Seiltänzer gehören zu meinen Favoriten unter den Artisten. Als ich in die erste Klasse ging, kam eine Seiltänzergruppe in mein Dorf. Sie spannten das Seil vom Giebelfenster des alten Schulhauses zu einem Mast, der sich auf dem freien Platz unterhalb der Kirche befand. Früher hatte dort ein noch älteres Schulhaus gestanden, das bereits abgerissen war. Ein freier Platz war der Gewinn.
Ich durfte in die Abendvorstellung gehen. Es war bereits dunkel, als sich die Zuschauer versammelten. Alle standen an der Häuserzeile vor der Limonadenfabrik aufgereiht. Man schob mich nach vorne. Alleine hätte ich mich nichts zu sagen getraut. Mein Bruder hatte mich mitgenommen, und ich spürte an seinem ironischen Lachen, dass er total aufgeregt war. Ich war völlig gebannt von der gesamten Situation. Die fremden Menschen, die so ganz anders waren, die durch die Welt zogen, Kunststücke darboten, die wahnsinnigen Mut, ja schon Tollkühnheit verlangten, und durch nichts mit der mir bekannten Welt verbunden schienen. Junge Frauen und Männer und Kinder, unerschrocken, mit Kostümen bekleidet, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Alles ging wahnsinnig schnell.
Die nächste Nummer wurde von einem Herrn angesagt, der seiner Stimme einen seltsam aufregenden Klang zu geben bemüht war, der Floskeln verwendete, die ihm in seiner manierierten Kunstwelt normal erschienen. Die Worte, die er sprach, waren unwichtig. Es war nicht nötig, den Inhalt der Worte zu verstehen. Nur der Klang, der Eindruck hüllte mich ein. Die Ansprache war ein Ritual, das dem ehrwürdigen Senior vorbehalten war. Seine Zeit auf dem Hochseil war unwiederbringlich vorbei. Jetzt konnte er nur noch im abgewetzten Anzug Ansprachen halten. Alle Augen starrten auf das Seil in schwindelerregender Höhe, das nicht gesichert war. Eine junge Frau balancierte mit einem Schirm, machte eine Verbeugung, einen Knicks, eine Rolle vorwärts und rückwärts. Ochs und Achs waren zu hören, dann Applaus. Ein Raunen ging durch die Menge und ich vergaß fast zu atmen, so aufregend war alles.
Jetzt fällt mir das wieder ein, Jahrzehnte später. Ich bin nie zu einer Artistin geworden. Da fehlt mir das Talent. Das Hochseil ist dennoch verlockend. Es wird gespannt, um Kunststücke darauf vorzuführen, um Zuschauern einen Schauder ins Herz zu zaubern. Die einen sind zum Risiko bereit, auf dem Seil zu tanzen, den anderen ist das Beobachten vom Boden aus schon genug. Hochseil ohne Sicherung, das bedeutet, sein Leben ständig aufs Spiel zu setzen, einen Genickbruch, eine Wirbelsäulenverletzung in Kauf zu nehmen. Nie mehr auf das Seil können, das restliche, vermutlich noch lange Leben. Aber ohne dieses Risiko geht es nicht, gar nicht.
Und immer müssen die Kunststücke noch gesteigert werden. Es genügt nicht, mit dem Schirm in der Hand über das Seil zu gehen, was eigentlich schon mehr als genug Mut fordert. Es werden Sprünge eingebaut, die viel Kunstfertigkeit verlangen. Dann folgt eine Rolle vorwärts, eine Rolle rückwärts.
Leicht ist es möglich, abzurutschen, das Gleichgewicht zu verlieren. Der Körper muss total angespannt sein. Jeder Muskel ist wichtig. Es gibt keine Partie, die sich gehen lassen darf, nicht der kleine Zeh und nicht der Hals oder gar das Gesicht. Der Geist muss konzentriert sein. Der Bruchteil einer Sekunde, den man in Nachlässigkeit verbringt, kann den Tod bedeuten. Man darf das Seiltanzen nicht unterschätzen!
Es gibt noch Steigerungen, die den Männern vorbehalten sind: Ein Junge fährt mit einem Fahrrad über das Seil. Die Reifen sind extra präpariert, dass sie nicht so leicht abrutschen können. Die Fahrt muss schnell gehen, mit Schwung bergab und auf der anderen Seite wieder hoch aufs Podest. Die Zuschauer halten den Atem an. Um mich herum herrscht angespannte Stille. Ich sauge den Atem durch die Nase ein, immer weiter, und starre auf das Seil. Ein Klatschen hebt an, Begeisterungsrufe.
Der Junge lässt sich mit dem Rad zur Mitte des Seils rollen. Es dauert, bis es zum Stehen kommt. Einige Male rollt er vor und zurück, dann schwingt er seinen Körper zum Handstand hoch, die Hände stemmen sich auf Lenker und Sattel. Das Staunen und die Bewunderung steigern sich. So etwas erlebt man selbst als Zuschauer nur wenige Male. Nun kommt der ultimative Höhepunkt der Vorführung, der Motorradfahrer. Der Motor heult auf, der Auspuff raucht, der hagere Mann mit dem Glitzerhemd steht auf den Pedalen und fährt auf dem Seil. Zuerst einmal die ganze Strecke in Windeseile, dann der gekonnte Sprung vom Motorrad auf das Podest. Begeistertes Applaudieren. Das gefährliche Gefährt erhöht die Spannung. Der Mensch allein kann nicht so viel Dramatik erzeugen.
Gefahr betört, am besten, wenn es eine fremde Gefahr ist. Man partizipiert, genießt den Nervenkitzel und weiß gleichzeitig, dass man keine Angst haben muss. Alles ist gut.
Wer würde sich schon ohne Not aufs Hochseil wagen, ohne gelernt zu haben, auf ihm zu tanzen?
Warum schauen wir uns dann solche waghalsigen Kunststücke an und erinnern uns noch Jahrzehnte später daran?
Wohl, weil plötzlich die Entsprechung dazu im Leben eingetreten ist.
Claudia Kellnhofer
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