(inspired by Criminal Minds)
„Der Pittsburg-Fall ist abgeschlossen. Die Gruppe fliegt gleich weiter zum nächsten Fall. Sie sind morgen um acht Uhr früh dort“, erklärte Garcia. Donia blickte auf die Uhr an der Wand, es war zehn Uhr abends.
„Wir haben heute 14 Stunden durchgearbeitet. Du kannst nach Hause gehen und schlafen. Die Verschlüsselungsprogramme laufen von alleine. Ich mache alles fertig und lege mich dann im Bereitschaftszimmer aufs Ohr“, schlug Donia vor und nahm einen Schluck Kaffee.
„Normalerweise mache ich immer alles fertig. Aber ...“ - sie gähnte - „die letzten Tage waren heftig. Meine Augen brennen und mein Kopf explodiert bald“, stellte Garcia fest und sah Donia an. Die lächelte und prostete ihr mit der Kaffeetasse zu.
„Na dann ... Du gehst nach Hause und ich erledige alles. Glaub mir, ich schaff das schon“, beruhigte Donia ihre Kollegin. Garcia grinste und klopfte Donia mit der Hand aufs Knie. „Weiß ich doch. Danke, Süße“, antwortete sie, stand auf und schnappte sie ihre Tasche. Dann deutete sie eine Verbeugung an.
„Ich bin eine Wolke. Gute Nacht. Ich bin um sieben wieder hier“, erklärte Garcia müde und ging. Donia legte die Füße auf den Tisch und sah den Buchstaben und Zahlen auf den Monitoren zu, wie sie langsam von oben nach unten prasselten.
Recht bald starrte Donia ins Leere, das Verschlüsselungsprogramm verfrachtete sie in einen Trancezustand. Sie musste an Sonntagnachmittag denken. Es war ein sommerlicher Tag, und sie hatte es sich an einem der kleinen Seen in der Stadt mit einer Decke gemütlich gemacht.
Triangle war nur einen Steinwurf vom Büro entfernt, sie fuhr mit dem Rad zur BAU. Das kleine Apartment, das sie gefunden hatte, war ein Glücksgriff. Sowohl von der Lage als auch vom Preis. Es gefiel ihr hier.
Sie hatte ihr Buch zur Seite gelegt, lag mit geschlossenen Augen auf der Decke und ließ die warmen Sonnenstrahlen ihre Haut erwärmen. Mit tiefen Atemzügen genoss sie den Duft der umliegenden Bäume und der Blumen, die auf der Wiese wuchsen. Kindergeschrei und das Gelächter der Eltern vernahm sie nur leise.
Dann registrierte sie Schritte im Gras und die Anwesenheit einer Person, die sich aber nicht bemerkbar machte. Donia blieb ruhig und wartete ab. Die Person stellte sich in die Sonne, sodass Donias Gesicht im Schatten lag. Dann hörte sie ein Räuspern.
„Was treibt dich in meine Gegend, Reid?“, fragte sie und öffnete die Augen. Vor ihr stand Spencer Reid. In den letzten Wochen hatte sie ihn und die anderen näher kennengelernt. Sie war fasziniert von seinem Wissen und seiner Intelligenz. Diese Eigenschaften machten ihn für sie anziehend.
„Ich war mit Agent Griffin unterwegs, Andy wohnt gleich da hinten“, deutete Reid kurz hinter sich. „Ich war mir nicht sicher, ob ich dich richtig erkannt habe“, sprach er weiter und sah Donia an. Er mochte sie. Sie hatte sich in die Gruppe eingeordnet und ihren Platz gefunden. Sie war intelligent und hatte eine schnelle Auffassungsgabe.
Ihre Aufgaben erledigte sie mit hoher Präzision. Und sie war hübsch. Hatte tiefgründige, grüne Augen und ein süßes Lächeln.
„Dr. Reid, du bist nicht durchsichtig. Geh mir aus der Sonne und setz dich her“, schlug Donia lachend vor. Er setzte sich zu ihr und beobachtete sie, während sie sich aufsetzte und ihm Platz machte. Sie trug ein Neckholder-Top und eine kurze Jeans. Ihre Muskeln bewegten sich unter ihrer gleichmäßig gebräunten Haut. Im Büro trug sie stets eine lange Hose, Bluse und/oder Blazer. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, schon längere Zeit.
