„In Kürze erreichen wir unsere letzte Station, den Salzburger Hauptbahnhof“, eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, ich nehme die Kopfhörer ab, „Vielen Dank, dass Sie sich bei Ihrer Reise für uns entschieden haben. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Abend! Auf Wiedersehen!“ Ohne Pause fährt der unsichtbare Sprecher fort, seine Rede in gebrochenem Englisch zu wiederholen: „In a short while ...ehm... we're reaching our final station: Salzburg … ehm... main station. Thank you for ...ehm... choosing... traveling with us … ehm... have a nice evening, good bye!“ Die letzten Worte kamen so schnell, dass man sie kaum verstehen konnte. Irgendwie finde ich die Stimme oder doch eher das Nicht-Beherrschen einer Sprache, die sie wahrscheinlich jeden Tag gebrauchen muss, um die immer gleichen Phrasen zu wiederholen, sympathisch. Irgendwie halte ich diese Menschen für ehrlich. Oder für ehrlicher. Zumindest finde ich sie aufrichtiger als Menschen, die ständig darum bemüht sind, den Schein des Beherrschens aufrechtzuerhalten, obwohl sie absolut kein Gefühl für eine andere Sprache als die eigene haben, vielleicht nicht einmal für die eigene.
Nachdem die Durchsage vorüber war und ich mir kurz Gedanken über Menschen und Sprachen gemacht habe, schalte ich meinen iPod aus, der während der gesamten Fahrt auf ungefähr einem Viertel der vollen Lautstärke lief, und man kann sich vorstellen, dass ich nur wenig von der Musik, aber dafür mehr von der Geräuschkulisse, die sich um mich herum auftat, mitbekam. Natürlich können auch die Klänge der Umgebung einiges hergeben, oft komme ich sogar absichtlich in den Genuss, diesmal allerdings war dem nicht so. Dass ich mir gut zwei Stunden anhörte, wie Elisabeth sich zwischen Leben und Tod bewegt und alle in ihrem Umfeld zurückstößt, außer den Tod selbst, war mir zwar nicht peinlich, aber ich befürchtete belustigte Blicke oder gar eine hochgezogene Augenbraue. Vor allem in dem Moment, als Annemieke van Dam „Ich gehör nur mir“ schmettert, denn spätestens hier wissen die meisten Bescheid, dass es sich um das Musical Elisabeth handelt, und ich befürchte eine Fehleinschätzung meines Charakters. Bin ich kitschig, anspruchslos, hochintelligent oder nichts von alledem? Wahrscheinlich Letzteres. Wahrscheinlich ist es den Leuten auch herzlich egal, was ich in meiner Playlist habe. Wahrscheinlich werde ich die Lautstärke weiter auf einem Minimum halten.
Ich verstaue, besser gesagt ich werfe meinen iPod in meine 20 Euro teure H&M-Handtasche aus braunem, nennen wir es „Leder“. Noch einmal checke ich mein Spiegelbild im Zugfenster, wobei ich eigentlich nur meinen Lidstrich kontrollieren möchte, da ich mir vor kurzem einen neuen Liquidliner gekauft hatte, dem ich noch nicht vertraue – alles bestens. Mit meinen Haaren bin ich nicht ganz zufrieden, aber daran kann ich jetzt nichts ändern. Ansonsten trage ich ein schwarzes, kurzes Kleid, schwarze Schuhe und ein paar Ringe aus Silber. In Schwarz fühle ich mich immer am sichersten. Ich weiß nicht, warum.
Der Zug hält. Ich schnappe meine Reisetasche und bereue es, für ungefähr fünf Tage gepackt zu haben, obwohl ich nur zwei Tage hier bin.
