. In den Skripten, die der Lehrer verwendete, fanden sich Kurzgeschichten, in denen von Rekorden die Rede war. Von einem Mann, der sieben Luftballone rasieren konnte, ohne dass einer dabei platzte. Oder von einer Frau, die in siebenundzwanzig Sekunden einen Autoreifen wechseln konnte. Die Kursteilnehmerinnen verstanden anfangs nicht. Was haben diese Leute gemacht? Es herrscht Ratlosigkeit. Das sollte der goldene Westen sein? Haben die Menschen hier nichts Wichtigeres zu tun, fragt das Mädchen? Er schlug ein anderes Kapitel auf. Präsens – und Perfektübungen. Die Frauen waren zu müde, die Konzentration ließ nach zwei Stunden deutlich nach. Also Pause.
Nach dem Unterricht wurde Tee vom Aufgussbeutel und Schokolade gereicht, einziger Luxus. Aber nur für den Lehrer. Schließlich war Ramadan. Kein Kuchen, kein Kaffee, kein Zucker. Die eine Frau mit den Verbrennungen war in ihrer Heimat Lehrerin gewesen und zweiundvierzig Jahre alt. Hier würde sie bestenfalls Reinigungsfrau sein.
Milana würde kein eigenes Haus mehr haben. Vielleicht einmal eine eigene Wohnung, wenn sie Arbeit bekäme. Ihren Kindern könnte sie dann eine gesicherte Zukunft bieten. Doch im Moment bestimmten nur schreckliche Erinnerungen an die Vergangenheit ihr Leben.
Nachwort: Leider ist die Geschichte um Milana nicht erfunden und auch nicht „1000 und einer Nacht“ entlehnt, sondern sie ist tatsächlich passiert. Als Milanas Deutschlehrer habe ich sie aufgezeichnet und Milana, deren Namen ich geändert habe, gefragt, ob sie im Falle einer Veröffentlichung ihre Zustimmung dafür geben würde. Sie hat „Ja“ gesagt.
Norbert Johannes Prenner
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