Er erkannte ein Tattoo unterhalb ihres rechten Knöchels. Zwei chinesische Schriftzeichen. „Was bedeutet das?“, fragte er und deutete mit dem Kopf auf das Tattoo. Donia strich zärtlich darüber. „Die Zeichen stehen für Gottesgeschenk. Donia bedeutet so viel wie die von Gott Geschenkte“, erklärte sie.
„Du bist gläubig?“, hakte Reid nach. Donia schüttelte den Kopf. „Nicht im herkömmlichen Sinn. Ich glaube nicht, dass ein alter Mann mit Rauschebart die Erde in sechs Tagen erschaffen hat. Ich gehe nicht in die Kirche. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die man durch Logik und Wissenschaft nicht erklären kann. Zwischenmenschliches, das Wesen des Menschen. Eine spirituelle Ebene, schwer zu beschreiben. Andere beschreiben das mit dem Wort Gott.“
„Warum haben dich deine Eltern Donia genannt?“ Reid war wie ein kleines Kind. Wenn er etwas wissen wollte, fragte er einfach. Sie fand das amüsant und sah ihn an. „Wird das hier jetzt ein Verhör?“, grinste sie. „Überhaupt nicht. Ich wollte nicht ...“, begann Reid sofort und hob entschuldigend die Hand. Donia winkte ab.
„Schon OK. Die Schwangerschaft war nicht einfach. Phasenweise war nicht klar, ob wir beide es überleben würden. Ich kam sechs Wochen zu früh auf die Welt. Anfangs schwach, aber ich hab's überlebt. Und meine Mutter auch“, schloss sie ihren Monolog und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.
Reid hörte ihr gerne zu. Ihre Stimme hatte eine angenehme Tonlage. Auch Donia gefiel jedes Gespräch mit Reid, sie freute sich, dass er sich für andere interessierte. Dass er sich für sie interessierte. Donia strich ihre langen braunen Haare aus dem Gesicht und wickelte sie in einen lockeren Zopf.
Sie saßen sich gegenüber, sahen sich aber nicht in die Augen. „Das ist schön“, sagte Reid leise. Er blickte umher und spielte mit seinen Fingerspitzen an dem Flaschenverschluss herum. Er war nervös. Das hatte Donia durch die Handbewegung erraten. Es gefiel ihr, sie war es nämlich auch. Sie mochte ihn. Seine Ausstrahlung hatte sie eingenommen, obwohl er rein äußerlich keiner ihrer bisherigen Männerbekanntschaften entsprach.
Donia beschloss, die Initiative zu ergreifen. Sie beugte sich leicht vor und stützte ihre Hände an ihrer Wasserflasche ab. „Du bist nervös, kann das sein?“, fragte sie leise. Ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund. Er sah sie an und runzelte kurz die Stirn. „Wir profilen uns nicht in der Gruppe“, meinte er trocken und hörte auf, mit dem Flaschenverschluss zu spielen. „Ich frage dich ja. Also?“, blieb Donia hartnäckig.
Er beugte sich nun ebenfalls vor und sah ihr in die Augen. „Scheinbar nicht nervöser als du. Stimmt's?“, grinste er und hob die Augenbrauen. Donia brach den Augenkontakt ab und schloss die Augen. Ihr Blinzeln hatte sie wieder verraten. Sie fingen beide an zu lachen. „Warum bist du nervös?“, fragte er und sah sie wieder an.
Donia seufzte. „Weil ich gerade mit dir hier sitze. Alleine“, sagte sie leise und sah ihn an. „Warum, was heißt gerade mit mir?“, hakte er nach. Sie schüttelte den Kopf und lachte leise. „Spencer Reid, du bist ein Genie der Wissenschaften, aber ein Kleinkind in Sozialverhalten.“
„Hey, ich bin aufgeschlossen. Erklär es mir. Ich lerne immer wieder gerne dazu“, sagte er charmant. Eine zarte Röte erschien auf ihren Wangen. Sie kicherte schüchtern. Dann räusperte sie sich und sah ihn wieder an. „Ich mag dich. Und ich fände es schön, wenn wir uns besser kennenlernen würden“, sagte sie tapfer.
Reid mochte ihre direkte Art. Er konnte ihr ansehen, dass es sie Überwindung gekostet hatte, es laut auszusprechen. Ihre Wangen waren immer noch gerötet, ihre Augen blinzelten im Sekundentakt. Ein angenehmes, warmes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Dieses Gefühl hatte er noch nicht oft erlebt. Aber er wusste, was sich daraus entwickeln konnte.