Ich betrete den Salzburger Bahnsteig um 17 Uhr 9. Jetzt heißt es, den mir beschriebenen Ausgang zu finden, was eine nicht sonderlich schwierige Aufgabe sein sollte. Wie sich herausstellt, ist es wirklich keine schwierige Aufgabe. Sofort finde ich den richtigen Ausgang, entscheide mich für den linken Stiegenaufgang und hoffe, es ist der richtige. Es ist der richtige. Drei Minuten, nachdem ich aus der Bahn gestiegen bin, sehe ich ihn zum ersten Mal seit fast vier Wochen. Ohne es kontrollieren zu können, beginne ich zu lächeln. Er steigt aus dem Mini Cooper, den er sich von seiner Nachbarin aus Wien ausgeliehen hat. Mit einem lockeren „Hallo, Anna“, das ich mit einem langgezogenen „Hallo“ erwidere, geht er um das Auto herum, und zum ersten Mal seit fast vier Wochen darf ich ihn berühren. Wie immer begrüßen wir uns wie zwei alte Freunde: eine Art kleine Umarmung mit Küsschen links und rechts auf die Wange. Er verstaut meine Tasche im Kofferraum. Noch bevor ich die Beifahrertür aufmachen kann, eilt er an meine Seite und öffnet sie für mich. Ich bin mir nicht sicher, ob er weiß, wie sehr ich das schätze.
Während der dreißigminütigen Fahrt zu seinem Haus „am Berg“, wie er es selbst nennt, bewegen sich unsere Gespräche zwischen Erzählungen von meiner zweiwöchigen Indienreise, von der ich letzte Woche zurückgekommen war, der starken Darmentzündung, die ich am Tag der Heimreise bekommen habe und meiner langsamen Genesung. Er erzählt mir von seiner jüngeren Schwester und ihrer Familie, die auf Lanzarote leben und ihn besuchen gekommen waren, von ihren Kindern, den damit einhergehenden großen und kleinen Problemen, er spricht über seine Freunde, die ich nur von Fotos kenne, und dann reden wir auch über das Wetter. Wie jedes Mal hoffe ich, nichts Falsches zu sagen. Wie jedes Mal hoffe ich, dass er mich nicht als „Kind“ betrachtet. Wie jedes Mal, wenn er schweigt, frage ich mich, ob er sich die Sache mit uns nochmals überlegt. Jedes Schweigen frage ich mich, warum er mich wollen sollte. Ich bin auf den Tag genau zwanzig Jahre jünger. Er ist 41 und ich bin 21. Ich bin Studentin, er ist Schauspieler. Oft vergesse ich den Altersunterschied, da es ohnehin keine Rolle spielt, was mich viel mehr verunsichert, ist sein Interesse an mir. Warum ich? Ihn zu fragen, hab ich mich bisher nicht getraut. Auch diesmal nicht. Ich sehe ihn an und bin froh, dass er nicht weiß, wie es mir eigentlich geht. Dass er nicht weiß, wie sehr ich ihn mag und wie groß meine Angst ist, ihn zu verlieren.
Endlich kommen wir oben an. Wieder bin ich von dem Ausblick überwältigt, dennoch versuche ich cool zu bleiben. Er holt meine Tasche aus dem Auto und wir gehen ins Haus. Ob ihm auffällt, dass ich viel zu viel eingepackt habe? Falls ja, lässt er sich nichts anmerken.
Das Erste, was er mir drinnen anbietet, ist ein Haselnuss-Schnaps, den ich von meinem ersten Mal hier kenne. Natürlich lehne ich nicht ab. Er selbst gießt sich auch einen Kurzen ein. Vor und während des Trinkens kommt mir vor, als wäre er nervöser als ich. Dieses Gefühl habe ich häufiger. Sicher bin ich mir dessen aber nicht.
Mir fällt ein, dass ich ihm etwas aus Indien mitgebracht habe. Bevor ich ihm den kleinen Smaragd-Ganesha gebe, habe ich das Bedürfnis ihm zu erklären, von wo ich diesen und warum ich gerade dieses Geschenk für ihn ausgewählt habe, doch alles, was aus meinem Mund kommt, ist Chaos. Alles, was ich mir vorher an Erklärungen zurechtgelegt habe, ist aus meinem Kopf verschwunden, sodass ich ihm die Figur einfach in die Hand drücke. Er freut sich mehr darüber, als ich gedacht hätte. Ich bin erleichtert. Mehr als das. Ich bin in diesem Augenblick so glücklich, dass ich mir fast sicher bin, mich mehr als er über mein Geschenk zu freuen.
Nachdem er mir in seinem Schlafzimmer die neue, dunkelbraune Wandfarbe gezeigt hat und die neue LED-Lichterkette hinter seinem Bett, fragt er mich, ob ich Hunger hätte, ich sage ja. Er fragt mich, ob ich gerne ein Bier hätte, auch dazu sage ich nicht nein.