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. Im Umgang mit Frauen war er nicht sehr erfahren. Aber wenn sie ihm schon offenbart hatte, dass sie ihn mochte, konnte er nicht falsch liegen. Er stützte sich mit einer Hand neben Donia ab und kam langsam näher. Gleichzeitig griff er mit der anderen Hand nach ihrem Gesicht und streichelte zärtlich ihre Wange.
Donia stockte der Atem. Sie spürte seine warme Hand an ihrem Gesicht. Es fühlte sich gut an. Je näher er kam, desto mehr verlor sich Donia in seinen dunkelbraunen Augen. Wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht hielt er inne. Er konnte ihre Anspannung spüren, ihm ging es nicht anders. „Kennenlernen ist eine tolle Idee“, murmelte er und lächelte leicht.
Sie lächelte ebenfalls kurz, dann kam sie ihm die letzten Zentimeter entgegen. Sie schloss die Augen. Ihre Lippen trafen sich für einen Sekundenbruchteil. Sie konnte die Wärme seines Körpers erahnen und schmiegte sich in seine Hand, die immer noch ihre Wange streichelte.
Er konnte spüren, wie sie durch die Nase ausatmete. Der Luftzug ihres warmen Atems streifte seine Wange und ließ ihm einen wohltuenden Schauer über den Rücken laufen. Reid küsste sie nochmal, diesmal länger. Er genoss ihre zarten Lippen, die leicht nach Beeren schmeckten. Donia hatte einen Arm um seine Schulter gelegt und fuhr zärtlich über seinen Hinterkopf.
Sie trennten sich mit einem Lächeln voneinander. „Eine ganz tolle Idee“, sagte Donia. „Morgen? Abendessen? 8 Uhr?“, fragte Reid und wartete auf eine Antwort. Donia blinzelte kurz und räusperte sich. „Äh ... ja ... klar ... gerne“, stammelte sie vor sich hin.
Zu dem Abendessen war es aber nicht gekommen, Sonntagabend war der Pittsburgh-Fall angelaufen, dessen Unterlagen gerade über Donias Monitor liefen. Seit dem Briefing zum Fall hatte sie Reid nicht mehr gesehen.
Es war eine seltsame Situation, ihre Beziehung vor den anderen zu verbergen. Wobei, von Beziehung konnte keine Rede sein. Aber es war etwas zwischen ihnen, das sie beide herausfinden mussten. Ob mehr dahinter steckte als ein Kuss und vielleicht noch ein Abendessen.
Donia setzte sich wieder normal hin. Die letzten Datensätze waren gleich abgelegt, dann konnte sie sich auch noch hinlegen. Doch das Timing meinte es anders. Hotchner rief an. Donia setzte das Headset auf und stellte die Verbindung inklusive Webcam her.
„Einen wunderschönen guten Abend, Chief“, sagte sie freundlich und bereitete auf Garcias Rechner ein paar Eingabemasken vor. „Hallo Donia, du bist auf laut geschaltet. Wir sitzen im Flieger und gehen gerade die neue Fallakte durch. Kannst du uns noch Input liefern?“, sagte Hotchner. Sie sah auf dem Webcam-Fenster Hotchner, Rossi und JJ. Sie sahen alle müde aus.
„Bereit, wenn ihr es seid“, grinste Donia in die Webcam. „Ich habe mich aber in den Fall noch nicht einlesen können“, gab Donia zu bedenken und wartete auf Instruktionen. „Kein Problem. JJ, zähl kurz die Fakten auf, bitte“, meinte Hotchner und nahm einen Schluck Kaffee.
JJ las aus der Akte vor. „Frauenleiche. Gefunden vor zwei Tagen, im Sheyenne National Grassland, North Dakota. Tod durch Erwürgen, vermutlicher Todeszeitpunkt 2. Juni.“ Donia hob überrascht die Augenbrauen, sie kam aus North Dakota. Während sie die Parameter in die Suchmaske eintrug, sang sie leise „North Dakota, North Dakota, in our hearts forever long“.
„Wie war das?“, fragte JJ irritiert nach. „Das waren die letzten Zeilen aus der Landeshymne von North Dakota. Ich bin dort aufgewachsen. Heimvorteil“, erklärte Donia grinsend. JJ lächelte in die Kamera und nickte. Im Hintergrund hörte Donia plötzlich Morgan. „Ich verstehe immer noch nicht, warum wir dorthin müssen. Es handelt sich um eine einzelne Leiche, keine Serie“, war sein gerechtfertigter Einwand.
„Wisconsin und Ohio meldeten ähnliche Mordfälle in den letzten Monaten. Ebenfalls erwürgte Frauen. Daher müssen wir davon ausgehen, dass es sich hier um einen beginnenden Serienmörder handeln könnte“, klärte Hotchner die Runde auf. „Was haben diese Bundesstaaten gemeinsam?“, fragte Rossi.
„Den North Country Trail“, antworteten Donia und Reid gleichzeitig auf die Frage. Donia sah überrascht auf das Übertragungsbild, aber Reid war nicht zu sehen. Rossi sah zuerst in die Webcam, und dann dahinter. „Na Reid, macht dir da etwa jemand deine Genialität streitig?“, meinte er süffisant.
„Das ist bei mir nur der geografische Vorteil“, sagte Donia schnell. Reid hielt den Augenkontakt mit Rossi im Flugzeug und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Es reizte ihn, zu JJ und den anderen zu gehen und Donia über die Webcam zu sehen. Aber er hielt sich zurück. Stattdessen zuckte er nur mit den Schultern und las weiter in seinem Tablet. „Dann hast du vielleicht Insiderwissen, mit dem Reid nicht mithalten kann. Was weißt du noch, Donia?“, fragte Hotchner sachlich nach.
„Dieser Fernwanderweg verläuft unter anderem durch die drei genannten Bundesstaaten. Wenn die anderen Fundorte mit Abschnitten des Trails übereinstimmen, können wir annehmen, dass der Täter sich an diesen Wanderweg hält. Ich suche mal in den anderen Bundesstaaten, ob es ähnliche Leichenfunde gibt.“
Kurze Zeit später erschienen ein paar Ergebnisse auf ihrem Monitor. „Bingo“, rief Donia und sah kurz zur Webcam. „In allen Bundesstaaten des North Country Trails gab es in den letzten Wochen ungeklärte Mordfälle. Alle entlang des Trails. Der erste war in New York Anfang März. Ich schicke euch gleich die Daten“, sagte Donia konzentriert und tippte eifrig in die Tasten.
Nachdem die Datenübermittlung abgeschlossen war, wartete sie auf weitere Überlegungen des Teams. Irgendwie fand sie es schade, dass sich Reid nicht blicken ließ. Andererseits war es besser, dann konnte sie sich konzentrieren.
Sie hatte bereits einen weiteren Fakt aus den Daten herauslesen können, wartete aber noch damit, ihn den anderen zu berichten. Die Leitung war kurz ruhig, als sich das Team die übermittelten Daten durchlas.
„Warum denkst du, dass die Fälle zusammenhängen?“, fragte Rossi bei Donia nach. Sie räusperte sich. „Start in New York. Frau. Erwürgt. Zwei Wochen später: Pennsylvania. Mann. Erstochen. Zwei Wochen später: Ohio. Frau. Erwürgt. Zwei Wochen später: Michigan. Mann. Erstochen. Das geht dann noch so weiter. Wisconsin, Minnesota, North Dakota. Immer derselbe Rhythmus. Immer entlang des Trails. Das ist dieselbe Person.“
Rossi nickte bestätigend und las weiter in den Akten. „Was hat es mit dem Rhythmus auf sich?“, fragte Morgan laut. Donia hatte wieder eine Vermutung, wollte jedoch den anderen auch die Möglichkeit lassen, ihre Überlegungen einzubringen.
„Die Mondphasen“, antwortete Reid sofort auf die Frage. Donia musste lächeln. Wer, wenn nicht er. „Die Frauen werden bei Vollmond getötet, die Männer bei Neumond“, erklärte Reid. Donia nickte in die Webcam. „Das ist korrekt. Die pathologischen Befunde grenzen die Todeszeitpunkte auf die Zeiten rund um Voll- und Neumond ein“, bestätigte sie Reids Aussage.
Rossi sah wieder in die Webcam und anschließend direkt zu Reid. „Ihr zwei seid ja schon sehr gut eingespielt. Schön langsam komme ich mir ziemlich unnötig vor“, stellte er zynisch fest. Allgemeines Gelächter war die Antwort. Auch Donia musste lachen und war froh, dass ihre Gesichtsfarbe diesmal im Normbereich blieb.
„Kann ich sonst noch was tun?“, fragte sie in die Kamera. Hotchner schüttelte den Kopf. „Nein. Danke, Donia. Wir melden uns dann morgen früh, wenn wir das Briefing im Büro vor Ort hatten. Gute Nacht“, sagte er ruhig und nickte in die Kamera, bevor er das Gespräch beendete.