In der Küche holt er die verschiedensten Zutaten aus dem Kühlschrank und erkundigt sich immer wieder bei mir, ob er dies oder jenes machen solle oder lieber nicht. Ich sage zu allem einfach ja. Was Essen betrifft, verlasse ich mich auf ihn, denn im Gegensatz zu mir hat er Ahnung vom Kochen. Während er also mit der Zubereitung von gut fünf verschiedenen Gerichten beschäftigt ist, versuche ich, schon leicht angetrunken, ihn durch Geschichten zu unterhalten. Leider bin ich keine gute Erzählerin und nur die wenigsten meiner Erlebnisse kann ich so wiedergeben, dass sie den gewünschten Effekt erzielen. Meist scheitere ich an witzigen Begebenheiten. Nicht selten endet eine solche Geschichte mit dem Satz: „Du hättest dabei sein müssen, um es lustig zu finden.“ In solchen Situationen wird mir der Altersunterschied doch wieder bewusst. Die Angst, ihn zu verlieren steigt wieder an. Aus Verlegenheit spricht mein Mund weiter. Jedoch ohne Kontrolle von oben. Die nächste Peinlichkeit ist im Anmarsch.
Irgendwann schaffe ich es doch, still zu sein. Ich sehe ihm einfach beim Kochen zu. Er blickt auf und sieht mich an. Er beginnt zu lächeln. Ich tue es ihm gleich.
„Du bist lustig“, sagt er, „Ein bisschen was Katzenhaftes hast du schon.“ Das habe ich von ihm schon ein paar Mal gehört. Ich bin nicht sicher, ob er sich über mich lustig macht, weil zu Hause zwei Katzen auf mich warten, oder es ernst meint.
„Warum?“, ich lache. Wahrscheinlich, um zu verstecken, dass mir die Antwort wichtiger ist als er ahnt. Vielleicht mache ich mich auch nur über mich selbst lustig. Ich finde mein Verhalten lächerlich.
„Nur so“, mit einem Schmunzeln wendet er sich wieder seinen Gerichten zu. Ich bin beruhigt. Er schafft es immer wieder, dass ich mich wohlfühle. Genauso wie er es schafft, das Gegenteil in mir auszulösen.
„Warst du schon mal verliebt?“
Ich zögere. Die Frage überrascht mich. Ich antworte mit „Ja“.
„Und du?“
Er zählt lachend an den Fingern ab, dann sagt er ebenfalls nur schlicht „Ja“. Ich wäre schockiert gewesen, wenn er „Nein“ gesagt hätte. Damit ist das Thema beendet.
Beim Essen reden wir über unsere Familien, die guten, aber auch die schlechten Seiten. Die meiste Zeit spricht er. Ich finde es wunderschön, seine Gedanken zu den unterschiedlichsten Themen zu hören. Im Gegensatz zu mir kann er das, was er denkt, gut in Worte fassen. Das bewundere ich. Ich bewundere viele Dinge an ihm, zum Beispiel seine Selbstsicherheit, ohne überheblich zu sein. Ich wünschte, ich wäre auch nur annähernd so selbstbewusst. Mein Selbstbewusstsein fußt auf der Tatsache, dass es nicht echt ist. Viele Menschen sind der Meinung, ich wäre mir meiner Selbst sicher. Die Fassade aufrechtzuerhalten, ist nicht schwer, außer bei ihm. Er hat schon früh gemerkt, dass ich eher von Unsicherheit und Selbstzweifel getragen werde. Trotzdem (oder gerade deswegen?) hat er mich gern.
Ich helfe ihm, den Tisch abzuräumen. Mehrmals gehen wir hin und her, tragen Teller, Gläser, Schüsseln und Besteck in die Küche. Er berührt mich kurz am Arm und ich spüre, wie mein Herz sich fast überschlägt, aus Freude über dieses Bisschen Nähe. Als er beginnt, all das Geschirr abzuwaschen, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm dabei nicht helfen kann. Es ist zu wenig Platz, um zu zweit sauberzumachen. Geschichten, bei denen ich mich im Nachhinein sowieso gefragt hätte, warum ich sie erzählt habe, fallen mir nicht ein. Nicht eine. Mein Kopf ist völlig leer. Ich stehe einfach nur da und komme mir unglaublich nutzlos vor. Was er in diesem Moment denkt, ist mir ein Rätsel. Ich hoffe nur, es ist nicht dasselbe wie das, was ich gerade über mich denke.