Donia speicherte noch einige Suchergebnisse von Optionen, die ihr einfielen. Anschließend ging sie in den Bereitschaftsraum. Ihre Tasche stand noch von gestern Abend hier, eine Garnitur Frischwäsche hatte sie noch dabei. Sie schmiss sich auf das Bett und schloss die Augen. Jetzt überkam sie ebenfalls die Müdigkeit.
Reid ging durch die Reihen des Flugzeuges. Alle seine Kollegen schliefen oder hatten Kopfhörer auf. Sie waren jetzt seit knapp drei Stunden unterwegs. Er konnte nicht schlafen. Donia ging ihm nicht aus dem Kopf. Er beschloss, sich in die hinterste Ecke des Jets zu setzen, um sie anzurufen.
Das Vibrieren ihres Smartphones weckte Donia wieder auf. Sie blinzelte auf das Display. Es war Reid. Überrascht hob sie ab. „Hi. Was brauchst du?“, fragte sie murmelnd und setzte sich auf. Ihre verschlafene Stimme bewirkte bei Reid einen kurzen Atemaussetzer. In seinen Gedanken lag er neben ihr und hielt sie fest. Er dachte an ihre weiche Haut, die er vor ein paar Tagen bei ihrem ersten Kuss berühren durfte.
„Nichts Dienstliches“, flüsterte er und beobachtete weiter die anderen im Flieger. Aber es war alles ruhig. „Sondern?“, fragte Donia nach. Sie war irritiert. „Alles OK?“ „Denke schon“, erwiderte Reid. „Ich habe dich aufgeweckt, stimmt‘s?“ Seine Stimme klang bedauernd. „Ja. Aber ich werde es überleben. Ganz bestimmt“, neckte Donia ihn und lächelte.
„Das hoffe ich. Unser Abendessen ist noch ausständig“, meinte er leise und sah aus dem Fenster. Das Flugzeug war gerade irgendwo über Iowa. „Das habe ich nicht vergessen“, entgegnete Donia leise und legte sich wieder hin. „Und ich freue mich nach wie vor darauf. Sehr sogar“, sagte sie leise und sah an die Zimmerdecke.
„Ich mich auch“, antwortete er. In den Augenwinkeln bemerkte er, wie Rossi aufstand und in seine Richtung kam. „Ich muss aufhören“, sagte er rasch und setzte sich gerade hin. „Es war schön, deine Stimme zu hören. Gute Nacht, Spencer“, flüsterte Donia und beendete das Gespräch. Sie legte das Smartphone auf den Tisch und schloss wieder die Augen. Sofort überkam sie wieder der Schlaf, der sie von einem wunderschönen, romantischen Abendessen träumen ließ.
Reid hatte sein Smartphone noch in der Hand und beobachtete Rossi, der ihm entgegenkam. Er lächelte ihm höflich zu und nickte. Rossi blieb kurz bei ihm stehen und klopfte ihm grinsend auf die Schulter. „Ihr könnt mir nichts vormachen. Sie ist ein nettes Mädchen. Passt zu dir. Mach was draus, Reid!“, sagte er freundschaftlich und zwinkerte ihm zu. Dann ging er weiter auf die Toilette.
Perplex blieb Reid sitzen. Wie hatte Rossi das herausbekommen? Seine jahrzehntelange Erfahrung durfte man wirklich nicht unterschätzen. Er sah auf das Display seines Smartphones. Oder er konnte einfach nur eins und eins zusammenzählen - am Display war der Gesprächspartner des letzten Anrufs noch sichtbar.
Reid seufzte und lehnte sich zurück. Er mochte es, wenn Donia ihn mit seinem Vornamen ansprach, wie gerade eben. Trotz seiner Gedankenräder, die sich sowohl um den Fall als auch um Donia drehten, konnte er bald einschlafen.
Der nächste Tag war geprägt von hoher Konzentration und Teamwork. Die Gruppe lieferte neue Informationen aus dem Sheriff-Büro vor Ort. Donia konnte aufgrund ihrer Kontakte im zuständigen FBI-Büro in Fargo zusätzliche Insider-Informationen beschaffen.
Nachdem sie mit Garcia die Informationen geprüft hatte, kontaktierte sie sofort Hotchner. „Hallo?“, ertönte nach kurzem Läuten seine autoritäre Stimme. „Hallo, Chief. Wir haben neue Infos“, begann Donia. „Warte, ich stelle dich auf laut. Es hören mit Rossi, Morgan, Reid, JJ und Sheriff Bauer“, erklärte Hotchner.
Donia hielt kurz die Luft an. „Sheriff Michael Bauer?“, fragte sie vorsichtig nach. Das BAU-Team blickte synchron auf den Sheriff, der mit hochgezogenen Augenbrauen vor dem Telefon stand. „Ja, Ma‘am. Kennen wir uns?“ „Kann man so sagen. Hallo, Onkel Mike. Gratuliere, hab nicht gewusst, dass du mittlerweile Sheriff bist“, sagte Donia in einem höflichen Tonfall.
„Donia?“, sagte Sheriff Bauer ungläubig und sah in die Runde. „Donia Bauer arbeitet bei euch?“, fragte er Hotchner, der nur nickte. „Du kannst mich auch direkt ansprechen, ich bin nicht mein Vater“, erklärte Donia kurz angebunden. Ihr Vater und sein Bruder waren zerstritten, der Kontakt abgebrochen.
Hotchner und die anderen hörten den gestressten Tonfall in Donias Stimme. Auch Reid war es aufgefallen. Er kannte die familiären Hintergründe nicht, aber der Sheriff war ihm seit ihrer ersten Begegnung nicht sehr sympathisch gewesen.
„Wie auch immer“, sagte Donia und räusperte sich, „Ich habe meine Kontakte im FBI-Büro in Fargo angezapft.“ „Ich habe die Infos geprüft, sehen allesamt valide aus“, meldete Garcia. „Die da wären?“, fragte Morgan.
Donia sprach weiter. „Ende Februar hat im Bundesstaat New York ein Mann seine Frau erstochen. Das Kind hat alles mitangesehen. Die Tochter ist 23 Jahre alt und leidet unter hebephrener Schizophrenie. Die Mutter hatte Kehlkopfkrebs, konnte nicht mehr sprechen. Der Vater gilt als gewalttätig und hat Frau und Kind misshandelt. Der Vater ist in Haft, die Tochter seit Anfang März abgängig.“
„Das könnte der Auslöser gewesen sein“, sagte Rossi. „Moment mal, Leute. Eine Frau? Ein Mädchen, gerade mal Anfang 20? Das glaubt ihr doch wohl selbst nicht! Kleine, ich glaube, du liegst falsch!“, platzte Sheriff Bauer heraus und schüttelte den Kopf.
Donia sah zu Garcia, die mit offenem Mund in ihre Richtung blickte. In ihr wuchs Ärger über ihren Onkel, sie musste sich zusammenreißen, ihn nicht anzuschreien. Hotchner kam ihr zuvor. „Sheriff Bauer, ich ersuche Sie, meine Agents mit dem nötigen Respekt zu behandeln. SSA Donia Bauer ist bereits seit mehreren Jahren im FBI-Dienst und eine erfahrene Datenanalystin. Sie können sicher sein, dass wir nur die besten Leute in unserem Team haben.“
„Vielleicht ist sie gut als Tippse, aber sonst nicht viel. Bei dem Elternhaus“, murmelte Sheriff Bauer gehässig und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Das konnte Donia nicht auf sich sitzenlassen. JJ sah entgeistert zu Hotchner, der ihr mit einer kleinen Handbewegung deutete, ruhig zu bleiben.
„Onkel Mike, es wäre als angesehener Leiter einer Polizeibehörde, der du sicherlich bist, professioneller, wenn du deine persönlichen Aversionen gegen mich und meine Eltern für diesen Fall hintanstellen könntest. Ich will hier meinen Job machen. Und ich will ihn gut machen. Also werde nicht persönlich und stelle Vermutungen an. Du kennst mich nicht ... mehr“, stellte Donia klar. Sie blieb höflich, ihre Stimme klang ruhig, aber bestimmt.
Reid, Morgan, JJ und Rossi warfen sich vielsagende Blicke zu und unterdrücken ein Schmunzeln. Diese taktvolle Spitze hatte gesessen. Selbst bei Hotchner konnte man für einen Sekundenbruchteil ein Zucken um den Mund erkennen. Reid räusperte sich und warf noch ein Schäuflein nach.