Er geht unter die Dusche. Ich leg mich auf die Couch. Im Hintergrund läuft Loungemusik. Es gelingt mir, trotz ansteigender Müdigkeit wach zu bleiben. Fünfzehn Minuten nachdem er im Badezimmer verschwunden war, kommt er gutaussehend wie immer, aber deutlich frischer wieder zurück und setzt sich zu mir. Er fragt, ob ich noch ein Bier möchte. Ich verneine, zum einen, weil mir das Abendessen fast zu viel war, zum anderen aber, weil ich mir ein bisschen Gedanken über die hohe Anzahl an Kalorien mache. Selbstverständlich würde ich das nie zugeben. Sogar vor mir selbst versuche ich diese eine Sorge zu verbergen oder sie so gut wie möglich zu verdrängen.
Wir reden. Er philosophiert über das Leben. Ich finde es faszinierend, dass er genau das ausspricht, was ich mir schon seit langem denke. Meine Freude darüber, dass wir die gleichen oder ähnliche Ansichten haben, verstecke ich. Ich schweige. Er sieht mich an. Er nimmt meine Beine und legt sie über seinen Unterkörper. Seine Hände ruhen auf meinem Ober- und Unterschenkel. Er spricht weiter. Innerlich bin ich erleichtert, dass er mich immer noch gern hat, obwohl ich von einem Fettnäpfchen ins nächste trete. Ich mag seine Berührungen. In diesen Momenten fühle ich mich sicher. Oder sicherer.
Wir schweigen. Ich sehe meine Beine an. Er sieht mich an.
„Du magst Berührungen nicht so, oder?“, wow. Wie kann meine Körpersprache so sehr von dem abweichen, was ich tatsächlich empfinde? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein unsicheres „Doch“ ist das Einzige, was mir dazu einfällt.
Nach einer kurzen Pause fragt er mich, mit einem Blick auf seine Hände und meine Beine: „Ist das okay?“ Mehr als ein schlichtes „Ja“ kommt auch diesmal nicht raus.
„Ich mag Berührungen. Es ist ja okay, wenn man jemanden gern hat und denjenigen berühren möchte. Du hast aber schon mehr positive Gefühle als negative?“ Das Thema macht mich verlegen. „Ja sicher!“, leider weiß ich immer noch nicht, wie ich mein Verhalten erklären soll. Vielleicht weiß ich das schon, ich kann es nur nicht in Worte fassen.
„Es ist nur“, beginne ich endlich, „Ehm... keine Ahnung... ich...“ Gott sei Dank vibriert in diesem Moment sein Handy. Er fragt mich, ob er kurz rangehen könnte, da er einen Anruf erwartet. Beruhigt darüber, dass das Thema damit ein Ende hat, sage ich, es wäre kein Problem für mich.
Er begrüßt seinen Freund, und eines der ersten Themen, die er anspricht, ist meine Hemmung, ihn zu berühren. Ein humorvoller Seitenhieb. Ich versuche, diesen zu ignorieren und bin froh, als sie über etwas anderes sprechen. Während des Gesprächs steht er auf und verschwindet aus meinem Sichtfeld, in Richtung Tür. Wie vielen Menschen, mich selbst eingeschlossen, fällt es ihm schwer, beim Telefonieren still zu sitzen.
Fünf Minuten später kommt er wieder ins Wohnzimmer, setzt sich neben mich und legt seine Hand auf mein Knie. Wieder spricht er meine Schwäche an. Noch einmal möchte ich mich rechtfertigen.
„Naja... du weißt ja, meine letzte Beziehung war nicht so toll“, ich sehe ihn fragend an. Er nickt. Ich fahre fort: „Ich hab immer das Gefühl gehabt ... ehm..., dass jede Berührung irgendwie zu viel war...“
„Von dir?“
„Ja schon... Keine Ahnung. Seitdem tu ich mir schwer.“ Seitdem hab ich Angst vor Ablehnung. Wir haben keine richtige Beziehung. Ich hab Angst, dass ich dich zu nahe an mich ranlasse und du irgendwann einfach gehst. Auf der anderen Seite habe ich auch Angst vor einer festen Beziehung und deinen Erwartungen. Ich wünschte, die Zeit würde stillstehen und mir mehr Raum geben. Ich wünschte, ich könnte meine Barriere aus Distanz abstellen und dir all die Dinge sagen, die ich empfinde und dir meine Gefühle zeigen. Aber das kann ich nicht.
Das alles sage ich natürlich nicht. Das ist mir zu theatralisch.
„Hmmm... aber wenn wir uns so noch näher kommen“, sagt er mit einem kleinen Grinsen im Gesicht, „Hab ich nicht das Gefühl, als würde ich dich überfallen...?“
„Nein, eh nicht. So ist es ja auch nicht“, sage ich schnell.
Nach einer kurzen Pause meint er: „Naja, das ist ja nicht schlimm. Wenn es dich nicht stört, dass ich das mag. Du willst mich halt nicht angreifen.“
Ich sehe ihn schräg an. Ich möchte nicht mehr darüber sprechen. Er lächelt mich an. Ich lächle zurück. Er philosophiert weiter über das Leben. Ich höre ihm zu.
Es wird wieder still. Den Blick, den er mir zuwirft, kenne ich schon gut. Er lehnt sich zu mir und küsst mich, zum ersten Mal seit fast vier Wochen. Es ist der perfekte Kuss. Ich erinnere mich an unseren ersten Kuss, der für mich genauso schön war. Mit meiner Hand halte ich sein Handgelenk fest, erst nach einer Weile fällt mir auf, mit welchem Druck, und ich lasse nach.
Er liegt auf der Couch. Ich sitze mit angezogenen Knien neben ihm. Unsere Kleidung ist am Boden verteilt. Wir schweigen für einige Minuten. Ich frage mich, was er gerade denkt.
„Sollen wir dann rübergehen?“, er deutet mit seinem Kopf in Richtung Schlafzimmer.
„Klingt gut.“
Er streichelt noch einmal meinen Unterschenkel, geht in die Küche und holt mir ein Glas Wasser, bevor er im Badezimmer verschwindet.
Ich sammle meine Sachen zusammen, werfe sie im Vorraum auf meine Tasche und suche darin das T-Shirt und die kurze Hose, die ich zum Schlafen mitgebracht habe. Da der Raum dunkel und mein Pyjama schwarz ist, dauert es entsprechend lange, bis ich ihn gefunden habe. Er streicht mir über den Rücken und geht an mir vorbei ins Schlafzimmer. Ich ziehe mich an und folge ihm.
Seit ungefähr einer Stunde liege ich wach im Bett. Meine Gedanken kreisen. Ich frage mich, wie lange das mit ihm und mir noch so weitergeht. Wie lange es weitergehen kann. Haben wir überhaupt eine Zukunft? Immer mehr muss ich daran denken, wie zerbrechlich die ganze Situation ist. Zumindest empfinde ich es so. Ich wüsste gerne, wie ernst ihm die Sache zwischen uns ist. Was bin ich für ihn? Eine gute Freundin mit Vorzügen oder einfach nur eine Bekannte, die sofort da ist, wenn er ruft, oder bin ich doch mehr? Ich habe ihn noch nie gefragt. Auch diesmal werde ich es nicht tun.
Irgendwann zwischen sieben und acht Uhr früh wache ich auf. Durch den geschlossenen Vorhang scheint die Sonne und taucht den Raum in schwaches Licht. Ich drehe mich um. Er schläft noch. Ich lege meine Hand auf seine Brust und schließe die Augen. Sein Herzschlag ist alles, was ich in diesem Moment wahrnehme. All die Fragen und all die Zweifel, die ich vor ein paar Stunden noch im Kopf hatte, sind vergessen. Es ist egal, ob es morgen vorbei ist oder nicht. Es ist egal, ob ich nur eine Freundin oder seine Freundin bin. Es ist egal, ob wir eine Zukunft haben, oder nicht. In diesem Augenblick ist es perfekt.
Meine Naivität erschreckt mich, als ich einige Wochen später wieder an diesen Moment denke. Er und ich, wir stehen immer noch am selben Punkt. Wir sind in der Küche und er kocht, während ich zusehe. Es ist still. Die Angst vor dem (unvermeidlichen?) Ende wächst ins Unermessliche. Endlich bringe ich die Frage hervor:
„Was bin ich eigentlich für dich?“
Er schweigt.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich gesagt oder nur gedacht habe.
Anna Bartl
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