„Bei uns arbeiten nur hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. SSA Bauer hat einen Master in Psychologie und einen Bachelor in Informatik, falls Sie das nicht wussten. Sie haben wohl die Sponsionsfeiern versäumt. Unser Team schätzt ihr Wissen und ihre Person. Sie sollten ebenfalls froh sein, dass wir sie zu unserem Team zählen dürfen. Und stolz, dass Sie mit ihr verwandt sind!“
Er lehnte ruhig an einem Schreibtisch und fixierte den Sheriff mit seinem Blick. Hotchner runzelte kurz die Stirn und wies den Sheriff zurecht. „Ich kann Ihrer Nichte nur zustimmen, Sheriff Bauer. Wenn Sie nicht professionell mit uns zusammenarbeiten können, stellen Sie uns einen kompetenten Ersatz zur Verfügung, der es kann.“ Diese Aussage war scharf und eindeutig.
In der Leitung war es für einige Sekunden auf beiden Seiten ruhig. Garcia zwinkerte Donia grinsend zu und hob einen Daumen. Donia freute sich über die Loyalitätsbekundungen ihres Chefs. Und auch über die von Reid. Er hatte Recht, ihr Onkel war nicht zu ihren Sponsionsfeiern erschienen, obwohl sie ihn eingeladen hatte.
Garcia drückte kurz die Mute-Taste am Telefon. „Soll ich weitermachen?“, fragte sie und verdrehte die Augen. Donia musste lachen. „Bitte. Ich brauch ‘ne Pause“, schnaufte sie und lehnte sich zurück. Garcia nickte und drückte nochmals die Mute-Taste.
Der Sheriff hob abwehrend die Hände und zuckte ergeben mit den Schultern. „Tut mir leid. Sie haben Recht. Sagen Sie, was Sie brauchen. Sie bekommen es“, meinte er leise und trat einen Schritt zurück. Er merkte, dass er mit seinen Aussagen zu weit gegangen war. Die ablehnende Haltung jedes einzelnen Agents baute sich vor ihm auf wie eine unüberwindbare Mauer.
„Also dann, liebe Leute. Meine überaus kompetente Kollegin hat weiters herausgefunden, dass die Familie früher entlang des North Country Trail in den Ferien gecampt hat. Die Tochter kennt also die Strecke. Sie ist, wie gesagt, seit Anfang März abgängig. Die Kreditkarte des Vaters wurde jedoch in den letzten Wochen drei Mal verwendet. Zwar nicht direkt am Trail, aber in der näheren Umgebung. Foto und Personendaten der Tochter sind auf euren Tablets und im Postfach des Sheriff-Büros.“
„Warum tötet sie auch Frauen? Warum tötet sie unterschiedlich?“, fragte JJ in die Runde. Es war diesmal Reid, der seine Überlegungen laut aussprach. „Die Mutter war aufgrund ihrer Krankheit stumm. Die Frauen daher zu erwürgen versinnbildlicht die fehlende Stimme. Eventuell hat die Mutter ihre Tochter vor dem Vater nicht beschützt.“
„Einen Menschen zu erwürgen erfordert Kraft. Eine Frau kann das aber bei einer Frau schaffen. Bei einem Mann nicht“, überlegte Morgan laut weiter. Er tippte auf das Tablet, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Die Männer wurden alle von hinten erstochen. Überraschungsangriff. Wenn der Stich sitzt, ist das Opfer wehrlos.“
„Genau“, schaltete sich Donia wieder ein. „Alle Männer wurden mit einem gezielten Stich in die Lunge getötet. Das Opfer kann dadurch nicht mehr laut schreien, es wird ihm die Luft zum Atmen genommen“, erklärte sie weiter.
„Dass sie die Männer bei Neumond tötet, hilft beim Überraschungsangriff. Sie kann sich besser verstecken. Das Erwürgen der Frauen bei Vollmond ist persönlicher. Sie sieht ihnen im Mondschein beim Sterben zu“, dachte Morgan laut und sah zu Hotchner.
„Sheriff, machen Sie sich auf die Suche nach der jungen Frau. Die Daten haben Sie soeben bekommen. Dringender Mordverdacht in sieben Fällen. Danke.“ Hotchner sah den Sheriff auffordernd an, der nur kurz nickte und dann den Raum verließ.
„Er ist weg, Donia“, sagte JJ erleichtert. Donia seufzte kurz auf. „Entschuldigt, dass ihr das mitbekommen habt. Ich habe nicht gewusst, dass er der Sheriff ist. Aber ich musste etwas sagen, nachdem er meine Eltern beleidigt hatte.“
Hotchner beugte sich zum Telefon. „Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns so gehandelt hätte. Außerdem warst du ja noch recht höflich“, sagte er in einem fast väterlichen Tonfall.
„OK ... und ... danke“, murmelte Donia ins Telefon. „Wofür denn?“, fragte JJ nach. „Dass ihr mich in Schutz genommen habt ...“, entgegnete Donia leise. „Du bist Teil des Teams, Donia“, erklärte Morgan. „Wer dich angreift, greift uns alle an“, stellte er klar.
Donia konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Also dann, Leute. Eine für alle, alle für einen. Wenn ihr noch was braucht, klingelt einfach durch!“, sagte sie. „Alles klar, over and out, little girl“, verabschiedete sich Morgan und legte auf.
Garcia und Donia sahen sich überrascht an. „Hat er gerade little girl zu mir gesagt?“, fragte Donia bei ihrer Kollegin nach. Garcia machte ein überraschtes Gesicht. „Scheint so! Aber sein baby girl bleibe immer noch ich!“, rief sie gespielt beleidigt. Dann tippte Garcia Donia mit ihrem Stift an die Schulter. „Du bist das baby girl von jemand anderem, wie mir scheint“, sagte sie verheißungsvoll und riss die Augen auf.
„Wen meinst du?“, sagte Donia abwesend und konzentrierte sich auf ihren Monitor. „Unser kleines Genie natürlich! Ihr könnt keinem was vormachen! Ihr beobachtet euch dauernd gegenseitig. Und er hat dich gerade verteidigt! Diese zwischenmenschliche - wohlgemerkt positive - Spannung kriegt man auch mit, wenn ihr nicht direkt miteinander kommuniziert“, stellte Garcia fest. Donia schüttelte den Kopf. „Da ist nichts“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Noch nicht“, konnte sich Garcia als Schlusswort nicht verkneifen. Doch Donia lächelte nur und arbeitete weiter.
Zwei Tage später war auch dieser Fall erledigt. Die Behörde vor Ort konnte die Frau ausfindig machen und in Gewahrsam nehmen. Das Team war mittlerweile wieder in Quantico eingetroffen und führte eine gemeinsame Abschlussbesprechung durch. Reid saß Donia gegenüber, beide lächelten still vor sich hin, ihre Blicke trafen sich ungewöhnlich oft und blieben aneinander hängen.
„Donia“, begann Hotchner und richtete das Wort an sie. Sie blinzelte und sah ihn erwartungsvoll an. „Ja, Chief?“, antwortete sie. „Deine Recherchen, Überlegungen und Kontakte haben uns in diesem Fall schnell weitergeholfen. Im Namen des Teams danke ich dir für deinen Einsatz“, lobte Hotchner das jüngste Teammitglied.
Er war froh, die Entscheidung getroffen zu haben, sie einzustellen. Sie bereicherte das Team und hatte sich auch in die Gruppe gut integriert. „Ich wünsche euch allen zwei schöne freie Tage!“ Er nickte der Runde zu und beendete die Sitzung. Nach und nach standen alle auf und verließen den Raum.
Reid hielt Donia zurück, als sie im Begriff war, den Raum zu verlassen. Sie waren die Letzten. „Hey“, sagte er leise und strich sanft über ihren Oberarm. Sie drehte sich um und lächelte ihn an. „Hallo Spencer“, erwiderte sie. Für einen Moment sahen sie sich nur an. Dann fingen beide an, schüchtern zu grinsen.
„Heute Abend? 8 Uhr? Bei mir zu Hause?“, fragte Reid nach einem neuen Date. Donia sah ihn überrascht an. „Lieferservice?“, fragte sie ungläubig. Er lachte. „Natürlich nicht! Die Vermengung einzelner Zutaten in zeitlicher Reihenfolge unter Zuhilfestellung verschiedener technischer Geräte zur Veränderung ihres Aggregatszustandes ist einfach. Wie Mathematik!“
Donia lachte kurz laut auf. „Spencer, du überraschst mich immer wieder!“ Dann wurde sie wieder still und sah ihn an. „Ich bin da. Um 8. Soll ich etwas mitbringen?“, fragte sie leise. Er schüttelte den Kopf. „Nur dich“, antwortete er lächelnd. Sie nickte leicht und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. „Bis dann, Spencer. Ich freu mich!“, sagte sie und ging schließlich hinaus ins Großraumbüro.
Reid sah ihr nach und grinste. Es würde ein schöner Abend werden. Er musste sich nur noch ein Abendessen überlegen und einkaufen. Und kochen. Aber das war einfach. Wie Mathematik.
Petra Hechenberger
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